JUSTIZ Politisch so naiv
Knapp zwei Stunden stritten die Mitglieder der Hamburger Landesregierung über einen vorweihnachtlichen Gnadenakt, dann bereiteten sie einigen Kollegen eine ungnädige Bescherung:
»Der Senat mißbilligt«, verkündete Hamburgs Regierungschef Hans-Ulrich Klose (SPD) den einstimmigen Kabinettsbeschluß, »daß der Erste Bürgermeister vor seiner Reise nach Israel überhaupt nicht und während seines Besuchs in Israel nicht vollständig über die Umstände informiert worden ist, die für die Entscheidung im Fall Rosenbaum eine Rolle gespielt haben.«
Der Regierungsrüffel, dem die Gescholtenen selbstkritisch zustimmten, galt Gesundheitssenatorin Helga Elstner und Sozialsenator Ernst Weiß (beide SPD), Justizsenator Ulrich Klug und dessen Staatsrat Hans Pries (beide FDP).
Die sozialliberalen Politiker hatten, als Mitglieder der Hamburger Senatskommission für das Gnadenwesen unter Vorsitz von Klug, dem Strafgefangenen auf Lebenszeit Wilhelm Rosenbaum nach 15 Jahren hinter Gittern »aus Gesundheitsgründen« eine sechsmonatige Haftunterbrechung gewährt und dabei rechtlich nur routiniert gehandelt.
Der Fall Rosenbaum aber, so die Regierungsrunde im nachhinein, barg soviel politische Brisanz, daß mehr als Routine vonnöten gewesen wäre: Rosenbaum, ehemaliger SS-Untersturmführer, war wegen der Ermordung von 148 polnischen Juden verurteilt worden; seine befristete Freilassung fiel ausgerechnet in eine Zeit, da Bürgermeister Klose einen Besuch in Israel absolvierte, ohne von dem Gnadenakt zu wissen.
»Es war sicherlich politisch ein Fehler«, sieht nun auch der gemaßregelte Klug, »den Bürgermeister nicht vorher zu unterrichten.« Seinen zahlreichen Gegnern in der Hamburger Polit-Provinz hingegen, denen weder die feinnervige Figur noch der beharrliche Rechtsstaatskurs des Justizsenators in den Kram passen, lieferte Klug, unbekümmert, einmal mehr Vorwand, den radikalen Liberalen öffentlich madig zu machen.
»Unglaubliches Verfahren«, raunzte der SPD-Fraktionsvorsitzende in der Hamburger Bürgerschaft, Ulrich Hartmann, der sich »nicht vorstellen« mag, daß einer »politisch so naiv handeln kann, ohne daß etwas mehr dahintersteckt« -- nämlich ein perfider Angriff auf den Bürgermeister. »Makaber«, urteilte CDU-Oppositionsführer Jürgen Echternach und erregte sich über die »faktische Begnadigung«, die auf CDU-Antrag in der kommenden Woche auch in der Bürgerschaft verhandelt werden soll. Die CDU verlangt Klugs Rücktritt.
Am heftigsten aber attackierten, wieder einmal, die lokalen Springer-Blätter den allzeit freundlichen Freidemokraten: »Elefant im Porzellanladen« ("Welt"), »Justiz-Skandal« ("Bild"). Für »Bild« war Klugs Sturz schon ausgemacht und der Nachfolger klar: die »quirlige, gutaussehende« FDP-Landesvorsitzende Helga Schuchardt.
»Leuten, die im Dauerwarnton nach Ordnung rufen«, urteilt das »Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt«, »ist Ulrich Klug meist ein Dorn im Auge gewesen.« Und immer wieder hat des Politikers radikale Offenheit Freunde verschreckt und bei Gegnern »Hysterie provoziert« ("Die Zeit").
Angeeckt ist der heute 63jährige Klug schon während der NS-Zeit« als er eine jüdische Frau heiratete und in seiner Dissertation über »Die zentrale Bedeutung des Schutzgedankens für den Zweck der Strafe« der »reichen und vielgestaltigen faschistischen Doktrin«, so NS-Hochschullehrer Friedrich Schaffstein, ungenügende Beachtung schenkte.
Diese »anregende Arbeit eines klaren und selbständigen Kopfes«, die SPD-Jurist Gustav Radbruch schon 1940 lobte, hätte Klugs Polit-Karriere nach dem Krieg beinahe gestoppt. Als der Kölner Lehrstuhlinhaber, seit 1968 in der FDP, 1970 Staatssekretär im Düsseldorfer Justizministerium werden sollte, gutachtete sein Staatssekretär-Vorgänger Friedemann Freiherr von Münchhausen über Klug und dessen Doktor-Arbeit: »Gerade solche Wegbereiter für seine Untaten brauchte der NS-Staat auf allen Lebensgebieten.«
Wechselweise wurde dem Verfasser des Standardwerks »Juristische Logik« nun Begünstigung von Faschisten vorgeworfen, oder er wurde, als Vorstandsmitglied des Republikanischen Clubs zu Köln und als Haftbesucher von Ulrike Meinhof, gemeinsamer Sache mit Anarchisten geziehen. Und »immer«, so Klug selber, »blieb was hängen«.
So belastet, kam der stets piekfein gekleidete Jurist, der sich gern mit »Bürger Klug« anreden läßt, 1974 als Justizsenator nach Hamburg -- gerufen von einem FDP-Landesverband, der seither mit linksliberaler Politik die sozialdemokratischen Koalitionsgenossen gelegentlich rechts liegenläßt. Mit verläßlicher Regelmäßigkeit und verschärfter Tendenz wurden fortan der »schlichtweg unfähige Justizsenator« (CDU) und seine »penetrant infantilen Reformideen« ("Welt") zum Dauerbrenner der unierten Opposition, so daß sich mitunter sogar die Hamburger SPD gegen »diese Form der Tritte unter die Gürtellinie« verwahrte.
Für solche Tritte freilich hielt Klug sich häufig politisch unbedeckt, so etwa, als er sich vehement gegen den Radikalen-Erlaß aussprach, sich ebenso unbeirrt für die Streichung des alten Abtreibungsparagraphen 218 oder gegen den von den Polizeiministern der Länder gewünschten »gezielten Todesschuß« einsetzte.
Und weil Klug immer wieder Resozialisierung als einzigen Strafgrund propagiert, lebenslange Freiheitsstrafe dagegen schlankweg als »verfassungswidrig« qualifiziert, brachte er auch noch die überwiegend konservativ eingestellte Hamburger Richterschaft gegen sich auf.
Um Sinn und Zweck staatlichen Strafens geht es letztlich auch im Fall Rosenbaum, den die Klug-Gegner, so ein Justizbeamter, nun zum Anlaß nehmen, »um zum letzten Gefecht gegen Senator Klug zu blasen«.
Was Vollzugsreformer seit Jahren fordern und in Hamburg gute Übung ist, wird hier in »die Reihe spektakulärer Klugscher Fehlleistungen« ("Welt") eingeordnet. Die Gnadenkommission überprüft regelmäßig lebenslange Haftstrafen, wenn der Gefangene
* zur Tatzeit nicht älter als 25 Jahre war und bereits zehn Jahre abgesessen hat oder
* zwölf Jahre in einer Anstalt verbrachte und das 60. Lebensjahr vollendet oder
* 15 Jahre Haft hinter sich hat.
Ist bei den Langzeitern weder mit einem Sicherheitsrisiko noch mit der Flucht zu rechnen, wird die Strafe in der Regel in eine zeitliche umgewandelt, und der Gefangene kommt, bis zur endgültigen Entlassung, zum Einüben der Freiheit in einen offenen Vollzug. Befristete Haftunterbrechung wird gleichfalls häufig gewährt.
Diese Behandlung widerfährt Strafgefangenen ohne Ansehen ihrer Tat, und so ist es nicht verwunderlich, daß kein in Hamburg verurteilter Täter wesentlich länger als 15 Jahre einsitzt. Auch zwei andere erkrankte NS-Täter erhielten vor Rosenbaum bereits Haftunterbrechung: Einer ist nahezu vollständig erblindet, der andere machte nach seiner Genesung, als er wieder hinter Gitter gehen sollte, sich selbst einen kurzen Prozeß.
Der um den Fall Rosenbaum -- der im übrigen bereits mehrfach beurlaubt
* Vor dem Hamburger Schwurgericht 1968.
worden war -- entfachte Spektakel wird womöglich die Haft des einstigen SS-Führers verlängern. Die »schwierige Gnadenproblematik bei den fürchterlichen NS-Verbrechen«, urteilt Klug, wäre damit gleichwohl nicht gelöst.