Zur Ausgabe
Artikel 12 / 29

SOWJET-FILME Photos aus dem Knopfloch

aus DER SPIEGEL 13/1954

Bis zur vergangenen Woche hat sich der Filmvertrieb Robert Philippi in der Münchener Sonnenstraße 14 selbst in Fachkreisen kaum hervorgetan. Am letzten Mittwoch aber zeigte das Unternehmen im Münchener Chronos-Studio, in dem auch der Hitler-Film »Bis 5 nach 12« fertiggestellt wurde, zum erstenmal die deutsche Fassung eines Filmes, der nach Einschätzung der Experten ein Weltmarkt-Kassenschlager werden kann.

Er heißt »Die rote Linie« (Untertitel: »Vom Zarenreich zu Malenkow") und besteht zum großen Teil aus original sowjetrussischen Kurz- und Aufklärungsfilmen, die teilweise von der Defa synchronisiert und in ostzonalen Filmtheatern gespielt wurden. Diese Filme werden durch Standaufnahmen ergänzt, die geschickte Nachrichtenmänner in der Sowjet-Union aus dem Knopfloch heraus mit Kleinstkameras schossen, und durch ein paar portugiesische Wochenschau-Aufnahmen von Katyn. Alle Filmteile wurden von geflüchteten Sowjet-Offizieren nach Westdeutschland gebracht.

Daß sich für solches Material recht bald geschäftstüchtige Leute interessierten, war verständlich Ende vergangenen Jahres gründeten sie in Vaduz (Liechtenstein) eine Filmproduktionsgesellschaft, die unter dem Namen »Anker-Film« in das Handelsregister eingetragen wurde. Sofort nach Fertigstellung des Filmes sollte die Firma wieder aufgelöst werden. Die Produzenten, deren Namen von den Beteiligten verschwiegen werden, wollten wieder untertauchen.

Nur soviel ist bekannt: Regisseur dieses Filmes, von dem der Vertriebsmann Philippi sagt: »Wer ihn gesehen hat, wird mit Freuden der EVG zustimmen«, ist ein Mann, der sich - mit einem frei erfundenen Namen - Richard Richardson nennt. Das Drehbuch der Rahmenhandlung

schrieb der Berliner Gerhard Grindel, der lange Jahre im KZ saß und vor einem Jahr auch die Rahmenhandlung zu dem Hitler-Film »Bis 5 nach 12« verfaßte (die dann allerdings auf Drängen der Selbstkontrolle wieder herausgeschnitten wurde).

Sprecherin des Filmes ist Christa Beer, Schauspielerin in Zürich. Zwei Russen, der frühere Bucharchivleiter der KPdSU in Moskau, Jakovlew, und der ehemalige NKWD-General Wladimir Minischki, berieten die Produzenten bei der Herstellung des Filmes in den Chronos-Studios, wo die einzelnen russischen Filme, Wochenschau-Aufnahmen und Standphotos zurechtgeschnitten und in die Rahmenhandlung des Autors Grindel verpackt wurden.

»Die rote Linie« beginnt mit einer Szene, wie sie sich 1949 in Wien wirklich einmal abgespielt hat: Ein Wissenschaftler wird aus seiner Wohnung entführt. Als der Wagen vor dem NKWD-Gebäude hält, stellen die russischen Kidnapper entsetzt fest, daß sie einen Falschen mitgenommen haben. Da der Wissenschaftler nun aber schon einmal entführt ist, legt man ihm einen russischen Arbeitsvertrag vor. Er unterschreibt.

Jahre später findet er sich als Flüchtling in einem westdeutschen Lager wieder. Als er gerade dem deutschen Flüchtlingskommissar seine Geschichte erzählt, geht die Tür auf, im Rahmen steht der NKWD-Offizier, der ihn in der Sowjet-Union jahrelang beschattete. »Bin ich denn noch nicht in der Freiheit?«, entsetzt sich der Wissenschaftler. »Freiheit gutt«, beruhigt ihn der Russe, »ich auch geflüchtet.«

Es folgt ein Wechselspiel von Wort und Bild: Der Wiener Wissenschaftler verdammt den Stalinismus, der NKWD-Offizier versucht, den russischen Menschen zu verteidigen. In diesem Gespräch tauchen minutenlang Bilder von ermüdenden Volkstänzen und unbestritten schönen Landschaften auf, dann rollt der erste Kurzfilm an: »Vom Zarenreich zu Malenkow«.

Bilder des letzten Zaren wechseln mit Aufnahmen vom Sturm auf Leningrad im Jahre 1917. Es folgen Bilder von der Entwicklung der Kommunistischen Partei, von Stalin und Lenin.

»Die rote Linie« enthält auch einen Kurzfilm, der in sowjetischen Filmtheatern als Beiprogramm lief und angeblich Szenen von der Jalta-Konferenz zeigt. Tatsächlich aber handelt es sich um eine Fälschung: Stalin, Roosevelt und Churchill werden von russischen Schauspielern dargestellt. Churchill erscheint als feister, stiernackiger und starrköpfiger Brite. Die Masken der anderen Staatsmänner sind so gut, daß selbst geschulte Augen den echten vom falschen Stalin kaum zu unterscheiden vermögen.

In einer Randszene fordert Churchill seine beiden Jalta-Kollegen auf, einen Schluck auf König Georg VI. zu trinken. Roosevelt und Stalin widersprechen: »Wir trinken nicht auf König Georg, wir trinken vielmehr auf den Frieden.« In Großaufnahme murmelt Churchill verbittert vor sich hin: »Ich trinke doch auf King George.«

Hitler, Göring (von oben bis unten mit Orden behangen) und Krupp erscheinen ebenfalls auf russischen Filmrollen. Ein schon von der Defa synchronisierter Kurzfilm zeigt sie 1944 bei einem Diner. Eine Ordonnanz tritt auf Göring zu und berichtet, draußen stehe ein Abgesandter der Vereinigten Staaten. Göring empfängt ihn. Der Amerikaner schlägt vor, einen Pakt gegen Rußland zu schließen. Die Szene endet mit prachtvollem Handschlag: »Gut, das Geschäft machen wir, fifty-fifty.«

»Die rote Linie« zeigt Bilder von Stalin als Blumenzüchter, Stalin als Mondforscher, bestechende Aufnahmen von russischen Balletten und einen plumpen sowjetischen Sabotage-Abwehr-Film: Eine Parteisekretärin läßt - kurz bevor sie mit dem Geliebten zu Bett geht - die vor der Schlafzimmertür wartenden NKWD-Leute zupacken. Der Geliebte wird als Agent entlarvt.

Lachstürme erwarten die Produzenten von den Stachanow-Szenen: Die Arbeiterin Anna Tscherwonski grübelt Tag und Nacht darüber nach, wie sie als Weberin den Arbeitsgang in ihrer Fabrik verbessern könne. Eines Tages kommt ihr die Idee, man müßte an fünf Webstühlen zugleich arbeiten können. Als sie Erfolg hat, schreibt sie an den Genossen Molotow.

Der Genosse Außenminister ist begeistert, er überschüttet Anna Tscherwonski mit Danktelegrammen. Erfolg: Anna denkt erneut darüber nach, wie der Arbeitsgang verbessert werden könne und klügelt ein System aus, mit dem man an 25 Maschinen zugleich arbeiten kann. Genosse Molotow kommt schließlich gar nicht mehr mit Danktelegrammen nach. Zum Schluß sieht man Anna Tscherwonski in einer riesigen Halle mit 150 Maschinen. Sie bedient alle 150 zugleich.

Die Anker-Produzenten hatten eigentlich vor, bei gutem Ausgang der Berliner Konferenz einen versöhnlichen Schluß zu finden. »Aber bei der jetzigen Sachlage«, sagt Filmkaufmann Philippi, der sich die Weltvertriebsrechte der »Roten Linie« gesichert hat, »ist das natürlich anders.« Jetzt besteht der Schluß des Films aus Aufnahmen vom 17. Juni.

Vergangene Woche hat Philippis Filmvertrieb schon eine Anfrage aus Paris bekommen: Ein französischer MRP-Minister möchte die französischen Vertriebsrechte aufkaufen, um den Film für politische Zwecke zu benutzen. Gleiche Angebote liegen aus Italien vor. Die Politiker wollen mit dem Film zeigen, wie primitiv, aber auch intensiv der Kommunismus arbeitet.

Zur Ausgabe
Artikel 12 / 29
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren