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Pille gegen Schmerz und Leid?

Für sechs Millionen Westdeutsche vergeht kein Tag ohne Schmerzen, jeder sechste von ihnen gilt als »schwer schmerzkrank«. 500 Millionen Mark jährlich geben die Bundesbürger aus, um sich mit Tabletten oder Zäpfchen, mit Spritzen oder Nadeln vom Schmerz zu befreien. Jetzt haben Forscher die Substanzen entdeckt, die im Gehirn den Schmerz steuern. Versuche, daraus eine Super-Schmerzdroge zu entwickeln, verlaufen ermutigend.
aus DER SPIEGEL 8/1978

Wenn es Nacht wird in Basel am Rhein, sind alle Mäuse tot. Braunäugige Affen schlafen friedlich, reichlich Morphium im Blut. Die Meinen Tiere mußten ihr Leben lassen, die großen nur die Freiheit.

Den weißen Mäusen hat man Gift ins Bauchfell gespritzt, sie auf heiße Herdplatten gesetzt, ihren Schwanz versengt oder die Pfote abgeklemmt, jeweils nur für Sekunden. Den Rhesusaffen hingegen, Beutetiere aus Indien. spendiert die Sandoz AG gereinigte Opiate nach Belieben, Tag und Nacht, vollautomatisch -- ein Leben wie in Fixers Traum.

Im vierten Stock ihres Baseler Forschungshochhauses rüstet die pharmazeutische Weltfirma mit solchen Tierversuchen zum Kampf gegen ein uraltes Übel -- und für ein neues Medikament,

Am Ende des zweiten Jahrtausends nach Christus, den der Schmerz tötete, soll endlich Schluß sein mit der Urplage, die den Menschen begleitet, quält und zerstört, seit es ihn gibt.

Womöglich nur noch kurze Zeit wird Schmerz jeder Art und Stärke der Gefährte des Menschen sein -- im Wochenbett, auf dem Schlachtfeld und auf dem Krankenlager, im Folterkeller, auch bei Liebe, Lust und Laster.

Zweitausend Jahre lang hat die Kirche den unvermeidlichen Schmerz und Tod als der Sünde Sold ausgegeben, ihn als verdiente Strafe des Allmächtigen für Evas leichtsinnigen Apfelbiß gepriesen.

Freudig sagten Philosophen und Dichter »Ja zum Schmerz« (Immanuel Kant), lobten ihn vieldeutig als »Zugang zum Grundriß des Seins« (Martin Heidegger) oder gar als »Sinngehalt des Lebens« (Ernst Jünger).

Wenn es ernst wurde, waren solche Sprüche vielleicht noch der beste Trost. Denn wirksame Arzneien gegen die allgegenwärtige Pein gab es kaum.

Zwar kannte bereits Homers schöne Helena ein Mittel, das »Schmerz und Leid vergessen« ließ, ein Gebräu aus Alkohol, Schlafmohn und der Tollkirsche. Doch geriet solch lebensgefährliche Alchimie mit dem Ableben ihrer Fürsprecher immer wieder rasch in Vergessenheit.

Statt dessen traktierten die Feldchirurgen ihre Opfer weiterhin mit der Holzhammernarkose, die Bader Schmerzkranke mit üppigem Aderlaß und studierte Medici selbst Kollegen mit Chinin: Friedrich Schiller, im zweiten Anlauf 1780 zum Dr. med. promoviert, schluckte wegen quälender Kopfschmerzen soviel bittere China-Rinde, daß es in seinen Ohren nur so sauste. Am Kopfschmerz änderte sich nichts.

Und auch in den letzten hundert Jahren ist -- von der Narkose abgesehen -- der Gesundheitsindustrie im Kampf gegen den Schmerz kaum mehr geglückt als die Entdeckung einiger Mittel, die banale Beschwerden vorübergehend lindern. Auch das ist schon länger her: Aspirin, immer noch das beste, wurde erstmals 1899 auf den Markt gebracht.

»Nichts als Stagnation«, diagnostizierte Dr. John Bonica, Leiter der ersten »Schmerzklinik« der Vereinigten Staaten an der University of Washington in Seattle, für die letzten 100 Jahre Schmerzforschung.

Jetzt aber, meint er, sei »die Schmerzforschung wiedergeboren worden«. Solcher Optimismus wird von den Experten weltweit geteilt, offenbar mit guten Gründen.

Erstmals in der Geschichte der Menschheit legen Naturwissenschaftler eine mit Beweisen untermauerte Theorie des Schmerzes vor, wissen die Forscher, was den Schmerz auslöst und wie man ihn bekämpfen könnte -- nur an einem hapert es, wie eh und je: an einer präzisen Definition der Pein.

Was der Schmerz ist, das haben die Ärzte bisher gar nicht oder nur, wie die Laien, tautologisch erklärt -- »was weh tut«. Trotz »vieler Bemühungen«. sagt der Kölner Medizinprofessor Heinz Oehmig, sei eine Definition der am weitesten verbreiteten Beschwerde »heute noch nicht« möglich.

Der amerikanische Doktor G. L. Engel versuchte es dennoch: »Schmerz ist eine grundlegend unangenehme Empfindung«, heißt es in seiner Monographie über den Schmerz, »die dem Körper zugeschrieben wird, und dem Leiden entspricht, das durch die psychische Wahrnehmung einer realen, drohenden oder phantasierten Verletzung hervorgerufen wird« -- wohl auch nicht sonderlich erhellend.

Ist aber wenigstens klar, wozu der Schmerz nütze ist? Selbst das nicht. Der biologische Sinn des Schmerzes wird von den Medizinern meist mit dem Gleichnis erläutert, er sei der »bellende Wachhund der Gesundheit«. Schmerz mache auf Krankheiten aufmerksam, zwinge den Organismus zur Ruhe, und das sei gewöhnlich die halbe Heilung. Aber die Hunde-These lahmt.

Die meisten inneren Organe des Menschen -- Leber, Lunge, Hirn etwa -sind, weil ihnen die schmerzleitenden Nerven fehlen, vollkommen empfindungslos, genauso wie Haare und Nägel. Schwere, ja tödliche Krankheiten wie Tuberkulose oder Krebs entwickeln sich, ohne daß der Wachhund bellt.

Hingegen schlägt er oft Alarm, wenn überhaupt nichts auf dem Spiel steht, wider alle biologische Vernunft.

Dabei ist im Bauplan der menschlichen Natur der Schmerz als Begleiter normaler Lebensvorgänge eigentlich nicht vorgesehen -- außer bei der Geburt. Trotzdem »entzweit der Schmerz«, zumindest vorübergehend, bei nahezu jedem Menschen »Ich und Leib« (Schmerzforscher Viktor Emil von Gebsattel).

Für sechs Millionen Bundesbürger ist der Schmerz eine tägliche Erfahrung, oft ohne erkennbare Ursache. Mindestens eine Million sind schwer »schmerzkrank«.

Ist der Schmerz vielleicht doch sinnlos? Ein »atavistisches Relikt«, wie der Psychiater Alfred Hoche schon 1920 vermutet hatte, »das ursprünglich einmal ein zweckmäßiges Mittel im Kampf ums Dasein, jetzt nur noch als eine peinliche Entgleisung der Natur zu betrachten« sei?

Seit es, wenn auch unzulängliche, Arzneimittel gegen den Schmerz gibt, werden seine Lobredner jedenfalls immer stiller. Die katholische Kirche behauptet nicht mehr, daß die »böse Fleischeslust« sich nur durch fleißiges Geißeln austreiben lasse und hat ihre »Flagellanten«-Bewegung sanft entschlafen lassen. Niemand mehr »legt sieh in die Dörner und zerkratzt den Arsch gar wohl« (Martin Luther über den Heiligen Benedikt), brennt die Vorhaut ab und sengt sich den Phallus an -- einst schmerzvolles Brauchtum frommer Männer, die immer Neigung hatten, den Schmerz. wenn schon, denn schon, wenigstens zu sexualisieren.

Auch die weltlichen Mächte reden der Körperqual nicht mehr das Wort. Tortur und Folter. in rund 60 Ländern der Erde zwar noch gang und gäbe, werden offiziell schon überall geleugnet -- früher priesen Beamte und Rechtsgelehrte den amtlich zugefügten Schmerz ungeniert als Wohltat.

Erstmals, so scheint es, sind sich alle Menschen darüber einig, daß der eigene Schmerz (und demnächst auch der fremder Leute) entbehrlich sei. Vor diesem Hintergrund nehmen sich die jüngsten Erfolge der Schmerzforschung aus wie die Materialisation eines Wunschdenkens: Weil alle Schmerzfreiheit wollen, wird sie wahr werden.

Mit bloßem Auge freilich ist der Erkenntniszuwachs nicht sichtbar, mit üblichem Gerät läßt er sich nicht wägen: Die Schmerzforschung spielt sich unter Mikroskopen und im Nanogramm-Bereich ab*.

Seit es gelungen ist, auch kleinste Mengen von Eiweißstoffen ("Peptide") radioaktiv zu markieren, können die

* Oben: Nach einem Gemälde von Guido Reni (1575 bis 1642). Unten: Bei einer Karsamstags-Prozession in Süditalien.

** Nanogramm ein Milliardstel Gramm.

Botenstoffe des Schmerzes in einer Menge von eitlem Tausendstel Nanogramm in einem Milliliter Blut korrekt bestimmt werden. Der Schmerz, bisher ein Irrlicht, das sich der exakten Wissenschaft entzog, hat endlich ein Substrat bekommen.

Doch nicht nur das: Auch die Wege, die der Schmerz nimmt, werden neuerdings enttarnt. Auf diese Weise könnte es gelingen, die zahlreichen Widersprüche der Schmerzwahrnehmung aufzulösen. Weshalb etwa der gleiche Schmerz von dem einen Menschen in stoischer Ruhe ertragen wird, den anderen jedoch bis zur Selbstaufgabe quält, blieb bisher Spekulation. Vor allem ihre Beobachtungen auf Verbandsplätzen irritierten die Ärzte: Je größer die Angst während des Waffenganges, desto weniger Schmerzmittel brauchten die Verwundeten.

Nur soviel war bewiesen: Die Intensität der Schmerzen ist abhängig von dem unterschiedlichen Bewußtsein, der Aufmerksamkeit, den Erwartungen und Erfahrungen der Kranken. Schmerzmessungen bestätigen diesen Sachverhalt.

Dutzende von Verfahren wurden mittlerweile dafür entwickelt. Am ungenauesten ist die »verbale Schätzskala«. Der Kranke kann zwischen fünf Auskünften wählen: »Kein Schmerz -- leichter Schmerz -- mäßiger Schmerz -- starker Schmerz -- unerträglicher Schmerz.«

Zuverlässiger sind Informationen, die mittels peinigender Apparaturen gewonnen werden: Der Arzt wickelt etwa die Manschette eines handelsüblichen Blutdruckgeräts um die Wade. Dann erhöht er den Manschettendruck alle zwei Sekunden um zehn Millimeter Quecksilbersäule. Der Kranke soll sich dreimal rühren: Wenn es anfängt, weh zu tun; wenn künstlich gesetzter und ohnehin vorhandener Schmerz gleich stark werden; schließlich dann, wenn er es gar nicht mehr aushalten kann ("maximale Toleranz").

Um herauszufinden, ob zwischen den Geschlechtern und Rassen. zivilisierten und naturwüchsigen Völkern, alten und jungen Menschen die vermuteten Unterschiede der Wehleidigkeit bestehen, rückten die Schmerzforscher mit immer subtilerem Gerät an.

An der kalifornischen Standford University konstruierte Dr. Kenneth Woodrow eine Martermaschine, bei der zwei fingerdicke Metallbolzen die Achillessehne unter langsam zunehmenden, dabei fein meßbaren Druck setzen. Seine Erkenntnis: Männer halten doppelt soviel Schmerz aus wie Frauen, Junge mehr als Alte, Weiße mehr als Neger.

Für den französischen Augenarzt Michael Millodot sind hingegen alle Schwarzhäutigen, dazu auch Inder und Chinesen. bemerkenswert »unempfindlich gegen Schmerz«. Millodot hatte hei Hunderten von Versuchspersonen mit einer feinen Borsten-Maschine die Schmerzschwelle im weit aufgerissenen Auge getestet. Sein Resümee: »Weißhäutige sind wehleidiger«, und im übrigen sei das Maß der Schmerzempfindlichkeit »angeboren

Worin der rassisch bedingte kleine Unterschied der Anatomie und seine biochemischen Folgen bestehen könnten, vermag indes kein Schmerzforscher anzugeben. Die herkömmlichen Untersuchungsmethoden haben am Nervenkostüm der Menschen keine rassisch bedingten Eigentümlichkeiten aufdecken können.

Die Wissenschaftler vermuten deshalb, daß größere oder geringere Schmerzempfindlichkeit nicht die Folge unterschiedlicher Strukturen des Nervengewebes sei, sondern durch soziokulturelle Einflüsse geprägt werde.

Das Schlüsselwort, mit dem die Forscher die physiologischen Abläufe der Schmerzempfindung umschreiben, heißt »Tor-Kontrolle«.

Mit diesem Begriff haben die beiden angloamerikanischen Wissenschaftler Ronald Melzack und Patrick Wall 1965 eine Theorie etikettiert, die seither als bislang einleuchtendste Deutung des komplexen Schmerzphänomens gilt. »Gate control« meint, daß es im Rückenmark ein (hypothetisches) Tor gibt, welches Schmerzreize etwa aus den Gliedmaßen entweder passieren läßt oder zurückhält. Dieses Tor öffne und schließe sich nicht willkürlich, sondern werde durch ein halbes Dutzend übergeordneter Hirnzentren sowie durch zweierlei Arten von Nervengewebe aus den Körperregionen gesteuert.

Von den malträtierten Organen führe keine direkte Leitung, vergleichbar etwa einem Telephondraht. ins Großhirn, wo der Schmerz zum Bewußtsein kommt.

Vielmehr bestehe jeder Nerv aus verschiedenartigen Fasern, in denen winzige elektrische Impulse mit unterschiedlichem Tempo Informationen hin und her transportieren. Die ganz besonders flinken A-Fasern geben, mit einer Geschwindigkeit von zehn bis 25 Metern pro Sekunde, lediglich Nachrichten über Berührungsreize weiter. Die langsamen hingegen ("C-Fasern"). die eine Information mit nur einem Meter pro Sekunde fortleiten, übertragen die Schmerzimpulse. In der grauen Innenzone des Rückenmarks treffen beide Informationssysteme erstmals zusammen.

Die schneller übermittelten Reize schließen das Tor zu, vorausgesetzt, der Ansturm schmerzhafter Reize ist nicht gar zu lebhaft.

Verriegelnd auf das Gatter wirken auch Wärme-, Kälte- und bestimmte Elektroreize. Die »Gate control«-Theorie erklärt mithin auch auf einleuchtende Weise, weshalb Eisbeutel, Wärmflasche, Akupunkturnadeln, Massage oder Vibration -- kurz: alle hergebrachten Methoden der »Gegenirritation« -- überhaupt schmerzlindernd wirken können.

Mit der einen Pforte im Rückenmark ist es freilich nicht getan. Weil bestimmte Schmerzreize, zum Beispiel solche von den Zähnen, dem Bewußtsein ohne Mitwirkung des Rückenmarks durch Hirnnerven zur Kenntnis kommen, postulieren »Gate control«-Anhänger ein zweites Tor, diesmal weiter oben, im Stammhirn. Migräne Patienten sind

ordnungsliebend und staatsbewußt.

»Diese ohnehin schon komplizierten neurologischen Wechselwirkungen«, erläuterte »refero-med«, der »Sofort-Kongreß-Dienst« der Pharmafirma Bayer ("Aspirin"), seinen ärztlichen Lesern, würden »durch ähnlich komplizierte psychologische Komponenten um weitere Zehnerpotenzen verwirrender«. Schmerz ist eben, wie schon Aristoteles wußte, auch »ein Leiden der Seele«.

Wenn etwa ein Vater seine kleine Tochter immer wieder prügelt und danach stets liebevoll tröstet, bahnt er in dem Mädchen einen Reflex, der Schmerzen und Schläge für Liebe nimmt. So zieht man eine Masochistin groß.

Sadisten hingegen und Menschen, die unter ausgeprägten Aggressionen leiden, haben häufig starke, durch keinen organischen Befund erklärbare Schmerzen in den Händen. Unbewußt suchen sie sich, deuten Psychoanalytiker diesen Befund, durch den lähmenden Schmerz vor Schlimmerem zu bewahren. Bei diesem »Syndrom des einsamen Jägers«, einer Erscheinung, die tötungsfrohe Weidmänner trifft, ist der Schmerz meist nicht nur Strafe für die ausgelebte Aggression, sondern oft zugleich ein Alibi für anderweitige Mißerfolge.

Umfangreiche Psychostudien haben zudem bewiesen, daß auch Erziehung und Weltbild den Schmerz variieren. So ist etwa der typische Migräne- und Kopfschmerzpatient von schwachem Selbstbewußtsein und großer Ordnungsliebe beseelt, legt auf gutes Benehmen Wert, schätzt Staat, Kirche und Konventionen, fürchtet sich aber vorm Sterben und dem Tod.

Solche Beamtenmentalität disponiert auch zu chronischen Schmerzen ohne organischen Befund; keine Überraschung also, daß vor allem passive und abhängige Menschen zu Schmerzmittelmißbrauch neigen. »Hysteriker« hingegen, die ihre Seelenkonflikte demonstrativ und theatralisch ausleben, sind »relativ schmerzunempfindlich« ("refero-med").

Schillernd also moderiert die Seele den Schmerz, und erst seit kurzem wissen die Forscher zweifelsfrei, womit sie es tut: mit einer Art Wunderdroge, die der Mensch in seinem eigenen Kopf produziert -- mal mehr, mal weniger.

»Endorphine"*, so lautet die chemische Bezeichnung für diese Substanzen, denen die Wissenschaftler bei der Sandoz in Basel, aber ebenso in den Forschungslabors fast aller anderen Pharma-Konzerne nachspüren und die offenbar zum Besten zählen, was ein Gehirn zustande bringt.

Endorphine schützen nicht nur vor der Wahrnehmung des Schmerzes, sie sind offenbar auch die materielle Grundlage des Lustgefühls und in der Stunde des Todes die Droge, mit der sich angstfrei, ja, glücklich sterben läßt.

* Endorphine: zusammengezogen aus griech. »endogen« = von innen her stammend« und »Morphin« Rauschmittel aus Schlafmohn.

Den Vielzweck-Endorphinen kamen die Forscher erst vor kurzem und eher zufällig auf die Spur. Unabhängig voneinander hatten Anfang der siebziger Jahre eine schwedische und eine amerikanische Wissenschaftlergruppe herausgefunden, daß im Gehirn von Säugetieren bestimmte Nervenzellen mit Bindestellen ("Rezeptoren") ausgestattet sind, die vor allem Opiate fesseln. Damit war erklärt, wie die Extrakte aus dem Schlafmohn auf den Kopf wirken.

Die genaue Lage der Rezeptoren bestimmte als erster der US-Forscher Solomon Snyder. Er fand, daß die Opiat-Bindestellen nicht etwa gleichmäßig über das ganze Gehirn verteilt sind, sondern sich in bestimmten, entwicklungsgeschichtlich alten Hirnregionen häufen. Dort, im »Stammhirn«, münden nicht nur die schmerzleitenden Nervenfasern, diese Hirnpartie steuert auch die menschlichen Emotionen.

Die Entdeckung der Opiat-Rezeptoren an dieser Stelle erklärt, weshalb Morphium nicht nur schmerzlindernd wirkt, sondern -- selbst in kleinster Dosis -- immer auch die Stimmungslage verändert. Morphium nimmt dem Stammhirn Angst und Schmerz und bringt ihm die Euphorie, jene motivlose ruhige Heiterkeit des Gemüts, nach der sich der Süchtige sehnt.

Wenn es aber, so überlegten Snyder und andere, im Stammhirn Opiat-Rezeptoren gibt, dann doch wohl nicht, weil etwa Mohn und Mensch biologisch füreinander bestimmt seien, sondern nur deshalb, weil die Nervenzellen mit solchen Bindestellen körpereigene Substanzen fesseln wollen.

Da sich die Opiat-Rezeptoren ausschließlich an den Kontaktstellen der Nerven fanden, mußten sie etwas mit der Signalübertragung zu tun haben.

An den Kontaktstellen setzen die fortgeleiteten elektrischen Nervenreize, wie seit längerem bekannt, bestimmte Überträgerstoffe frei. Solche »Neurotransmitter« überbrücken die zwei Millionstel Zentimeter breite Distanz zwischen zwei Nervenenden, die dem gleichen Informationsstrang zugehören.

Die Schlußfolgerung aus diesem Puzzle: Körpereigene Morphine leiten oder blockieren nervöse Impulse. Mit ihrer Hilfe reguliert das Gehirn, was es von Leib und Leben wissen will. Je mehr Morphium, desto weniger dringt ins Bewußtsein -- und schon gar nicht das Unangenehme.

»Eines interessiert mich besonders«, grübelt Dr. Janos Pless, Exil-Ungar und jetzt Leiter der Abteilung Biochemie der Sandoz-Pharmaforschung in Basel, »woher weiß der Mohn, was dem Kopf gut tut?«

Für die nahe chemische Verwandtschaft zwischen pflanzlichem Mohnextrakt und menschlichem Endorphin fehlt nicht nur Pless die Antwort. Dabei gilt der 47jährige Biochemiker weltweit als große Hoffnung auf dem neuen Feld der Endorphin-Forschung.

Seiner Arbeitsgruppe gelang es, die eher praxisfernen Entdeckungen der Opiat-Rezeptoren und körpereigener Morphin-Produktion mit einem Dreh ins Nützliche zu verwandeln: In den Baseler Labors der Sandoz AG wurde das erste »künstliche Analogon« der natürlichen Endorphine synthetisiert. »Ganz neue Perspektiven für die Erforschung und eventuelle Bekämpfung des Schmerzes«, heißt es in Basel: So ein Sandoz-Endorphin wäre in der Tat ein »Jahrhundertmedikament«.

Endorphine sind, wie zwei schottische Forscher 1975 herausfanden, relativ einfach aufgebaute Eiweißstoffe ("Peptide"). Sie bestehen aus nur fünf Aminosäuren, weshalb ihre Synthese nicht sonderlich schwierig ist.

Nur leider: »Im Tierexperiment sind sie sehr unstabil und von außerordentlich kurzer Wirkungsdauer«, wie Sandoz-Forscher klagen. Selbst wenn man sie direkt ins Gehirn spritzt, bleibt kaum Zeit, die schmerzlindernde Wirkung zu überprüfen.

Unter der Regie von Pless, einem erfahrenen Peptid-Manipulator, machte sich eine Forschergruppe deshalb daran, durch »gezielte Abänderung« der natürlichen Reihenfolge der fünf Aminosäuren nach einer »widerstandsfähigen Verbindung« zu suchen, die den spalterischen Aktivitäten der im Gehirn stets gegenwärtigen Endorphin-Feinde« bestimmter Enzyme, länger trotzt.

Wider Erwarten gelang dies relativ schnell. Das neue, noch namenlose Sandoz-Endorphin -- Firmen-Code: »33-824« -- erwies sich nicht nur als vergleichsweise wirksam, sondern auch als stärker schmerzstillend ("analgetisch"). Und -- größte Überraschung -- es wirkt auch, wenn es geschluckt und vom Darm aufgesogen wird.

Am Magensaft und den Verdauungsenzymen sind bisher nahezu alle Peptide gescheitert. Sie werden, bevor sie irgendeinen Rezeptor erreichen, in ihre Bestandteile zerkleinert. »33-824« schafft jedoch nicht nur diese Barriere, es erreicht auf dem Blutweg auch das Stammhirn, ohne unterwegs verlorenzugehen.

Von der Wirksamkeit der hauseigenen Endorphine haben sich die Forscher mittlerweile in zahlreichen Tierversuchen überzeugt. Dabei werden Mäusen, Ratten und Rhesusaffen dosiert Schmerzen zugefügt. Man setzt etwa eine kleine weiße Maus auf eine 56 Grad heiße kupferne Herdplatte. Gewöhnlich hebt das Tier nach fünf Sekunden die Vorderpfoten und leckt sie ab, damit es nicht so weh tut. Wurde jedoch Endorphin gespritzt oder verfüttert, läßt die Schmerzreaktion lange auf sich warten -- zwölf, fünfzehn oder zwanzig Sekunden, je nach Dosis. Mit schmerzlindernden Elektroden ins Gehirn.

Mit der Stoppuhr wird auch registriert, wie schnell eine Maus vor und nach Endorphingabe den Schwanz wegzieht, wenn man ihm mit einem warmen Lichtstrahl nahe kommt. Ihren Rhesusaffen klemmen die Baseler Forscher elektrische Kontakte in die Ohrläppchen. Gleichzeitig verbinden sie die Versuchstiere mit einer Apparatur, die auf Tastendruck immer wieder Endorphin freigibt -- durch einen dünnen Plastikschlauch direkt ins Blut. Auf diese Weise kann der Affe selbst bestimmen, wieviel Endorphin er braucht, um schmerzfrei und glücklich zu sein.

Eine »Aussage über eine allfällige medizinische Anwendung der neuen Verbindung« am Menschen möchte die Pharmafirma »im jetzigen Zeitpunkt« freilich noch vermeiden. »Was wir machen«, sagt Dr. Jürg Rutschmann, der Leiter der Sandoz-Forschung, »ist erst mal orientierte basic research«. Solche Grundlagenforschung gilt als »langwierig, kompliziert und risikoreich«. Für Sandoz birgt sie indes die Chance, einen Pharma-Renner zu entwickeln, so wie die benachbarte Hoffmann-La Roche AG, die mit dem Seelentröster »Valium« groß (38 000 Beschäftigte) und reich wurde. Bisheriger Valium-Umsatz: mehr als sieben Milliarden Mark.

Gesucht wird in Basel diesmal nach einer Substanz, die besser ist als herkömmliche Schmerzmittel, von denen auch Sandoz (wie jede große Pharmafirma) ein paar im Programm hat. Die konventionellen Pulver und Pillen haben im Prinzip alle die gleichen Nachteile: Sie schalten nicht nur den Schmerz aus, sondern beeinträchtigen oft auch Kreislauf und Atmung, bewirken Überempfindlichkeitsreaktionen und können zur Sucht fuhren.

Je stärker die schmerzstillenden Eigenschaften sind, desto gravierender sind meist auch die Nachteile. Paradebeispiel ist das »Heroin«, um die Jahrhundertwende von der Bayer AG als Hustensaft und »heroisches« Schlafmittel gerühmt, doch schon bald wegen seiner Nebenwirkungen vom Markt genommen und nun illegale Suchtdroge Nummer eins.

Weil Chemie starke und chronische Schmerzen -- zumindest bisher -- oft nicht lindern kann, versuchen es immer mehr Doktoren mit Physik; sie setzen die Nervenzellen unter Strom. Dabei geben sich etliche Ärzte nicht damit zufrieden, die Schmerzleitung in der Peripherie des Körpers oder am Rückenmark zu irritieren, die Operateure wagen den Eingriff vielmehr direkt im Gehirn (SPIEGEL-Titel 33/1975).

Ganze 0,635 Millimeter dick ist die vierpolige Hirnelektrode, die der Freiburger Neurochirurg Fritz Mondinger bei mittlerweile 20 chronisch kranken Schmerzpatienten mitten ins Gehirn eingepflanzt hat.

»Wir können«, rühmt sich der Chirurg, »mit unserer stereotaktischen computerunterstützten Technik Strukturen im Gehirn mit einer Genauigkeit von wenigen Zehntelmillimetern anzielen.« Ist die Elektrode erst mal ins Stammhirn vorgeschoben, überzeugt sich Mundinger durch »elektronische Reizkontrollen« vom richtigen Sitz des »Hirnstimulators«. Der Patient -- er ist während der vielstündigen Operation bei vollem Bewußtsein, weil Eingriffe am Gehirn schmerzlos sind -- berichtet, wann die Stromstöße seine Schmerzen unterdrücken.

Wenn alles klar ist, kittet Mundinger den Elektrodenschaft in die gebohrte Schädellücke ein und zieht unter der Haut einen Draht vom Kopf zum Brustbein. Dort, im Fettgewebe, wird ein handtellergroßer Reizgeber installiert. der von außen her bei Bedarf mit Strom versorgt wird.

»Drei Reizungen à 30 bis 40 Minuten pro Tag«, so Mundinger, unterdrücken den »anderweitig unbeeinflußbaren« Schmerz. Alle seine Patienten seien »bewußtseinsklar, voll orientiert und durch die zentrale Reizung weder seelisch noch sonstwie behindert«. Mundinger: »In keinem Fall haben wir Persönlichkeits- oder Wesensveränderungen beobachtet.«

Ob, wie der Freiburger Drahtzieher glaubt, seine »Methode der Hirnstimulation als neuartiges Therapieverfahren chronischer Schmerzen« eine »neue Ära« der Neurochirurgie eingeleitet hat, ist unter Schmerzexperten freilich umstritten. Manche Mundinger-Patienten brauchen nämlich trotz Hirnstimulation nebenbei weiterhin Schmerzmittel.

Hypnose-Befehl:

»Nie wieder Schmerz.«

Immerhin erscheint denkbar, daß die Elektroreizung die Nervenzellen »konditioniert«, im Stammhirn also einen schmerzstillenden Reflex einschleift, sobald der Patient zu seinem Stimulator greift (oder auch nur an ihn denkt).

Solche Art Schmerzbefreiung wird in den USA schon im großen Stil betrieben. Dort haben sich private »Biofeedback«-Zentren aufgetan, in denen Schmerzgeplagte beispielsweise lernen können, ihre Gesichtsmuskeln zu entspannen oder den Blutdruck zu senken -- und so der Migräne zu entkommen.

Der Lernerfolg wird durch Maschinen vermittelt und kontrolliert. Gelingt es dem Patienten, seine Muskeln zu entspannen, geht ein unangenehmer Dauerton in eine sanfte Melodie über.

Auf eher zarte Weise suchen einige Ärzte den Schmerz auch durch Hypnose abzubauen. Dieser Heilweise sind freilich Grenzen gesetzt: Nur jeder fünfte Patient gleitet ins dritte Stadium hinüber. »tiefe Hypnose« oder »Somnambulismus« genannt. Solange ein Kranker durch die Hypnose nur benommen ist (erstes Stadium) oder sich, was schon seltener vorkommt, dem Hypnotiseur nur unterordnet (zweites Stadium), bleiben die Schmerzen unbeeinflußt.

Die wahre Hypnotiseurkunst besteht nämlich darin, dem Patienten einen »posthypnotischen« Befehl zu erteilen -- »Sie werden nie wieder Schmerzen haben« -, und eben diesen Befehl akzeptiert der Hypnotisierte nur im dritten Stadium der Trance.

Weil die Hypnose von den meisten Ärzten jedoch nicht beherrscht wird, bleibt es gewöhnlich bei suggestiver Einrede. Zudem scheuen sich

etliche Mediziner, selbst wenn sie das Hypnosehandwerk beherrschen, vor der Anwendung der Psychotechnik. Hypnose, sagt der New Yorker Psychoanalytiker Paul Sacerdote, »insolviert den Arzt. Er muß sich dabei emotional engagieren, auch bei Patienten, die sterben«.

Vor allem Krebskranke leiden in den letzten Wochen ihres Lebens häufig an unerträglichen Schmerzen. Seit neuere Behandlungstechniken die Überlebenszeiten der Karzinompatienten verlängeil haben, verlängert sich bei etlichen auch die Leidenszeit. Der »Terminalschmerz« läßt sich bisher nur durch Opiate beherrschen, wobei in Kauf genommen wird, daß der Krebskranke in seinen letzten Lebenswochen morphiumsüchtig wird.

Mehr als ein Dutzend Operationsmethoden, den »Terminalschmerz« chirurgisch abzuschalten, wurden im Juni 1977 auf einem »Neuropsychiatrischen Symposum« im jugoslawischen Pula vorgestellt.

Ihr Prinzip ist immer gleich: Mit dem Messer oder der Elektrosonde durchtrennen die Operateure die schmerzleitenden Nerven, am liebsten dort, wo sie im Rückenmark als umschriebener Strang hirnwärts ziehen ("Cordotomie"). Eine vorübergehende Blockade der Schmerzbahnen gelingt durch die Einspritzung hochprozentigen Alkohols.

In den USA befassen sich mittlerweile mehr als 40 Spezialkliniken ausschließlich mit der Schmerzbekämpfung. Das älteste Institut ist die »Pain Clinic« des Dr. John Bonica in Seattle, in welcher ein Dutzend Ärzte alte und neue Behandlungsverfahren kombinieren. Auch in Deutschland macht diese Art der Spezialisierung Fortschritte.

So halten die Anästhesisten der Mainzer Uni-Klinik acht Betten ausschließlich für Schmerzpatienten frei. In Hamburg haben unter der Regie des Narkose-Professors Karl Horatz Ärzte des Universitätskrankenhauses Eppendorf ein interdisziplinäres Team gebildet, und in der Stuttgarter Kräherwaldklinik nehmen zwölf Ärzte sich des Schmerzes an.

»Wir bemühen uns«, berichtet Dr. Roland Wörz vom Bezirkskrankenhaus Günzburg, »jedem Schmerzpatienten das richtige und für ihn geeignete Therapie-Angebot zu machen.« Seit 1975 unterhält die schwäbische Klinik eine »Schmerz-Ambulanz«, in der seither rund 300 »Problem-Patienten« verarztet wurden. Der Erfolg: Neun von zehn chronisch Kranken konnte geholfen werden.

»Weil man heute«, wie die Günzburger erkannt haben, »nur mit der Verordnung von Schmerzmitteln ja nicht mehr weiterkommt«, standen sie Pate bei der Gründung einer »Gesellschaft zur Erforschung des Schmerzes«, die inzwischen zwei Fachtagungen abgehalten hat.

Auf dem Weg zur größten Lustdroge aller Zeiten?

Zu einem Weltkongreß über den Schmerz wollen sich die Forscher in diesem Jahr in Montreal versammeln. »Es geht vorwärts«, meint Dr. Doulin M. Long, Professor am »Schmerz-Zentrum« der Johns Hopkins University in Baltimore, »was gegenwärtig passiert, ist eine der dramatischsten Entwicklungen in der Medizin.«

Etwas zurückhaltender äußern sich die Baseler Endorphin-Forscher~ doch sie hegen noch andere Hoffnungen. »Vielleicht«, spekuliert Forschungs-Chef Rutschmann, »ist die schmerzstillende Wirkung der Endorphine nur ein Aspekt.«

Zu dieser Vermutung geben erste Erprobungen an Menschen Anlaß. Im US-Bundesstaat New York wurden sechs depressive beziehungsweise wahnkranke Patienten mit der aus Tierhirnen destillierten Naturdroge behandelt (sie kostet einstweilen noch pro Injektion 3000 Dollar). Der Zustand der Patienten besserte sich deutlich.

Ratten, denen man an der Ohio State University synthetisches Endorphin in größerer Menge injizierte, wurden gar restlos glücklich.

Ihr Orgasmus brachte den Experimentator auf die Idee, daß die »Endorphine vielleicht der Ursprung aller Belohnungen sind«. Larry Stein, Forscher heim Sandoz-Konkurrenten Wyeth Laboratories in USA, wähnt sich gar schon auf dem Weg in Aldous Huxleys »Schöne neue Welt": Wir können die größte Lustdroge aller Zeiten finden -- eine Art Super-»Soma«.

Mit Soma, so hatte Aldous Huxley für das Jahr 600 nach Ford vorausgesagt, werden die Menschen dereinst schmerzfrei und glücklich leben, besser jedenfalls als mit Alkohol und Christentum und deren Nachteilen -- Kater und Mystizismus.

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