»Politik ist eine feine Nadelarbeit«
Über die Wahl des neuen Hamburger Bürgermeisters Klaus von Dohnanyi haben die Hamburger Lokalzeitungen im Stil der amerikanischen Weltraumbehörde Nasa berichtet: Als sei da einer in eine Erdumlaufbahn geschossen worden. Gewählt: 16.44 Uhr am Mittwoch vergangener Woche. Erste offizielle Erklärung: 16.46 Uhr. Erste Unterschrift: 16.53 Uhr.
Es mag sein, daß der Job an der Elbe neuerdings als Himmelfahrtskommando betrachtet wird. Doch konnte auch das unbewußte Bedürfnis der Berichterstatter durchgebrochen sein, endlich einmal einen Mann in den Griff zu bekommen, den seine Genossen gern unfreiwillig enthüllend als »imponierende Erscheinung« beschreiben.
Eindeutigkeit über die Erscheinung hinaus herzustellen, und sei es nur für einen Augenblick, ist kein leichtes Unterfangen bei Klaus von Dohnanyi. Denn zu seiner Charakterisierung bieten sich auch nach 13 Jahren Politik in vorderster Bonner Reihe eher nichtssagend plakative Aufkleber an, wie »der rosarote Edelmann« oder »Genosse Nadelstreifen« -- Kennzeichnungen, die der Figur kaum feste Umrisse verleihen.
Vielmehr verbindet sich Widersprüchliches zu einem schillernden Glanz. Er ist Sozialdemokrat, gewiß, aber was für einer? Links? Rechts? Er versteht es, Brandt-Argumente im Schmidt-Tonfall vorzutragen.
Mal ist er Technologe, mal Künstler. Ein Großbürger mit Adelstitel und einer unerwiderten Liebe zur Boheme. Ein Weltmann mit Gemüsegarten. Ein Spinner, der Wähler gewinnt und diszipliniert und hart arbeitet. Ein Macher, der Bücher verschlingt. Ein vorsichtiger Opportunist, der eigenmächtig in Brüssel über Milliarden entscheidet und den Rausschmiß aus dem Kabinett riskiert. Ein pingeliger Phantast. Ein wortreicher Nichtssager.
Immer sind über seine Herkunft und Zukunft mehr Worte verschwendet worden als über seine jeweilige Gegenwart. Die ist immer sonderbar unpräzise und verwischt geblieben.
Er stellt diesen Schleier selbst her, durch Beweglichkeit und seine beharrliche Weigerung, sich irgendwo ganz einzulassen. Und reden mag er über seinen Standpunkt nicht nur »irrsinnig ungern«, sondern in Wahrheit gar nicht.
Der letzte Tag vor der Hamburger Wahl ist typisch. Am Rande einer Fraktionssitzung, an der er nebenher S.23 auch noch teilnimmt, berichtet er über seinen übrigen Tagesablauf: Verhandlungen mit EG-Außenministerkollegen in Luxemburg am Morgen, abends Treffen mit Genossen aus Rheinland-Pfalz, daneben Vorbereitung seiner Rede für die Hamburger Bürgerschaft und privat eine Geburtstagsfeier, seine eigene.
Natürlich bringen seine Aufgaben das so mit sich: Staatsminister im Bonner AA, Abgeordneter, Landesvorsitzender der SPD in Mainz, designierter Bürgermeister in Hamburg, Ehemann und Familienvater. Aber es scheint wohl eher richtig, daß einer wie er solche Vielfalt anzieht.
Stets ist Klaus von Dohnanyi im Gespräch, wenn Posten zu vergeben sind: als deutscher Kandidat für das EG-Kommissariat in Brüssel, als Geschäftsführer in der SPD-Baracke, als Nachfolger für Hans Apel im Verteidigungsministerium und dann eben als Nachfolger für Hans-Ulrich Klose.
Dabei wirkt er keineswegs überfordert. Breit und lässig über zwei Stühle verteilt, demonstriert er eine Gelassenheit, die zwar gemacht wirkt, aber dennoch glaubhaft ist. »Man wird älter, reifer, erwachsener«, versichert er. Ungeduld? Höchstens im Kopf, da denkt er oft so weit voraus, daß er kaum noch anwesend erscheint. Mitten im Gespräch kann er sich verflüchtigen.
Das mag wie Arroganz wirken, glaubt er und will damit einem gängigen Urteil über sich zuvorkommen.
Als Arroganz erscheint aber eher die Sicherheit seiner Form, vom Anzug mit Weste bis zur Rede mit Girlande, der selbstbewußte Anspruch auf eine vererbte und anerzogene Einzigartigkeit. Daß er eine Rarität sei in der politischen Landschaft der Bundesrepublik, ein Allroundpolitiker, einer, der tiefer schürft als andere, wacher auf der Höhe des jeweils angesprochenen Problems ist -- das sind alles Charakterisierungen, die er selbst über sich in die Welt gesetzt hat.
Anteil an diesem Selbstbewußtsein und dieser Selbstsicherheit in der Darstellung hat seine Frau Christa, eine Psychotherapeutin, haben seine Herkunft und seine Familie. Die Tradition seines aus Ungarn stammenden Vaterhauses, die glanzvolle künstlerische, die ehrenvolle politische Vergangenheit der Dohnanyis -- die von Kaiser Leopold geadelt wurden -- ist wohl auch kaum zu unterschätzen. Großvater Ernst war gefeierter Pianist und Komponist in Budapest und Berlin, Argentinien und den USA.
Genauso wichtig aber mag sein, daß Klaus Karl Anton von Dohnanyi nicht Teil ist jener vaterlosen Gesellschaft, die heute in Bonn und in den Ländern regiert.
Seine Kindheitsideale sind nicht gebrochen. »Es ist mir nie unklar geblieben, wo mein Vater stand und wogegen er stand.« Wofür Vater Hans von Dohnanyi dann -- wie zwei Brüder seiner Mutter, Klaus und Dietrich Bonhoeffer -- auch von den Nazis ermordet wurde.
In dem Bewußtsein, immer auf der richtigen Seite gestanden zu haben, ist Klaus von Dohnanyi herangewachsen. Das hat wohl auch die Freundschaft zu Willy Brandt begründet.
Daß sich auch seine intellektuellen Fähigkeiten sehen lassen können, ist ihm in einer spektakulären akademischen und beruflichen Laufbahn bestätigt worden. Nach nur fünf Semestern Jura-Examen mit Auszeichnung, später ein Stipendium an der Elite-Universität Yale, dann eine zunächst Achtung, später auch Geld bringende Karriere in der Wirtschaft.
Woher sollen einem da Zweifel kommen an sich selbst? Moral und Vernunft sieht er auf seiner Seite, durch Nachdenken erscheint ihm, daß auch die Sozialdemokraten diesen Gewinnposten vorzuweisen haben. 1957 tritt er in die SPD ein, die den anderen Parteien ein Konto des Rechthabens voraushatte.
Nach Basisarbeit in Schwabing betritt er 1968 die Bonner Bühne. Kaum je ist einer so fertig vorgeprägt dort erschienen. Seine Beurteilung als Überflieger und steiler Aufsteiger trägt ihn schnell in hohe Ämter. Seine Freunde sehen in ihm einen künftigen Bundeskanzler, einen »kleinen Kennedy« ("Capital"). Dieser Ruf hält sich jahrelang hartnäckig, obwohl die Wirklichkeit Zweifel nahelegt.
Zum Auftakt ist er schon in Hessen, von Georg August Zinn als Justizminister nominiert, in der Fraktion glatt durchgefallen. Statt dessen geht er als Staatssekretär Karl Schillers ins Bonner Wirtschaftsministerium. Er war Schillers dritte Wahl.
Als Bildungsminister tritt er mit dem Ruf des Lückenbüßers an -- nachdem Erhard Eppler und Horst Ehmke abgewunken haben. Zu dieser Zeit ist im Bildungsbereich die Reform-Begeisterung der Sozialliberalen längst verflogen. Von Dohnanyi wird in diesem Amt unter Wert gehandelt, was ihn noch heute wurmt.
Aber trotz aller Rückschläge gilt der ideenreiche, wortgewandte Minister noch immer als kreative Potenz. Er selbst sieht sich auch noch so, als Helmut Schmidt ihn 1974 nicht mehr in S.24 sein Kabinett aufnimmt. Das spricht, so läßt der Enttäuschte durchblicken, eher gegen Schmidt als gegen ihn.
Erst als zwei Jahre später auch die Genossen in Rheinland-Pfalz ihn mittels einer miesen Intrige auf den aussichtslos scheinenden 13. Platz der Landesliste für den Bundestag verbannen, wickelt sich ein ziemlich angeschlagener Mensch aus dem Deckmantel der Klischees mit dem selbstgestrickten Erfolgsmuster.
Da hat er seine Krise, von Dohnanyi verbirgt es nicht. Er hat sie auch nicht vergessen, als er -- trotzdem wiedergewählt -- 1976 von Schmidt zum Staatsminister im Auswärtigen Amt berufen wird. Noch heute ist er den Genossen gram, über »den leichtfertigen Umgang mit dem Lebensschicksal anderer«.
Der neue Bürgermeister bestreitet zwar, daß er sich seither geändert habe, aber Vokabeln wie »menschliches Glück«, »Schmerz«, »Gerechtigkeit« und »Fehlerhaftigkeit« tauchen jetzt in seinen Reden häufiger auf.
Formulierungen, etwa wie er sie zur Charakterisierung der Hamburger in seiner Senats-Antrittsrede gewählt hat -- daß die aufwüchsen »im Wind des offenen Meeres, die melancholische Heide im Rücken« --, spiegeln sein Bemühen, sich selbst und andere komplexer zu sehen, privatere menschlichere Regungen nicht als intellektuell unpassend auszuklammern.
Sie zeigen freilich auch seine Grenzen. Immer klingen solche Bemerkungen angestrengt und gesucht, leicht kitschig oder stark übertrieben. Gemüt zu zeigen, spontan zu leben, statt quick zu denken, das hat nicht zu seinem Ausbildungsgang gehört.
Emotion verdeckt er hinter Sachlichkeit und Ironie. Daß er »ein Zyniker ist wie jeder Ästhet«, und wie Horst Ehmke glaubt, sagt aber mehr über den aus als über Dohnanyi.
Man darf nur mutmaßen: Der neue Bürgermeister ist im Grunde ein weicher Mensch, empfindlich und empfindsam, der zuweilen zu unerwarteten Gesten der Herzlichkeit fähig ist. Auch wenn er das fast immer hinter einer »kühlen Klimazone« versteckt, wie es sein bisheriger rheinland-pfälzischer Fraktionskollege Hugo Brandt ausdrückt.
Das mag für das hanseatische Naturell eher ansprechend wirken, für das der traditionellen SPD-Wähler zumal, denen die grüblerische Offenheit des Amtsvorgängers Klose zunehmend auf die Nerven ging.
Für die zumeist jüngeren Wähler der Hansestadt aber, die zu den Grünen und Alternativen weglaufen wollen, bringt der Bonner wenig mit, um ihren Bedarf an emotionaler Authentizität zu befriedigen. Für eine Generation, deren Lieblingswort »echt« ist, muß dieser vernünftige Visionär echt künstlich wirken.
Dohnanyi weiß das. Im kleinen Kreis komme er mit jungen Menschen ganz gut zurecht, sagt er. Durch zwei Söhne, von denen einer »im Begriff ist«, den Wehrdienst zu verweigern, sei ihm deren Denken vertraut.
Doch macht es ihm Schwierigkeiten, in größeren Versammlungen mit ihren Ansprüchen umzugehen. Ihre Gefühle könne er verstehen, »aber es nützt ja nichts, über Rüstung zu weinen«.
An die Stelle von echter Offenheit hat der Kontakt-Profi längst eine sehr wirkungsvolle Charme-Strategie gesetzt, ergänzt durch gewissenhafte sachliche Einarbeitung in kleinste Details der bürgerlichen Kümmernisse. Das sieht im Idealfall auch wie Intimität aus.
In Rheinland-Pfalz hat er sich damit so viel Respekt erworben, daß er im eigenen Bundestagswahlkreis Landau gegen CDU-Generalsekretär Heiner Geißler 5000 Stimmen dazugewinnen konnte.
In Hamburg rechnet von Dohnanyi überdies auf die Hilfe von Klose. Das sagt er zwar nicht direkt, aber die Entschiedenheit, mit der er die Aufforderung von Bundeskanzler Helmut Schmidt ignoriert hat, den Genossen an der Elbe Bedingungen für seine Kandidatur zu stellen, läßt kaum einen anderen Schluß zu.
Der Kanzler hatte von Dohnanyi, den er eigentlich als Klose-Nachfolger nicht haben wollte, geraten, zunächst auf die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in der Hansestadt zu dringen (in des Kanzlers Sicht regiert dort der SPD-Landesparteitag), sodann auf keinen Fall Änderungen an der Fraktionsspitze zuzulassen, die der Klose-Feind Ulrich Hartmann anführt, und natürlich den Bau des Kernkraftwerks Brokdorf voranzutreiben.
Nicht nur hat der Brandt-Freund Dohnanyi sich diesen Vortrag einfach nur kühl angehört, um dann anders zu verfahren. Am Mittwoch teilte er überdies dem Kanzleramtsminister Gunter Huonker mit, die SPD in Hamburg sei überhaupt »ganz anders, als der Kanzler denkt«.
Nun ist die Ablehnung der Kanzler-Bedingungen schlicht die Voraussetzung dafür, mit den bis zum Haß verfeindeten Flügeln der Hamburger Partei arbeiten zu können. Dort muß er mit jenem Pfund wuchern, das ihm in Bonn sowohl Bewunderung als auch Opportunismus-Schelte eingetragen hat: seinen Fähigkeiten zum schöpferischen und integrativen Kompromiß.
»Politik«, sagt er, »kann man nicht mit dem Vorschlaghammer machen. Das ist feine Nadelarbeit.« Fein ausgewogen pikt eine seiner Nadeln bei solchen Bemerkungen gezielt seinen Vorgänger Klose.
Schon bei der Vorstellung im Hamburger Parteivorstand habe sich von Dohnanyi als ein »Sowohl-als-auch-Mann« erwiesen, sagt Senator Jürgen Steinert. Er meint es als Lob.
Dohnanyi, der in der ersten Sitzung den Hanseaten etwas zu forsch und zu dozierend kam, hat in der zweiten Sitzung die verzankten Vorständler über sein Lieblingsthema reden lassen: Schulpolitik.
Da konnte sich jeder profilieren, und am Ende hatte der Bonner die Möglichkeit, S.25 seine Fähigkeit als ordnender Zuhörer und schöpferischer Weiterdenker auszuspielen.
Er bringe, so beschreibt der Bürgermeister seine Methode, die unterschiedlichen Meinungen auf einen Bruchstrich und beginne dann zu kürzen »von pauschal auf konkret«. Am Ende stehe dann der »kleinste gemeinsame Nenner«, mit dem eine kreative Weiterarbeit möglich sei. Und da fällt ihm fast immer etwas ein.
»Sein Problem ist aber, daß er durch Handeln wirken muß«, sorgt sich der Vorständler Freimut Duve. Dazu von Dohnanyi: »Das kriegen wir schon hin.« Kernig klingt das, ein bißchen sehr kernig.
Hier liegt wohl eher sein wahres Problem: daß der Perfektionist von Dohnanyi seine eigenen Möglichkeiten überschätzt und außer acht läßt, wie hoch entwickelt die Fähigkeit der Hamburger Genossen ist, ihren Bürgermeister zu Fall zu bringen.