NIEDERSACHSEN Piep im Rock
In seinem neuen Dienstraum im alten Stadtschloß der hannoverschen Könige hat Joachim Heinrich Rothsprach, Direktor beim Niedersächsischen Landtag, ein Bündel Papiere zu den Akten genommen, deren Inhalt er am liebsten zur Geheimsache erklären möchte.
Die eng bekritzelten Bogen enthalten die literarische Ausbeute von zwei sogenannten Tagen der Offenen Tür, an denen das niedersächsische Volk bestaunen sollte, wie aus der Ruine der Stadt-Residenz, In der bis 1866 die Welfenkönige regierten, in fünf Jahren und mit 20 Millionen Mark Baukosten ein Parlamentsgebäude für die niedersächsische Demokratie wurde
Indes, von den 177 Gästen des Volksempfanges, die nach der Visite einem Besucher-Buch ihre Empfindungen anvertrauten; war nur ein Drittel bereit, den Bau als »Augenschmaus« oder gar als »Festessen« zu loben. Die Mehrheit dagegen sah sich zu weniger schmeichelhaften Bemerkungen veranlaßt - ihnen voran ein Besucher, der in eine Glastür gelaufen war. Schrieb einer der Enttäuschten in das Buch: »Wenn ich 16 Millionen Mark hätte, würde ich mir etwas anderes kaufen.« Ein anderer notierte schlicht: »Meine Meinung: Alles Merde.«
Die undankbare Aufgabe, dem niedersächsischen Parlament »einen Maßanzug anzupassen« - so Landtagspräsident und gelernter Zimmermann Karl Olfers -, war dem Architekten Dieter Oesterlen zugefallen, der als ordentlicher Professor an der Technischen Hochschule in Braunschweig Gebäudelehre und Entwerfen doziert.
Oesterlen mußte beim Schneidern der Parlaments-Prachtrobe alte Kleiderteile verwenden, von denen die hannoverschen Abgeordneten sich nicht trennen mochten: Statt einer Neuanfertigung bestanden sie auf Änderung und Reparatur des verfallenen Leineschlosses. CDU-Abgeordneter Rissling: »Das war schon das Malheur.«
Denn von dem ganzen Schloß waren nur Trümmer und ein Teil der Fassade übriggeblieben, die als Deckblatt für ein modernes Parlamentsgebäude nicht ausreichte. Oesterlen sah keinen anderen Ausweg: Er pappte dem klassizistischen Portikus einen kubistischen Klotz als Plenarsaal an. Dessen fensterlose Granitwand schmückte er außen mit drei ungeschlachten Schmiedestücken, die im Volksmund alsbald »Contergan-Pferde« hießen.
Die gußeisernen Figuren, die nach den Ideen ihres Schöpfers, des Stuttgarter Bildhauers Jürgen Weber, -den Regen-, Sonnen- und Sturmwind verkörpern, dienen bei festlichen Anlässen als Fahnenhalter.
Die Besucher aus Stadt und Land sahen in den verschrobenen Windgeistern lediglich »scheußliche Tiere«, teils »furchterregend«, teils »verrückt«. Präsident Olfers: »Glauben Sie mir, wir alle werden die Künstler, die an diesem Hause geschaffen haben, wohl nicht voll verstehen können.«
Manche Kritiker konnten freilich auch den Präsidenten Olfers nicht verstehen, der sich sein Zimmer im ehemals königlichen Wintergarten mit Nußbaum täfeln ließ. Mit 120 Quadratmetern hat der Raum die Größe einer Fünfzimmerwohnung, obwohl in der Bau-Ausschreibung eine Präsidenten-Stube von nur 40 Quadratmetern vorgesehen war.
Allerdings hatte in einer Fußnote zur Ausschreibung gestanden: »Die Maße dürfen nicht wesentlich unterschritten werden.« Der Plenarsaal - für 157 Abgeordnete - ist nur knapp dreimal so groß wie der Ein-Mann-Salon des Präsidenten.
Dafür sitzen die Volksvertreter zwischen Wänden, die mit heimischer Esche verkleidet sind, und an Tischen aus fremdländischem Teak.
Für diesen Holz-Kompromiß hatte der CDU-Abgeordnete Möller aus Quakenbrück gesorgt: »Jawohl, meine Damen und Herren, auch in unseren heimischen Wäldern wachsen Hölzer, die für diese repräsentativen Aufgaben durchaus geeignet sind. Ich nenne die Lärche, die Eiche und auch die Kiefer. Vor allen Dingen läßt sich auch die Esche gut verarbeiten.«
Die Täfelung des Plenarsaals hat die an dieser Stelle nicht unwichtige Akustik verschlechtert. Bei Eröffnung der ersten Arbeitssitzung Mitte letzten Monats war die Stimme des Präsidenten trotz Inbetriebnahme einer Verstärkeranlage lediglich als Wispern zu vernehmen.
Allerdings hatte Olfers, aus Gründen der Feierlichkeit, im Stehen geredet, und die Abgeordneten, die kein Wort verstanden, riefen: »Vielleicht setzen Sie sich, Herr Präsident!« Das half. Olfers später: »Wir müssen die Apparatur noch ändern.«
Nicht allein auf deutsches Holz, auch auf deutsches Eisen legten Architekt und Bauherr besonderen Wert, doch wurden die Debatten darüber nicht öffentlich im Plenum, sondern vertraulich im Präsidium geführt. So blieb den Hannoveranern- verborgen, welcher Herkunft einige der Türen waren, durch die sie besuchsweise in das demokratische Allerheiligste treten durften.
Sowohl die kunstgeschmiedeten Tore der Umzäunung als auch der tresorähnliche Verschluß des Repräsentationssaales entstanden in der DDR, weil »im Westen niemand so etwas machen kann«, wie ein Landtagsangestellter erläuterte.
Eine andere Zutat mehr westlicher Prägung, über die gleichfalls geheim im Präsidium verhandelt wurde, verfiel schließlich der. Ablehnung. Notiz im Protokoll darüber: »Innenhof: Das Problem der Gartenzwerge wurde erörtert.«
Auch auf historische Reminiszenzen verzichtete man, und zwei Ölbilder, die Welfenprinz Ernst August stiftete, wurden ins Restaurant verbannt. Die Fürstengruft im jetzigen Landtagskeller war schon vorher entrümpelt worden: Die Sarkophage mit den toten Welfen wurden evakuiert.
Lediglich die Gebeine des Philipp Christoph Graf von Königsmarck müssen, so wird vermutet, noch irgendwo zwischen den Fundamenten liegen. Dieser gräfliche Herr hatte es auf die Ehefrau des hannoverschen Kurprinzen Georg Ludwig abgesehen. Bei einem Rendezvous im Schloß wurde das Paar ertappt; der Graf verschwand spurlos in einem Brunnen - die Prinzessin mußte sich scheiden lassen.
Weil auch das neue Landtags-Schloß (Grundfläche des Neubaus: 11 000 Quadratmeter) derart labyrinthisch angelegt ist, daß jederzeit mit dem Abhandenkommen von Personen gerechnet werden muß, hat die Verwaltung zunächst zehn Transistorgeräte angeschafft, die in der Rocktasche zu tragen sind und ein Piep-Signal ertönen lassen, wenn der Besitzer gesucht wird.
Falls sich die Apparate bewähren, sollen alle Abgeordneten damit ausgerüstet werden.
Landtagspräsident Olfers
Gartenzwerge für das Parlament?
Umgebauter Landtag in Hannover: »Contergan-Pferde« für Feiertage