»Politik der verbrannten Erde«
Scheiße, jetzt reicht''s.« Militärstaatsanwalt Erwin Blanco verlor die seiner Uniform angemessene Haltung und schlug mit der Faust auf den Tisch. Die von schweren Brandnarben entstellte Schülerin Carmen Gloria Quintana weigerte sich schon wieder, das Gerichtsprotokoll zu unterschreiben.
Längst hätte sie in ihr kanadisches Krankenhaus zurückreisen sollen, um ihre Verletzungen weiterbehandeln zu lassen. Doch trotz Schikanen des Militärtribunals bestand sie darauf, ihren Beitrag zur Wahrheitsfindung zu leisten.
»Wie lange wirst du noch lügen?« fragte Carmen den inzwischen zum Hauptmann beförderten Pedro Fernandez Dittus vor Gericht. Der hatte sie und den Photographen Rodrigo Rojas vor einem Jahr mit Benzin übergießen und anzünden lassen. Rodrigo starb, Carmen klagt an: »Die Wahrheit geht weit über das menschlich Vorstellbare hinaus. »
Auch die Folgen des Verbrechens gingen weit über das hinaus, was ein sadistischer junger Offizier sich vorzustellen vermag. Denn Rodrigo Rojas'' Familie wohnte in Washington. Deshalb protestierten die USA, und Carmen wurde weltberühmt - sogar der Papst umarmte sie bei seinem Besuch in Chile.
Doch Chiles Diktator Augusto Pinochet nimmt solche Stürme internationaler Entrüstung hin, ohne von seinem Kurs abzuweichen. Angriffe auf sein Regime betrachtet er grundsätzlich als das Werk des Weltkommunismus und läßt sie an sich abgleiten: »Ich sehe die Sache von oben, weil Gott mich hier hingesetzt hat«, rechtfertigt er seinen Anspruch auf die absolute Macht.
Das Regime in Chile, seit einer Woche Konfliktstoff der Bonner Koalition, ist eine schwer zu analysierende Mischung von brutaler Repression gegen einzelne und vergleichsweise liberaler Behandlung politischer Gruppen, ausgenommen die Kommunisten und solche, die man dafür hält. Eines aber ist völlig klar: Es handelt sich um die Gewaltherrschaft eines einzelnen. Während in Argentinien oder Brasilien die Militärs als Kollektiv regierten, hat Pinochet in Chile das Heer zum Instrument seiner Alleinherrschaft gemacht.
»Chile ist die Verbindung von zwei Diktaturen«, so der Politologe Manuel Antonio Garreton, »einer persönlichen und einer militärischen.« Der General hat den einst demokratischen Staat abgeschafft und sich die lange wegen ihrer Verfassungstreue bewunderten Streitkräfte angeeignet - in seinem Spiel gibt es neben dem König nur Bauern.
Der Putsch gegen den marxistischen Präsidenten Salvador Allende am 11. September 1973 war noch das Werk eines Kollegiums von Generälen gewesen, die zudem auf die Unterstützung eines Teils der Bevölkerung zählen
konnten. Denn die Militärs verkündeten als ihr Ziel, sie wollten die Verfassung, die Allendes Volksfrontregierung in ihren Augen verletzt hatte, wieder zur Grundlage des Staates machen.
Obwohl sie immer wieder eine Rückkehr zur Demokratie versprachen, gingen die Militärs daran, den gesamten Staatsapparat zu erobern. Ob im Bergbau oder in der Luftfahrt - bald saßen Obristen in den Chefetagen aller staatlichen Betriebe. Immer mehr Offiziere wurden Provinzgouverneure - heute sind es 84 Prozent.
Pinochet verachtet Politiker als Schwätzer und hat deshalb nie wie andere Diktatoren versucht, sich eine Staatspartei zu schaffen - die Militärs füllen die Lücke. Sie verdanken dem Chef Rang und Pfründe.
In seiner Machtvollkommenheit gleicht Pinochet durchaus dem früheren nicaraguanischen Diktator Anastasio Somoza, der wie ein Feudalherr über Land und Heer herrschte. »Trotzdem ist das chilenische Heer keine mittelamerikanische Bande«, urteilt der chilenische Politologe Genaro Arriagada, »es ist immer noch hierarchisch, diszipliniert, aber entsetzlich grausam.«
»Folter scheint von Anfang an Routine gewesen zu sein im Chile des Generals Pinochet«, schrieb die »Washington Post«.
»Politik der verbrannten Erde« nennt die US-Menschenrechtsorganisation »Americas Watch« die ersten Jahre Pinochets. 664 »Verschwundene« zählt das Solidaritäts-Vikariat der katholischen Kirche für die Jahre zwischen 1973 und 1977. Häftlinge wurden aus den Gefängnissen geholt, erschossen und an geheimen Orten begraben oder aus Hubschraubern ins Meer geworfen.
Gegen Ende der 70er Jahre schien die Brutalität der Sicherheitsorgane nachzulassen, denn die aktivsten Oppositionellen waren inzwischen getötet worden oder ins Exil geflohen. Gleichzeitig verführte ein vorübergehender Wirtschaftsboom einen großen Teil der Bevölkerung dazu, das Regime gar nicht so übel zu finden. So erklärt sich Pinochets Triumph von 1980: Durch Plebiszit ließ er eine maßgeschneiderte neue Verfassung für eine sogenannte geschützte Demokratie bestätigen. 67 Prozent der Chilenen stimmten für ihn.
Doch nur zwei Jahre später kam die Krise: Die strikte Anwendung der Dogmen des Monetarismus-Papstes Milton Friedman hatte der chilenischen Mittelklasse zwar kurzfristigen Wohlstand beschert, aber durch hemmungslose Importe die einheimische Industrie ruiniert. Die Chilenen hungerten, über 20 Prozent waren ohne Arbeit.
In dieser Lage rief ein bis dahin unbekannter Gewerkschafter, Rodolfo Seguel, zunächst die Kumpels in den Kupferminen zum Streik, dann die gesamte Bevölkerung zum Protest auf. Nach Jahren ängstlichen Schweigens zogen nun Monat für Monat Demonstranten mit dem Kriegsruf »Y vaacaer« (Und er wird fallen) durch die Straßen, um mit ohrenbetäubendem Getrommel auf leere Kochtöpfe ihr Elend kundzutun. Nachts versperrten Barrikaden den Zugang zu den Elendsvierteln und schufen so die Illusion befreiter Gebiete.
Die Chilenen schienen plötzlich die Sprache wiedergefunden zu haben. Sie wagten es, öffentlich über Politik zu reden oder Polizisten lauthals als »Mörder« zu beschimpfen.
Das veranlaßte den Diktator, wieder einen schärferen Kurs einzuschlagen. Zwischen 1984 und 1986 erreichte der staatliche Terror einen traurigen Höhepunkt: Insgesamt 218 Tote, 17624 Verhaftungen und 293 Folteranzeigen führen die Menschenrechtsberichte der Uno, des Internationalen Roten Kreuzes und des Solidaritäts-Vikariats auf.
Amnesty International beklagte eine »neue Terrorstrategie der Sicherheitskräfte«, die sich mehr und mehr rechtsextremer Banden bedienen, um Mitarbeiter der Kirche, Menschenrechtler, Bewohner der Elendsviertel und Oppositionelle zu entführen, zu foltern und umzubringen.
Gegen demonstrierende Slumbewohner ließ Pinochet wiederholt die reguläre Armee vorgehen. Mit geschwärzten Gesichtern - damit niemand gegen sie zeugen kann - marschierten die Soldaten in die Elendsviertel ein und schossen wahllos in die Holzhütten. Frauen, Kinder und ein Priester, der Franzose Andre Jarlan, starben dabei. Hubschrauber donnerten im Tiefflug über die Dächer
und feuerten aus ihren Maschinengewehren.
Nach einem fehlgeschlagenen Attentat gegen Pinochet im letzten September verhängte der Diktator den Belagerungszustand. Vier Mitglieder linker Gruppen wurden wenige Stunden nach dem Anschlag verschleppt und getötet. Razzien in Arbeitervierteln führten zu 189 Verhaftungen.
Die Verfahren gegen politische Straftaten laufen vor Militärgerichten, Richter und Staatsanwälte ernennt das Militär. Die Verteidiger haben meist keinen Einblick in die Ermittlungsakten und keinen Kontakt zu ihren Mandanten.
Anwälte, die politische Gefangene verteidigen, laufen Gefahr, selbst als Komplizen von Terroristen verfolgt zu werden. So wurde Gustavo Villalobos, Verteidiger aus dem Solidaritäts-Vikariat, selbst »wegen Unterstützung einer bewaffneten Gruppe« vor Gericht gestellt, weil er einem geflohenen Häftling Rechtsbeistand leistete.
Vor den Militärgerichten haben die Berichte der Geheimpolizei CNI, die ihre Delinquenten unter Folter zu verhören pflegt, volle Beweiskraft. Sogar für Todesurteile genügen solche Indizien. Seit 1973 wurde das Todesurteil allerdings nur zweimal vollstreckt - an Polizisten. Die hatten aber nicht etwa Gefangene gefoltert, sondern waren Raubmörder.
Die CNI quält ihre Opfer nach ausgeklügelten Methoden, die oft gerade so weit gehen, daß der Gefangene nicht stirbt: Elektroschocks, Untertauchen in Wasser oder in Exkremente. Frauen werden oft vergewaltigt, ihre Geschlechtsteile verstümmelt. Als der Arzt Pedro Marin solche Praktiken anprangerte, wurde er festgenommen und gefoltert, sein Haus ausgeraubt und zerstört - alles unter dem Vorwand, daß er eine Terrororganisation unterstütze.
Obwohl Menschenrechtsorganisationen in Chile Dutzende solcher Verbrechen dokumentierten, haben die Gerichte bisher kein einziges Mitglied der Sicherheitskräfte wegen Folterung politischer Häftlinge oder Mordes verurteilt.
Der Untersuchungsrichter Jose Canovas hatte 1985 gegen neun Polizeioffiziere Anklage erhoben, weil er sie für schuldig hielt, drei Kommunisten ermordet zu haben. Doch das Oberste Gericht zwang ihn, das Verfahren einzustellen.
Sein Kollege Carlos Cerda wurde sogar zeitweilig seines Amtes enthoben, weil er gewagt hatte, gegen 40 Angehörige der Sicherheitskräfte weiterzuermitteln, obwohl die Regierung ihnen Amnestie gewährt hatte.
Diktator Pinochet hat sich die Jahre über bemüht, seinem Militärregime einen Anstrich von Legalität zu geben. Um das Image Chiles im Ausland zu verbessern, ließ er der politischen Opposition vergleichsweise viel Meinungsfreiheit - mehr als etwa das sandinistische Nicaragua, von Castros Kuba nicht zu reden. Dafür sind so schwere Menschenrechtsverletzungen aus diesen linken Regimen Lateinamerikas nicht bekannt.
Während des Belagerungszustands von November 1984 bis Juni 1985 und von September 1986 bis kurz vor dem Papstbesuch in diesem Frühjahr war die Presse zensiert, die Oppositionspresse durfte überhaupt nicht erscheinen. Die Redaktionen überbrückten das Verbot, indem sie ihre Artikel per Post an die Abonnenten versandten.
Die Vorzensur wurde nach Ende des Kriegsrechts wieder abgeschafft, oppositionelle Journalisten laufen aber ständig Gefahr, wegen ihrer Texte angeklagt zu werden - die Strafen wiederum wirken oft halbherzig. So muß der Chefredakteur des Magazins »Analisis«, Juan Pablo Cardenas, derzeit jede Nacht in Haft verbringen, 541 Nächte hintereinander. Tagsüber ist er frei. Aber: Der Leiter des Auslandsressorts von »Analisis«, Jose Carrasco, wurde nach dem Attentat auf Pinochet ermordet.
Immerhin gibt es im ganzen mehr Pressefreiheit als etwa im burischen Südafrika - aber sie hat angesichts der Macht der Militärs keine Konsequenzen.
In der gleichen Zeit, da Pinochet die Repression verschärfte, machte er den demokratischen Oppositionsparteien ein taktisches Angebot zum Dialog- und nahm damit den Kritikern im Ausland einigen Wind aus den Segeln. Kurz vor dem Papstbesuch verabschiedeten die Militärs sogar ein Gesetz, das erstmals seit dem Putsch vor 14 Jahren Parteien legalisieren soll. Bedingung: Sie müssen die Verfassung von 1980 gutheißen und dürfen nicht marxistisch sein.
Über diese beiden Punkte ist die Opposition tief gespalten: Die Mitte-Rechts-Vereinigung »Nationale Übereinkunft« unter Führung der Christdemokraten ist bereit, die Verfassung anzuerkennen, und distanziert sich von den Marxisten der »Vereinigten Linken«, die eine Legalität unter solchen Auflagen verweigert - die Uneinigkeit der Opposition gegenüber Pinochet ist eine der Stützen des Regimes.
Seit Jahren schon rufen die Oppositionellen zwar vereint »Y vaacaer«, doch der Parteienhader scheint stärker als der Wunsch, Pinochet loszuwerden. »Das Militärregime kann nicht gestürzt werden«, folgerte deshalb der chilenische Politologe Jose Joaquin Bruner.
General Pinochet hält sich noch immer für einen Auserwählten, getrieben von der Obsession, er müsse Chile vor dem Kommunismus bewahren. »Das Volk betete um Errettung«, meinte Pinochet ein Jahr nach dem Putsch, »heute fühlt es sich frei und bewahrt vor dem Bösen.« Vergangenen Herbst pries er sich den Chilenen erneut an: »Ich oder das Chaos.«
In zwei Jahren soll das Volk per Plebiszit einen von den Oberkommandierenden der Streitkräfte ernannten Nachfolge-Kandidaten gutheißen oder ablehnen, so bestimmt es die Verfassung. Niemand zweifelt ernsthaft, daß Pinochet, dann 73, selbst kandidieren will.
Nach wie vor behandelt der Diktator linke Gegner nach seinem altbewährten Rezept: Hinrichtung ohne Prozeß. Am 16. Juni starben zwölf Oppositionelle bei Razzien der Geheimpolizei. _(Chilenische Mütter, die nach ) _(verschollenen Angehörigen forschen. )
Chilenische Mütter, die nach verschollenen Angehörigen forschen.