Zur Ausgabe
Artikel 34 / 64

Pilgerfahrt zu den Entrechteten

Sechs Jahre trampte ein junger Däne durch die USA, lebte in Gettos und mit prominenten Weißen und erfuhr Amerika in seinen explosiven Widersprüchen: Jacob Holdt, ein Pfarrersohn, schoß dabei an die 15000 Photos; aus seinem Bilder-Reisebericht »Bilder aus dem schwarzen Amerika« druckt der SPIEGEL Ausschnitte als Serie.
aus DER SPIEGEL 10/1978

Eines Abends, es war in Columbia, im US-Staat Maryland, wurde er zu einer der »schlimmsten besoffenen Autofahrten« eingeladen, die er je mitgemacht hatte. Im Fond schlief einer, vom Alkohol umgehauen, ein anderer steuerte, die Whisky-Flasche zur Hand, »ohne Herr über den Wagen zu sein«.

Der Däne Jacob Holdt fuhr so in bester Gesellschaft. Der Herr auf dem Rücksitz, stellte sich heraus, war der Broadway-Komponist Burt Bacharach, am Volant saß Teddy Kennedy, und Holdt gedachte schauernd des Chappaquiddick-Unglücks, in das der Präsidentschafts-Anwärter verwickelt war.

In New Orleans wohnte Holdt bei einem schwarzen Mörder, in Harlem bei einer Rauschgiftsüchtigen, auf den Plantagen des Südens lebte er mit dem schwarzen Elendsproletariat und ging mit Baumwolle und Tabak pflücken, in den Gettos des Nordens hauste er in Rattenlöchern, hautnah mit Gangstern, Nutten, Dealern, Schwulen, Ausgepowerten, umkrallt von Angst, Gewalt und herzbrechender Entmenschlichung.

Mit John D. Rockefeller, dem Gouverneur von West Virginia, saß er in dessen Küche, bei einem ausgiebigen Drink. In den Bruchbuden der schwarzen Landarbeiter bekam er immer das gleiche zu essen, »Maisbrot, gebackene Bohnen und Fettklumpen darin«.

In North Carolina will ihn eine verwöhnte, attraktive Weiße heiraten, Sproß eines Bier-Imperiums ("Only love is better than Schlitz« -- Firmenwerbung). Für eine lesbische Prostituierte im Elends-New-York bedient er das Telephon -- »meine Funktion besteht darin, den Zuhälter zu spielen«.

»Ich war auf den höchsten Zinnen in Amerika«, sagt Jacob Holdt, heute 30, »und in den tiefsten, schattenreichen Tälern am Rande des Grabes.« Er habe die »Wärme und Offenheit« der Amerikaner kennengelernt, aber sie »stand in schreiendem Kontrast zu dem grausamen und unmenschlichen System, dem ich überall begegnete«.

Sechs Jahre währte die Odyssee des jungen Dänen durch das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten, vom Frühjahr 1970 bis Weihnachten 1975. 15 000 bewegende, schreckliche, alptraumhafte Photos hat er dabei gemacht und eine Auswahl davon mit einem ungewöhnlichen Reise-Report zu einem Buch verbunden, dessen deutsche Fassung demnächst der 5. Fischer Verlag veröffentlicht.

Als das Buch -- Originaltitel: »Amerikanske Billeder« -- letztes Jahr in Dänemark erschien, reagierten Zeitungen aller Couleurs, von der konservativen »Berlingske Tidende« bis zum kommunistischen »Land og Folk«, mit Betroffenheit und einmütigem Zuspruch:

»Ein phantastisches und ganz untraditionelles Reisebuch, das eindringlich und brutal eine Gesellschaftsordnung schildert, die in ihrer äußersten Konsequenz menschenfeindlich ist«; »ein Buch, das sich ins Bewußtsein einbrennt, weil man das Leben der schwarzen Amerikaner wirklich von

* Mit seinem Mitarbeiter Tony Harris.

innen erlebt«; »es sollte in den Schulen verwendet werden«; es sei »auch auf groß-politischer Ebene eine Zeitbombe«.

Tatsächlich sind, zumindest von europäischer Seite, die USA in ihren explosiven Widersprüchen, rassisch wie sozial, menschlich wie unmenschlich, von einem Weißen noch nicht so unmittelbar erlebt und so engagiert beschrieben worden. »Das Christentum«, sagt Holdt, »hat mich geprägt«, und seine »Identität« habe er in der Rolle eines »Vagabunden«, eines »Tramps« gefunden.

Er reiste als mittelloser Anhalter durch die Vereinigten Staaten, über 160 000 Kilometer weit, Stadtstraßen nicht gerechnet. Er lebte in 381 Häusern in 48 US-Staaten, verdiente sich das Geld für die Filme durch Blutspenden (zweimal die Woche), hatte jährliche Reisekosten von fünf Dollar und stand häufig in Lebensgefahr: Schwarze und weiße Gangster attackierten ihn, verängstigte Polizisten zeigten ihm die Pistole, einmal überfiel ihn der Ku-Klux-Klan. Sechsmal wurde er inhaftiert.

In den ersten Jahren trampte der langhaarige, langbärtige Holdt mit einer Kurzhaarperücke; den nach Getto-Vorbild geflochtenen Bart versteckte er im Hemd -- Zottel-Tramper mußten fürchten, nach »EasyRider«-Art erschlagen zu werden. Für die Gettos der Schwarzen war das Habit dann ein »Paß«, im Umgang mit den Weißen ein »politisches Barometer«.

»Vagabund zu sein, ist nur ein Versuch, sich dem einzelnen Menschen vollkommen hinzugeben": Die prominenten und reichen Weißen, die ihn auflasen, »respektierten meinen blauäugigen Idealismus«. Holdts Pilgerfahrt zu den Erniedrigten und Entrechteten, in die Nachtasyle der Verdammten dieser Erde löst ungewohnte Gefühle aus; eine dänische Zeitung hieß, ihn einen »wiedergeborenen Jesus«.

Gegen solchen Personenkult protestiert der Däne, leise, wie es seine Art ist, aber sehr bestimmt. Immerhin, er war einmal fürs Bodenpersonal des HERRN vorgesehen. Sein Vater ist Pfarrer in der jütländischen 300-Seelen-Gemeinde Faaborg bei Esbjerg, und seit Generationen nahm in der Familie der Erstgeborene den Talar.

Statt zu studieren, übte Holdt sich in aktiver Nächstenliebe. Seine Kopenhagener Behausung wurde ein Asyl für Ausgeflippte und US-Deserteure aus Deutschland; an die 20 Unbehauste nächtigten zuweilen bei ihm und öffneten ihm die Augen über Vietnam und Randgruppen,

* Bei seiner Bild-Show in einem Gymnasium in der Nähe von Kopenhagen.

Eine streunende Kanadierin, die er ihren Eltern wieder zuführte, brachte ihm eine Einladung auf eine Farm in Kanada. Von dort zog er auf Kreuzfahrt quer durch den Kontinent, Ziel: Lateinamerika. Die aufgewühlten Zustände in den USA, Vietnam-Demos, der Indianer-Aufstand am Wounded Knee, hielten ihn fest; mit »Tränen in den Augen« beschloß er, »daß dies nicht die Zeit sei, seiner Abenteuerlust nachzugeben«.

So blieb er in Gottes eigenem Land. Seine Eltern, die seinen Schreckensbriefen nicht glauben wollten, schickten ihm eine Kamera, eine simple »Canon dial«, ohne Wechselobjektiv. Heimlich aus der Hüfte oder von Polizei verfolgt, über die Schulter schoß er seine Bilder; hatte er das Vertrauen seiner Reise- und Lebensgefährten, photographierte er offen.

Schon während des Trampens legte er Bilder-Bände an, um Amerikanern ihr eigenes Land zu zeigen. Maximen, die ihm wichtig waren, schrieb er auch hinein: »Mein Land ist die Welt, und meine Religion ist, Gutes zu tun« (Thomas Paine). Oder Aimé Césaires: »Mit jedem armen Wesen auf der Welt, das gelyncht oder gefoltert wurde, bin ich selbst ermordet und gedemütigt worden.«

Von der Gewalttätigkeit in den USA zunehmend entsetzt, kehrte er dem Land schließlich den Rücken. Zwölf seiner besten Freunde waren während seines Aufenthalts ermordet worden, ebenso die Eltern seiner Frau, einer Schwarzen aus Mississippi; sie lebt jetzt, verstört von ihrem Land, getrennt von Holdt in Dänemark.

Die unproportionierte Höhe schwarzer Kriminalität resultiert für Holdt aus dem »Selbsthaß« der US-Neger. Der Selbsthaß wieder habe seinen Grund in der 200jährigen »Ausbeutung« der Schwarzen. Anders als europäische Länder haben »die USA ihre Kolonien mit zu sich nach Hause geholt«.

In der Kirche seines Vaters, in einem Gemäuer aus dem 11. Jahrhundert, führte Holdt dann erstmals vor, was ihn in Dänemark zu einem bekannten Mann gemacht hat: eine fünfstündige »Multimedia-Show« über seine USA-Reise, montiert aus seinen Bildern, Schwarzen-Songs und auf Band gesprochenem Holdt-Text.

Rund 30 000 Dänen haben diese Show inzwischen gesehen, Holdt bereiste das Land damit, zeigte sie in Schulen, Theatern und Gemeindesälen, und viermal die Woche läuft sie nun auch in einem 100-Plätze-Saal seines Domizils in Kopenhagen, einer 250-Quadratmeter-Wohnung in der Altstadt.

Ein Team von drei Schwarzen geht ihm dabei zur Hand. April Young, 24, seine Sekretärin, stammt aus Harlem und studiert nun Ökonomie in Kopenhagen; Tony Harns, 28, einst Gangster und Heroinsüchtiger aus North Carolina, dann Leiter eines Rehabilitations-Zentrums für Fixer; und Jerry Kwaku, 23, ein ghanaischer Student, den es nach Kopenhagen verschlagen hat. Holdt, der Tramp in Christo, will mit seiner Show und seinem Buch keinen Amerika-Haß predigen, obwohl ihm gelegentlich amerikanische Besucher -- in einer Show-Pause wird diskutiert

Einseitigkeit vorwerfen. Ihm geht es um die unterdrückten Minderheiten aller Länder.

Er kann es auch nicht lassen, weiter karitativ zu sein, etwa in Kopenhagens »Freistaat Christiania«, einem einstigen Militär-Areal, in dem Künstler, Kommunen, Sozialhelfer zusammen mit Fixern und Asozialen eine alternative Gemeinde bauen. Er unterstützt da, unter anderem, eine Theatergruppe.

Den geflochtenen Bart, er wird ihm jeden Monat von einer Freundin gelegt, will er nicht abschneiden, »aus Sentimentalität, und weil er mir ein paarmal das Leben gerettet hat«. Die junge Popularität geniert ihn, und so etwas wie Erfolg mag er allenfalls darin sehen, daß viele seine Show schon zum vierten Mal besuchten, manche sie weinend verlassen, und einer sagte: »Sie hat aus mir einen anderen Menschen gemacht.«

Zur Ausgabe
Artikel 34 / 64
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren