Polen zwischen Konflikt und Kompromiß
Nur Kühe ändern ihre Meinung nicht«, sagt Andrzej Gwiazda, Streikführer der ersten Stunde in Danzig, jetzt Vize-Vorsitzender der Nationalen Verständigungskommission der Gewerkschaft »Solidarnosc«. Dann stimmt er der Meinung der Mehrheit der insgesamt 55 Mann starken Kommission zu: In Polen soll bis zum 3. Februar -- mit einigen wenigen Ausnahmen -- nicht gestreikt werden.
Wenn die Regierung aber bis Montagabend in den drei Hauptstreitfragen -- arbeitsfreie Samstage, Registrierung der »Land-Solidarität«, Zugang zu den Massenmedien für »Solidarnosc« -keine Lösungen angeboten habe, solle am Dienstag abermals landesweit ein einstündiger Generalstreik stattfinden.
Das beschloß die Kommission in Beratungen letzte Woche: am Mittwoch im Danziger Hotel Morski, am Donnerstag im besetzten Gewerkschaftshaus von Rzeszow in Südostpolen.
Der große Konflikt zwischen dem mürben kommunistischen System Polens und der dynamischen neuen Gewerkschaft »Solidarität«, der seit vorigem Sommer schon oft einem dramatischen Höhepunkt zustrebte, lief wieder einmal in Richtung Konfrontation.
Irgendwann, so schien es, mußte die angeschlagene Staatspartei bei ihrem Rückzug vor den immer neuen Forderungen der Arbeiter und Bauern an einen Punkt gelangen, wo es weiter zurück nicht ging. Hart klang es aus der Parteizentrale, die Gewerkschaft wolle im Grunde die »politische Revolte«, dagegen müßten die notwendigen Maßnahmen ergriffen, das Danziger Abkommen, Basis des brüchigen Friedens seit dem Sommer, eventuell revidiert werden.
Die Gewerkschaftsspitze ist ihrerseits noch mißtrauischer gegenüber staatlichen Versprechen geworden -- und militanter.
Als die Vertreter der Solidarnosc-Regionalverbände vor rund vier Monaten erstmals zusammenkamen, hatten die meisten von ihnen keinerlei Erfahrung, wie man ein Gewerkschaftskomitee organisiert. Inzwischen aber, meinen Sachkenner aus der aufblühenden Gewerkschaftspresse, sind sie eingearbeitet und auch noch so beliebt, daß die meisten von ihnen bei den regionalen Gewerkschaftswahlen am 10. März wiedergewählt werden dürften -- und ihr Vorsitzender Lech Walesa selbstverständlich auch.
Die zeitweilige Teilung in Radikale und Gemäßigte ist durch die erneute politische Verschärfung wieder zurückgegangen, obschon die Regierung alles tut, sie zu schüren. So im Fall des Solidarnosc-Führers im schlesischen Jastrzebie, Jaroslaw Sienkiewicz.
Ihm wurde von einigen seiner Kollegen vorgeworfen, mit den Sicherheitsorganen kooperiert zu haben. Prompt berichtete Parteiblatt »Trybuna ludu« am Donnerstag ausführlich über einen Sienkiewicz-Brief zur Selbstverteidigung. Der Autor aber, Parteimitglied, nimmt an den Sitzungen der Nationalkommission der Gewerkschaft gar nicht mehr teil und will angeblich die »Solidarität« verlassen. S.103
So scheint denn die Partei-Taktik des »divide et impera« fehlgeschlagen, die Standpunkte der Komissionsmitglieder sind einander eher nähergerückt.
Der ur-radikale KOR-Dissident Jacek Kuron etwa hatte vor drei Wochen im Streit um die freien Samstage einen beschwichtigenden Vorschlag vorgetragen und war überstimmt worden. Kuron nimmt aber ohnehin eine Sonderstellung ein. Wichtigere Wortführer sind derzeit sein alter Freund und Mitunterzeichner des berühmten »Offenen Briefes an die Partei« von 1964, der Breslauer Historiker Karol Modzelewski, und sein Fachkollege aus Warschau, Boleslaw Geremek, beides führende »Experten«, die bei der Gewerkschaftsgründung beratend mitwirkten. Sie leiten jetzt die Diskussionen, fassen zusammen, formulieren die Beschlüsse.
Lech Walesa hält sich als Vorsitzender neuerdings zurück -- wohl weniger, weil seine Linie der Mehrheit seiner Kollegen zu weich wäre, sondern eher deshalb, weil er im Ruf steht, zu oft spontane und leichtsinnig einsame Entschlüsse zu fassen.
So kam er vorigen Dienstag nach Rzeszow, ließ sich von der Atmosphäre begeistern und versprach, daß die am Ort tagende Nationalkommission in Rzeszow bleiben werde, bis die Regierung ein Danziger Abkommen auch für die Bauern unterzeichnet habe.
Es bedurfte einer langen Diskussion am Donnerstag, damit klar wurde, daß dies für die Nationalkommission völliger Unsinn wäre. Vorerst blieben dann nur der Danziger Bogdan Lis und einige untergeordnete Vertreter der Regionen im Süden.
Offenkundig hat die ganze Nationalkommission in den letzten Wochen eine schärfere Gangart eingeschlagen. Ryszard Kalinowski aus Elblag, mit 27 Jahren zweiter Vize-Vorsitzender: »Im September glaubte ich wirklich, daß die Regierung bereit sei, ihre Versprechen in den Abkommen zu erfüllen. Jetzt glaube ich nur an den Knüppel.«
Laut Solidarnosc hat die Regierung ganze zwei der 21 Punkte des Danziger Abkommens erfüllt, die Regierung beteuert, es seien 16. Gewerkschaftsberater Professor Geremek: »Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen, aber näher an zwei.«
Stanislaw Ciosek, Minister für Gewerkschaftsfragen, der am Donnerstag als »Beobachter« in Rzeszow anwesend war, beklagte sich, die Regierung könne nicht mit der Pistole am Kopf verhandeln. Daraufhin antwortete Gewerkschafts-Ratgeber Modzelewski mit dem Hinweis, daß jetzt die Basis der Bewegung am radikalsten sei: Streiks gehen weiter -- trotz aller Appelle der Kommission, sie einzustellen.
In Bielsko-Biala (Bielitz) wuchs sich der Protest fast zum Generalstreik aus, es ging um den Kopf des Ersten Parteisekretärs. In Rzeszow selbst streikten sieben der wichtigsten Betriebe, einschließlich der Druckerei -- die Parteizeitung erschien deshalb nicht am Tag der Kommissions-Zusammenkunft. In Bialystok wurde gestreikt, weil unbekannte Personen einen Solidarnosc-Aktivisten verprügelt und sogar versucht hatten, ihn zu verbrennen. Die lokale Gewerkschaft beschuldigte die Sicherheitsorgane der Tat.
Die staatlichen Medien aber suchten die Lage noch anzuheizen, etwa durch ausführliche Berichterstattung über mysteriöse Waldbrände. Am Mittwoch machte die Fernsehtagesschau einen vieldeutigen Unterschied zwischen der »vernünftigen« Nationalkommission und »einigen Lokalgewerkschaften«.
Danzigs Gewerkschafter Gwiazda fragte dagegen: »Gibt es irgendeine Chance, daß Solidarnosc irgendetwas gewinnen könnte ohne Streik oder Streikdrohungen?«
Eine rhetorische Frage. Die Staatsführung hat in den vergangenen fünf Monaten überhaupt nichts preisgegeben, ohne dazu gezwungen zu werden -- ob Registrierung der Gewerkschaft oder Freilassung des Druckers Narozniak (jetzt arbeitet er an der Rzeszower Streikzeitung mit) oder aber zwei arbeitsfreie Samstage im Monat.
Diese bereits anerkannte Arbeitszeitverkürzung genehmigte die Regierung -- taktisch eher provokant -- vier Tage vor Einführung ohne öffentliche Diskussion, ohne breite Information im Dezember.
Damit war der fragile Burgfrieden der Weihnachtszeit vorbei. So geht es jetzt denn mehr um den autoritären Regierungsstil als um das Thema selbst, die Arbeitszeit. »Dialog -- Ja, Monolog -- Nein!« mahnt ein Plakat im Warschauer Solidarnosc-Hauptquartier.
Solidarnosc war auch am Dienstag, dem 20. Januar, zum Dialog bereit, wahrscheinlich auch auf die Kompromißlösung, eine 41 1/2-Stunden-Woche (also ein Samstag pro Monat), eingestellt. Am Mittwoch jedoch zeigten sich die Regierungsvertreter stur -- und ernteten eine der größen Streikwellen seit August.
War das nur die gewohnte Unfähigkeit, eine freie Gewerkschaft als ständigen Partner im Entscheidungsprozeß hinzunehmen? Vieles spricht dafür, daß der führende Vertreter der harten Linie in der Staatspartei, Politbüromitglied S.104 Stefan Olszowski, schon seit Anfang Dezember einen Konfrontationskurs steuern wollte: Er zum Beispiel bewirkte das Verbot einer öffentlichen Vorführung des Streikfilms »Arbeiter 80«.
Seine Reden sind seitdem noch kompromißloser geworden, während der als kompromißbereit geltende Parteiführer Kania sogar in der heißen Frage arbeitsfreie Samstage Fehler der Partei einräumte. Olszowski ist der Hauptverantwortliche für die Propaganda-Kampagne gegen weniger Arbeitszeit.
Vorige Woche bot der reformfreundliche Danziger Parteisekretär Tadeusz Fiszbach seinen Rücktritt an. Er wurde -- erwartungsgemäß -- nicht angenommen, wodurch Fiszbachs Position gestärkt erschien, ein erprobter coup de theatre in der polnischen Politik.
Vize-Premier Jagielski, wie Fiszbach ein Architekt der Danziger Abkommen, meldete sich vorige Woche krank.
Reformfreundlich führte sich plötzlich auch der National-Stalinist Mieczyslaw Moczar auf -- er gab sich vor seinem Veteranenverband gemäßigter, verständnisvoller, staatsmännischer als je zuvor und rügte jene, »die einfach die neuen Zeiten und neuen Aufgaben nicht verstehen«. Sein Plädoyer wurde in der Warschauer Parteizeitung »Zycie Warszawy« gleich neben Artikeln von den profilierten Parteiliberalen Mieczislaw Rakowski und Stefan Bratkowski, dem neuen Sekretär des Journalisten-Verbandes, abgedruckt.
Die Regierung drohte derweil mit »unabwendbaren Maßnahmen« zur »Normalisierung« der Produktion und kaum verhüllt mit Ausrufung des nationalen Notstands und rief unverdrossen zur Disziplin. Die Gewerkschaft proklamierte bereits eine neuerliche gesamtpolnische Arbeitsniederlegung am 18. Februar.
Da kam es, nach zwölfstündigen Beratungen in der Nacht zum Samstag, doch noch einmal zu einem Teilkompromiß. Die Regierung gestand zu, daß im Prinzip alle Samstage arbeitsfrei sein sollten, die Gewerkschaft, daß mit Rücksicht auf die Wirtschaftslage 1981 noch an je einem Samstag im Monat gearbeitet werde. Ferner versprach die Regierung der Gewerkschaft einmal wöchentlich Sendezeit in Funk und Fernsehen.
In der Frage aber, ob eine »Land-Solidarität« zugelassen werden solle, konnten sich die Kontrahenten wieder nicht einigen, darüber soll am 10. Februar das Oberste Gericht entscheiden, das diese heiße Frage schon einmal vertagt hatte. So könnte es sein, daß Mitte Februar doch wieder alle Räder still stehen -- eine Woche vor dem Parteitag der KPdSU.
Vorwahlen für Delegierte des polnischen Parteitags im April finden bereits statt, in einigen Betrieben nach einem neuen, demokratischen Verfahren. Die neue Wahlordnung bestimmte mancherorts, so in Elblag, das örtliche Komitee der Gewerkschaft Solidarität.