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SCHULEN / SCHULER-EHE Pillen im Hof

aus DER SPIEGEL 16/1968

Zwei Lehrer waren seine Trauzeugen. Die Braut, ein Bund Lilien und Iris im Arm, brachte kichernd den Standesbeamten aus dem Konzept. Im Treppenaufgang stand ein Klassenkamerad und schwenkte die Vietcong-Fahne.

Dem Oberschüler Sebastian Rottner, 19, wurde Ende März im Frankfurter Römer seine Freundin Ingeborg, 20, angetraut.

Der Unterprimaner mit Backenbart und weißem Kavalierstuch über der braunen Weste heiratete mit dem Segen seiner Lehrer. Und wie schon mehrere Dutzend deutscher Pennäler drückt er morgens die Schulbank und abends die Ehefrau.

Denn stillschweigend zeigen sich heute Schulbehörden in der Mehrheit der Fälle tolerant, wenn Schüler den Pädagogen drucksend Hochzeitspläne offenbaren. »Wir dramatisieren das nicht«, sagt Hety Schmitt-Maass, Pressereferentin im Wiesbadener Kultusministerium·. »Wir versuchen, das als ganz normal hinzunehmen.«

Doch Rottner, Mitglied der »Sozialistischen Opposition«, einer linken Schüler-Vereinigung, und Sohn eines kunstmalenden Dolmetschers, ist nicht nur geduldet im schulischen Betrieb: Die Mehrheit der 2600 Grund-, Mittel- und Oberschüler der reputierlichen Frankfurter Ernst-Reuter-Schule wählte ihn zu ihrem Schulsprecher und Repräsentanten.

Rottner, der »in der Obersekunda die Ehrenrunde« machte (zu deutsch: sitzenblieb), jetzt aber in den Hauptfächern durchaus mit gut abschließt ("Nur Mathematik ist meine schwache Seite"), tat sich außerhalb des Unterrichts schon des öfteren hervor. Zu Adenauers Tod verteilte er in der großen Pause ein vervielfältigtes Traktat an seine Mitschüler: »Er liegt in seines Sarges Stille, mit gebrochener Pupille schaut er auf schwarz befrackte Tiere ... (doch) von oben giert der Pleitegeier, auf all das edel Staatsgeleier.«

Als jetzt ein Schulsprecher gewählt werden sollte, kündigte Kandidat Rottner an, er werde die Schülermitverwaltung von allen alten Zöpfen und den »leidigen Reklamereden im Dash-Stil« befreien. Er selbst machte den Anfang: Forsch versprach er, »Material mit Adressen und Hinweisen für den Erwerb von Anti-Baby-Pillen« im Schulhof verteilen zu lassen.

Er hätte ihrer selbst bedurft. Die Bekanntschaft mit dem Mädchen Ingeborg im Frankfurter Bier- und Debattierlokal »Pampam« blieb nicht ohne Folgen. Der werdende Vater quittierte freiwillig den Schuldienst. Doch nur für vier Wochen, denn er wurde noch gebraucht.

Klassenkameraden, mit denen er eine unabhängige Schülerzeitung (Titel: »Unnütze Blätter") vorbereitet hatte, intervenierten beim Klassenlehrer. Ihr Mitschüler, mittlerweile in einem Porzellangeschäft tätig, durfte zurück auf die Schulbank.

Mehr noch: Einige »Privatleute, Lehrer und Kameraden« (Rottner) erklärten sich bereit, dem jungen Paar die Monatsmiete für eine Dreizimmer-Wohnung mit Küche und Bad »ohne Auflage bis zum Schulabschluß« zu zahlen.

Zur Hochzeit schenkte die Klasse dem Kameraden einen gepolsterten Schaukelstuhl. Und ein ehemaliger Klassenlehrer schickte, ebenfalls als Hochzeitsgeschenk, noch vor dem freudigen Ereignis dem Musterschüler einen Kinderwagen in die Mansarden-Bleibe.

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