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GESELLSCHAFT / VERBRECHEN Pistole unterm Kissen

aus DER SPIEGEL 45/1967

David Hoskins, 30, griff zum Gewehr und erschoß seine Ehefrau Loretta, 29. Dann steckte er sein Haus in Brand. Die vier Hoskins-Kinder kamen in den Flammen um.

Mit Pfeil und Bogen, Pistole und Küchenmesser ermordete Ronnie Lee Ozio, 14, im Texas-Städtchen Orange nacheinander Vater, Großvater und eine Freundin der Familie. In Chicago erdolchte eine 20jährige Mutter ihren Schlachter. Und am Montag letzter Woche erschoß der 39 Jahre alte Laborant Leo Held im US-Staat Pennsylvania sechs Nachbarn, Fremde und Freunde.

Etwa alle 45 Minuten wird derzeit in den USA ein Bürger zum Mörder, werden Freunde, Nachbarn und Eheleute zu Todeskandidaten oder Zuchthäuslern in spe.

Rund 750 000 Amerikaner wurden in diesem Jahrhundert in den USA ermordet, mehr Menschen, als für Amerika bislang in allen Kriegen auf den Schlachtfeldern verbluteten.

In den Straßen und Häusern der Vereinigten Staaten wurden allein im vergangenen Jahr 10 920 Zivilisten umgebracht, mehr als die US-Truppen in den Dschungeln Vietnams in den letzten zwei Jahren an Gefallenen verloren.

Von Stunde zu Stunde werden die Verluste auf den Schlachtfeldern höher -- in Vietnam und daheim. In diesem Jahr, so fürchtet die amerikanische Regierung, wird Amerika einen Verbrechens-Boom von bislang unbekannten Ausmaßen erleben.

Über drei Millionen Straftaten wurden 1966 aktenkundig, aber in den ersten sechs Monaten dieses Jahres registrierte das »Federal Bureau of Investigation« (FBI) bereits 18 Prozent mehr Verbrechen als 1966.

Dieser Anstieg, so die US-Illustrierte »Look«, »kommt plötzlich, schockierend und überraschend«. »Das ist einfach viel zuviel für die Gesundheit unserer Nation«, befand eine von Präsident Johnson eingesetzte Untersuchungskommission. Und »Time« klagte: »Die Kriminalität in den USA ist eine nationale Schande.«

In Memphis im US-Südstaat Tennessee schieden dreimal mehr Menschen unter Gewalt aus dem Leben als 1966, in Boston wurden eineinhalbmal mehr Morde gezählt.

Schon 1966 konnten New Yorks 26 000 Polizisten 653 Morde und 1761 Vergewaltigungen nicht verhindern. In den ersten sechs Monaten dieses Jahres sollten sie 25 Prozent mehr Mordfälle als im gleichen Zeitraum des Vorjahres aufklären. Chicagos 11 000 Polizeibeamte rechnen 1967 mit 700 Tötungstaten. 1966 waren es 510.

Dabei gilt Chicago als besonders fortschrittlich: In seinen Krankenhäusern starben nur zwölf von 100 Schußverletzten, nur zwei von 100 Messer-Verwundeten konnten nicht gerettet werden.

Zwar büßen gegenwärtig rund 426 000 Amerikaner für ihre Taten hinter Gittern, doch die meisten Gesetzesbrecher gehen straffrei aus: Im Wettlauf mit den Verbrechern verliert Amerikas Polizei immer mehr an Boden.

1965 konnten die FBI-Agenten noch 90 Prozent aller Mordfälle aufklären, im letzten Jahr legten sie 89 Prozent der Täter Handschellen an.

In New York sank der Aufklärungserfolg bei Mord von 83,3 Prozent auf 78,1. »Wir müssen uns um zu viele andere Straftaten kümmern«, erklärte Inspektor Joseph McLaughlin von der New Yorker Kripo, »dadurch werden wir an der Mord-Aufklärung gehindert.«

Johnsons Kriminal-Kommission kam zu dem Ergebnis, es gebe »beeindruckende Beweise dafür, daß in vielen Städten zuwenig Polizeibeamte wachen«. 1000 US-Bürger werden von durchschnittlich 1,7 Polizeibeamten beschützt. (In Deutschland kommen auf 1000 Personen 2,3 Polizisten.)

Von 24 amerikanischen Großstädten, so ergab eine Umfrage der Internationalen Gesellschaft der Polizeichefs, »sind nur zwei ausreichend mit Beamten besetzt«. Denn Amerikas 420 000 Mann starke Polizei-Truppen, wenig beliebt und schlecht bezahlt, klagen über Personalmangel.

Amerikas Bürger klagen über den mangelnden Schutz durch die Ordnungshüter. Die Straßen mancher US-Citys wirken nachts wie Hamburgs Innenstadt. Die Hanseaten mögen nicht, die Amerikaner trauen sich nicht zum Abendspaziergang auf die Straße. Fast die Hälfte aller US-Bürger hockt aus Furcht vor Überfällen lieber vor den Fernsehapparaten. 28 Prozent sichern Haus und Garten durch Schäferhunde, Dackel und Doggen.

Über 50 Millionen Amerikaner haben ein Gewehr im Schrank oder verstecken eine Pistole unter ihrem Kopfkissen. 37 Prozent der Waffenträger gaben in einer Umfrage des »National Opinion Research Center« an, daß sie ihre »Waffen nur zum Selbstverteidigungszweck erworben« hätten.

Die amerikanische Verfassung gibt allen US-Bürgern das Recht, »Waffen zu halten und zu tragen«, Versandunternehmen und Warenhäuser machen es möglich. Für Bargeld oder auf Abzahlung können die Amerikaner wie kein Volk der Welt mit ihren Waffen auf den Spuren der Cowboys und Capones wandeln.

Lee Harvey Oswald ermordete Amerikas Präsidenten John F. Kennedy mit einem Gewehr, das er per Post bestellt hatte. Und so wie Oswald töteten über die Hälfte aller US-Killer ihre Opfer. Bei 100 000 Überfällen drohten die Gangster mit Pistole, Karabiner oder Maschinengewehr; etwa 6600 Amerikaner wurden im vergangenen Jahr durch Kugeln tödlich getroffen. Von 278 Polizeibeamten, die zwischen 1960 und 1965 im Dienst ermordet wurden, starben lediglich zehn nicht unter Gangster-Geschossen.

»Keiner Person sollte gestattet werden, eine Waffe zu tragen«, forderte deshalb der Kriminologe Norval Morris von der Universität Chicago, »wenn er nicht tatsächlich eine braucht.« Zwei Drittel aller US-Bürger sprachen sich für ein Gesetz aus, »das vor dem Waffenkauf eine Polizeierlaubnis« fordert.

Denn besonders Amerikas Jugend ist durch die lockeren Waffengewohnheiten gefährdet. Jeder sechste amerikanische Jugendliche steht als Angeklagter vor Gericht, bevor er 18 Jahre alt ist. »Die Familien sind auseinandergefallen«, erklärte Detroits Polizeichef Ray Girardin, »und niemand ist mehr da, der Moral und Anstand predigen kann.«

Der Mörder Richard Speck, der im Juli letzten Jahres acht Schwestern-Schülerinnen in Chicago umbrachte, war 25 Jahre alt. Student Charles Whitman erschoß in der texanischen Universitätsstadt Austin mit einem Gewehr 16 Menschen -- auch er war 25. Und im November letzten Jahres stürmte Robert Smith, 18, in Mesa (Arizona) in einen Frisiersalon. Er ermordete vier ihm unbekannte Frauen und ein Kleinkind. 37 Prozent aller US-Mörder waren 25 Jahre und jünger.

Oft sind die jugendlichen Kriminellen Sprößlinge jener Familien, die in Amerikas Slums ein trauriges Leben fristen. »Als ich hierher zog«, erklärte ein 14jähriger Junge im New Yorker Negerviertel Harlem der Johnson-Kommission, »war es wirklich schlimm. Aber ich habe mich daran gewöhnt, daß hier Menschen erschossen, erschlagen oder erstochen werden.« Amerikas Regierung steht der steigenden Kriminalität fast hilflos gegenüber. Ihr »Kampf gegen die Armut« (und damit auch gegen das Verbrechen) ist durch den Vietnam-Krieg nahezu eingeschlafen.

In den Farbigen-Gettos von New York, Chicago und Los Angeles hocken die Bewohner immer noch vor ihren schmutzigen Häusern, ohne Arbeit und Hoffnung, voller Haß. Sie betrinken sich mit billigem Fusel, streiten sich mit ihren Nachbarn, überfallen, rauben und morden.

Obwohl lediglich elf Prozent der amerikanischen Bevölkerung Farbige sind, töten Amerikas Neger am meisten, sterben sie am häufigsten durch Gewalt: Mehr als die Hälfte aller Mörder und Mordopfer der USA haben dunkle Haut. Aber nur selten bringt ein Schwarzer einen Weißen um.

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