CSSR Pläne schmieden
Ein »paar Schiffbrüchige« sind Problem Nummer eins der tschechoslowakischen Regierung. Sie sind Überlebende des Prager Frühlings: die Unterzeichner der Menschenrechtcharta 77.
Mit den »paar Schiffbrüchigen und Selbsterkorenen, in Wirklichkeit aber Agenten des Imperialismus«, schrieb noch am vorletzten Mittwoch die Prager Parteizeitung »Rudé právo« grimmig, wolle man gefälligst allein fertig werden. Denn: »Die sozialistische Republik ist im Gegensatz zur bürgerlichen ein souveräner Staat, der keine Einmischung dulden wird -- weder aus London noch aus Bonn oder Wien«.
Sechs Tage später hat es sich die Prager Parteizentrale anders überlegt. Nach einem dreiwöchigen Nervenkrieg gegen die inzwischen 340 »Chartisten«, die Prags Regierung zum Einhalten der eigenen Gesetze auffordern, hat der CSSR-Botschafter in Wien, Karel Komarek. nachgefragt, ob Kanzler Kreisky noch zu seinem Wort stehe, den verfemten Bürgerrechtlern »notfalls politisches Asyl zu gewähren«.
Österreich war -- unter Bedingungen -- bereit. Nach den unrühmlichen Zwangsaussiedlungen von Solschenizyn aus der Sowjet-Union und Biermann aus der DDR fällt auch den Prager Kommunisten nichts Besseres mehr ein, als die unbequemen Kritiker mit List oder Gewalt in den Westen abzuschieben.
Vorausgegangen freilich war im eigenen Land eine Hexenjagd, die an Schärfe sogar noch die Kampagne gegen die Reformer nach der Okkupation vom August 1968 übertraf.
Mindestens 20 prominente Unterzeichner der Charta wie der Staatsrechtler JiN Hájek, CSSR-Außenminister in der Dubcek-Ära, und die Bühnenautoren Vaclav Havel und Pavel Kohout wurden über zwei Wochen lang täglich von 7 bis 22 Uhr zum Polizeiverhör bestellt.
Professoren und andere Wissenschaftler, die das Bürgerrechtspapier mit unterschrieben hatten, verloren ihren Arbeitsplatz. Zu ihnen gehört auch der ehemalige ZK-Sekretär Zdenek Mlynar, der zuletzt als Entomologe in der Käferabteilung des Prager Nationalmuseums arbeitete. Mehreren Bürgerrechtlern entzog man das Auto (wegen Rostflecken am Kotflügel) oder den Führerschein.
Kohout wurde das Telephon gesperrt und seine Wohnung auf dem Prager Burgberg gekündigt. Über ihn und Havel verbreitete die Presse in der CSSR, die Publizierung ihrer Werke im Westen werde vom »deutschen Geheimdienst BND« finanziert.
Die Partei versucht, die Bevölkerung gegen ein Schriftstück zu mobilisieren. das offiziell keiner im Lande kennen darf: Bis heute haben Fernsehen, Rundfunk oder Zeitungen in der (SSR nichts von dem Prager Bürgerrechtsdokument veröffentlicht.
Die Unterzeichner hatten Regierung und Partei zu einem »konstruktiven Dialog« darüber aufgefordert, »wie in der CSSR die Rechte der Verfassung besser eingehalten und gesichert werden können«. Nun wurden sie von den Medien zu »von westlichen Geheimdiensten und den Zionisten bezahlten Spionen und Agenten« erklärt, die »Pläne schmieden für eine neue Konterrevolution«.
Tausende von Arbeitern und Angestellten, die ihren Job nicht gefährden wollen, unterzeichneten Protestresolutionen, die ihnen vom Parteisekretär im Betrieb zusammen mit den Lohnlisten vorgelegt wurden.
Gelegentlich schoß die organisierte Entrüstung auch über das gewünschte Ziel hinaus. So verpflichteten sich Genossenschaftsbäuerinnen aus Südmähren, die »Rechtsopportunisten« auf ihre Art zu bekämpfen: Nach einer sowjetischen Methode wollen sie durch Massieren der Euter mehr Milch aus ihren Kühen herausmelken.
Arbeiter der Schokoladenfabrik Orion im Prager Vorort Modrany unterschrieben, daß sie als Antwort für die »kalten Krieger rund um die Charta 77« in Zukunft mehr Schokolade produzieren werden. In der Tradition seines Landsmanns Schwejk steht auch ein Prager Akademiker, der in »Rudé právo« schrieb: »Ich denke über die Charta 77 ebenso wie alle anständigen und aufrechten Menschen in diesem Land.«
Doch der Sturm der bestellten Proteste und Ergebenheitsadressen zeigte kaum Wirkung. Im Gegenteil: Die Zahl der Unterzeichner nahm von anfänglich 242 auf nunmehr 340 zu. Nur einer der Signatare, der an der Prager Karls-Universität beschäftigte Architekt Jiri Zaruba, distanzierte sich öffentlich von seiner Unterschrift.
Auch die Verhaftung von vier Bürgerrechtlern zu Beginn der vorletzten Woche konnte den Widerstand nicht brechen. Um die Verbindung mit der Charta 77 zu verschleiern, steckte die Regierung die Unterzeichner Havel und den ehemaligen Fernsehjournalisten Jiri Lederer sowie zwei weitere Künstler ins Gefängnis, die das Dokument gar nicht unterschrieben hatten: Regisseur Ota Ornest, dem die Polizei Spionage vorwirft, und Frantisek Pavlicek, bis 1968 Direktor des Prager Vinohrady-Theaters.
Doch die Proteste gegen Prager Polizeimethoden kommen nicht nur von Bürgerrechtlern, sondern zunehmend auch von -- ausländischen -- Genossen.
Nach der italienischen und britischen KP haben sich nun auch die Kommunisten in Frankreich kritisch zu Wort gemeldet. Am vorigen Dienstag schrieb die Parteizeitung »Humanité": »Wir können unsere Bestürzung über die Beschuldigung der CSSR-Behörden nicht verschweigen, wonach die Unterzeichner der »Charta 77' auf Befehl antikommunistischer und zionistischer Zentren handeln sollen.«
Selbst das ferne Peking würdigte die Bürgerresolution als ein Zeichen dafür, »daß der Kampf gegen die sowjetische Besetzung und für die Freiheit und demokratischen Rechte in der CSSR wiederauflebt«.
Im benachbarten Ungarn erklärten sich 30 Intellektuelle in einem Brief an Pavel Kohout mit der Forderung nach Verwirklichung der Menschenrechte solidarisch. Die Verteidigung dieser Forderungen, so der Mitunterzeichner Pal Feher, sei nicht nur eine Sache des Ostens, sondern eine »gesamteuropäische Aufgabe«.
Weil damit die Protestbewegung nach Polen, der DDR und der Sowjet-Union auf ein weiteres Land im sowjetischen Machtbereich übergreift, glaubte die Prager Parteiführung schnell handeln zu müssen.
In Wien legte der CSSR-Botschafter eine Liste mit acht Namen von führenden Bürgerrechtlern vor, die Prag nach Österreich abschieben möchte. Neben Hájek, Havel, Lederer, Kohout und Mlynár sind der ehemalige Präsident der Nationalen Front Frantisek Kriegel, der Schriftsteller Ludvik Vaculik und der ehemalige Rektor der Parteihochschule Milan Hübl aufgeführt.
Hübl bestätigte in einem Telephongespräch, daß den in der Liste Genannten vom Prager Paßamt der Antrag auf Ausreise »dringend« nahegelegt worden sei. Freiwillig ausreisen aber wolle er auf keinen Fall. Hübl zum SPIEGEL: »Hier ist unser Vaterland, das verlassen wir nicht freiwillig.«
Kohout nannte das österreichische Angebot »einen Beweis menschlicher Solidarität, das Respekt verdient«. Wichtiger aber sei es, daß der Westen gemäß der Schlußakte von Helsinki die zwangsweise Vertreibung von Menschen aus Osteuropa zu verhindern sucht.
Kanzler Kreisky blieb nur die Flucht nach vorn. Er gab seiner Botschaft in Prag strenge Anweisungen, nur denjenigen Personen Einreise-Visa zu gewähren, »die es ausdrücklich und freiwillig wünschen«.