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Jugendkriminalität Popstar in der Kühltruhe

Die Studie eines Pädagogik-Professors belegt: Horrorvideos können aus Kindern Mörder machen.
aus DER SPIEGEL 17/1991

In seiner Schule in einer niederbayerischen Kleinstadt mußte sich der schmächtige, schüchterne Junge immer hänseln lassen. Schon damals hatte er eine Vorliebe für Pornohefte und brutale Actionfilme.

Auch zu Hause erfuhr der Bub wenig Zuneigung. Er flüchtete sich immer mehr in eine von Gewalt und Schrecken beherrschte Phantasiewelt. Massenhaft konsumierte er Western, Krimis und vor allem Horrorvideos.

»So etwa ab dem 14. Lebensjahr«, gestand der Niederbayer später dem Richter, »spielte ich in Gedanken verschiedene Gewalttaten durch. Meistens stellte ich mir dabei vor, ein Mädchen zu vergewaltigen und es anschließend zu töten.«

Am Tag der Tat sah sich der inzwischen 20jährige zunächst das Video »Die 36 Kammern der Shaolin« an, einen Kung-Fu-Film. Abends im Kino folgte dann noch der Schocker »Talon gegen das Imperium«. Dessen Personal besteht aus sexbesessenen Sklavinnen und starken Männern, die sich in Folterungen und Menschenschlächtereien ergehen. Immer wieder werden Frauen mit Dolchen und Schwertern drangsaliert und vergewaltigt.

Nach dem Film sei ihm »schon ein bißl komisch zumute gewesen«, bekannte der junge Mann vor Gericht. Vom Kino aus fuhr er mit seinem Auto nicht nach Hause, sondern ziellos in der Gegend herum - und das mit dem Gefühl: »Du findest schon irgend jemanden, der das tut, was du sagst.« Tatsächlich fand er noch in derselben Nacht ein 18jähriges Mädchen. Er vergewaltigte sein Opfer und tötete es mit zahlreichen Messerstichen.

Der brutale Mord ist nur einer von vielen ähnlichen Fällen, die der Pädagoge Werner Glogauer, 65, in einer neuen Studie aufzählt*. Der Augsburger Professor hat bisher unveröffentlichte Vernehmungsprotokolle deutscher Amts- und Landgerichte eingesehen. Glogauers Bilanz: »Mindestens jedes zehnte Gewaltverbrechen, das jugendlichen Tätern angelastet wird, geht eigentlich aufs Konto der Medien.«

In »modellhafter Nachahmung«, so der Experte für Mediendidaktik, würden Kinder und Jugendliche immer häufiger all das, was ihnen an Grausamkeiten in Videos und Kinofilmen, Zeitschriften und Comics vorgeführt werde, in blutige Taten umsetzen. Die Medien, glaubt Glogauer, liefern den Heranwachsenden »Impulse, Motive und Modelle« für das Verbrechen.

Grausige Videos spielen dabei nach Ansicht des Wissenschaftlers die entscheidende Rolle. Neue Umfragen haben ergeben, daß mehr als 40 Prozent der 13- bis 16jährigen Videofreunde »häufig« oder »sehr häufig« Horrorkassetten sehen. Jeder vierte zählt indizierte Filme zu seinen »Lieblingsvideos«, schaut also vor allem solche Streifen an, die von der Bundesprüfstelle wegen ihres »menschenverachtenden Inhalts« als _(* Werner Glogauer: »Kriminalisierung von ) _(Kindern und Jugendlichen durch Medien. ) _(Wirkungen gewalttätiger, sexueller, ) _(pornographischer und satanischer ) _(Darstellungen«. Nomos Verlag, ) _(Baden-Baden; 140 Seiten; 29 Mark. ) »besonders jugendgefährdend« eingestuft wurden.

Mit Glogauers Studie erhält ein alter Gelehrtenstreit neuen Stoff. Über die Frage, ob die Darstellung von Brutalität beim Betrachter wiederum Brutalität erzeugt, haben schon Philosophen im antiken Griechenland gestritten. Aristoteles zum Beispiel erwartete vom gewalttätigen Geschehen der klassischen Tragödie eine Läuterung des Publikums. Platon dagegen verdammte schaurige Dramen als gemeinschaftsgefährdend.

Erst der Kinderpsychologe Bruno Bettelheim fand vor wenigen Jahren eine Kompromißformel, die beide Theorien zusammenführt. Die meisten Kinder, beobachtete Bettelheim, brauchen »aggressive Phantasien«, um »feindselige Gefühle stellvertretend ausleben zu können«. Nur »von Haus aus ernstlich gestörte Kinder«, warnte der Psychologe, würden sich von blutigen Bildschirm-Märchen brutalisieren lassen.

Zu diesem gefährdeten Kreis zählen die Täter aus der Untersuchung Glogauers: Sie stammen aus zerrütteten Familien, aus sozialen Randgruppen; als Kinder wurden sie verstoßen oder mißhandelt. Viele leiden unter Minderwertigkeitskomplexen und Ängsten, Neurosen, Wahnideen oder geistigen Behinderungen.

So wurde einem 17jährigen Jugendlichen aus Norderstedt bei Hamburg eine »psychopathologische Veranlagung« bescheinigt. Die psychische Störung fiel den Medizinern allerdings erst auf, nachdem er gleich zweimal junge Frauen auf bestialische Weise angefallen hatte.

Laut Anklage versuchte der junge Mann, »eine Frau niederzustechen, ihr den Fuß abzuschneiden und diesen anschließend zu essen«. Bei der ersten Attacke verbog sich das Messer, beim zweiten Mal fügte er seinem Opfer 30 Stiche zu und ließ erst von der schwerverletzten Frau ab, als ihr Passanten zu Hilfe eilten.

Das Vorbild des Täters, so ermittelte die Staatsanwaltschaft, war die 16jährige Hauptdarstellerin des indizierten Horrorvideos »Der Fan«. In dem Film ermordet das Mädchen aus unerwiderter Liebe einen Popstar, zerschneidet den Mann in kleine Teile und friert diese in der Kühltruhe ein, um sie später Stück für Stück aufzuessen.

Auch zwei vorbestrafte Jugendliche aus einer bayerischen Dorfgemeinde kopierten einen Mord von der Mattscheibe. Die beiden hatten sich daheim den Brutalo-Western »Die im Sattel verrecken« angesehen, in dem mehrere Morde und Raubüberfälle inszeniert werden. Nach einigen Flaschen Bier, so erklärte einer der beiden Dorfbuben später vor Gericht, sei ihnen »blitzartig die Idee« gekommen, »daß wir es eigentlich so machen könnten wie in dem Film«.

Und wirklich rüsteten sich die beiden mit Strumpfmasken, einer Pistolenattrappe und einem Messer aus. Dann drangen sie in die Wohnung einer Bekannten ein, bei der sie eine größere Geldsumme vermuteten. Das entsetzte Geschrei der Frau und ihrer ebenfalls anwesenden Freundin versetzte die jungen Männer in Panik - sie töteten beide Frauen mit dem Messer.

Doch nicht immer liefern Videos konkrete Modelle der Gewalt. Schon das vollständige Eintauchen in eine aus verschiedenen Vorbildern zusammengefügte fiktive Horrorwelt kann tödliche Folgen haben. So kam es Ende 1988 im Ruhrgebiet zu dem von Kriminalisten so genannten Zombie-Mord. Der 16jährige Täter hatte über Jahre hinweg Comics und Hörkassetten mit satanischen und okkulten Inhalten sowie Horrorvideos konsumiert. Dazu zählte etwa der indizierte Film »Verdammt, die Zombies kommen« sowie der 1984 bundesweit beschlagnahmte Streifen »Nightmare«.

Der pubertierende Jüngling beteiligte sich an schwarzen Messen und vertiefte sich in düstere Horrorszenarien. Schließlich zog er eines Tages mit seinem Freund in eine abgelegene Fabrikruine. Dabei gelangten sie in einen dunklen Raum - und prompt kamen dem Videofreak Horrorvisionen: Sein Begleiter erschien ihm plötzlich als ein ihn attackierender Zombie; mit einer Eisenstange erschlug er den Freund.

Die Medien, so das Fazit der Anklage, hätten nicht nur das Interesse des Beschuldigten »für die immer intensivere Beschäftigung mit dem Okkultismus geweckt«, sondern ihm auch das »Material für die Ausgestaltung der Wahnwelt geliefert«. »Nach meiner Auffassung«, erklärte der Staatsanwalt, »wäre es ohne den Konsum dieser Videos, Hefte und Audio-Kassetten nicht zu diesem Tötungsdelikt gekommen.«

Einer ähnlich gewalttätigen Phantasiewelt ist ein 15jähriger Italiener erlegen, der jahrelang in einem Heim in der Pfalz lebte. Bei den Heimkindern hieß er »Rambo«. Der Junge war ein glühender Anhänger des gleichnamigen amerikanischen Kinohelden, der in seinem letzten Film allein 123 Russen niedermetzelte. Immer wieder sah sich »Rambo« die rabiaten Abenteuer seines Vorbildes an. Er beschaffte sich eine Tarnhose und ein Rambo-Messer und las alles, was er über den anscheinend unbesiegbaren Dschungel-Krieger in Erfahrung bringen konnte.

Die Aggressionen des Zöglings waren im Heim gefürchtet, doch sein Angriff auf einen 14jährigen Zimmergenossen überraschte auch die Betreuer: Im Streit sprang der Rambo-Fan wütend auf einen Stuhl, zog sein Messer und stach auf den bereits im Bett liegenden 14jährigen ein. Der Stich in die Halsschlagader war tödlich.

Der vom Landgericht Trier bestellte psychologische Gutachter attestierte dem Täter eine ungewöhnlich starke Identifikation mit dem Film-Vorbild. Der Junge habe die typischen Bewegungen des Leinwand-Killers nachgeahmt, die Bluttat sei nach »einem eingeübten Verhaltensmuster nach Rambo-Art« abgelaufen.

Nach demselben Modell, wenn auch mit einem anderen Vorbild, handelte 1987 ein 24jähriger in der Nähe des niederbayerischen Deggendorf. Der von seinen Eltern stark vernachlässigte junge Mann hatte sich dem Ninja-Kult verschworen, einer Bewegung, die die Rituale einer altjapanischen Kämpfersekte imitiert. Durch eine ganze Reihe brutaler Videos, durch Bücher und zahlreiche Accessoires haben die Ninjas inzwischen in Deutschland viele Anhänger gewonnen (SPIEGEL 50/1990).

Der Nachwuchs-Ninja besorgte sich einen schwarzen Kampfanzug mit Kapuze und Maske, schwarze Kletterschuhe, Wurfsterne, Wurfpfeile und ein scharfgeschliffenes Samurai-Schwert. Mit einem Holzschwert führte er zunächst Schlagübungen durch, dann aber legte der junge Mann seine gesamte Montur an und drang in ein Jugendheim ein. Zwei Erzieherinnen, die sich ihm in den Weg stellten, fügte er mit wilden Schwerthieben schwere Verletzungen an den Armen zu.

Vor dem Landgericht Deggendorf gab der Gewalttäter an, er habe das Schwert nur zur »seelischen Unterstützung« mitgenommen. Tatsächlich, so urteilte die Kammer, führte der Mann jedoch mit seinem Schwert »wuchtige Hiebe in Richtung auf vitale Zentren der beiden Frauen«, ihm sei ganz offenbar auch »ein tödlicher Ausgang recht gewesen«.

Für den Pädagogen Glogauer ist der Fall klar: Der Täter sei zum »Opfer« der multimedial verbreiteten Ninja-Kultur geworden; der junge Mann habe sich so nachhaltig mit der »Rolle des Ninja-Kämpfers identifiziert«, daß sein skrupelloser Angriff als eine »fast logische Konsequenz« zu betrachten sei.

Diese schlichte Beweisführung stößt bei anderen Experten allerdings auf Skepsis. Vor allem Kriminologen weisen darauf hin, daß es für einen direkten Umschlag von Mediengewalt in konkrete Gewalttaten keine statistischen Belege gibt: Während die Videobranche boomt, läßt sich eine entsprechende Zunahme exzessiver Gewalt von Jugendlichen bisher nicht feststellen.

Auch viele Medienforscher scheuen vor eindeutigen Aussagen zurück - beispielsweise der Mainzer Publizistik-Professor Hans Mathias Kepplinger: »Aufgrund der bisher vorliegenden Untersuchungen«, erklärt der Wissenschaftler, »sind keine befriedigenden Aussagen über das Verhältnis von Medieninhalten und Gewaltanwendung möglich.«

Betroffene ziehen meist direktere Schlüsse. In den USA haben verzweifelte Eltern sogar schon versucht, die Hersteller von Filmen und Schallplatten vor Gericht zu bringen, um den Tod ihrer Kinder zu sühnen. So mußte sich im August letzten Jahres die Heavy-Metal-Band Judas Priest vor einer Kammer in Reno im US-Staat Nevada des Vorwurfs erwehren, sie habe mit ihrem Album »Stained Class« zwei Jugendliche in den Selbstmord getrieben.

Die Anwälte der Eltern beriefen sich auf den Text eines Stückes, das die beiden jungen Männer vor ihrer Tat immer wieder gehört hatten. Dessen Aussage sowie die damit verbundene hypnotisierende Formel »Do it, do it« (Tu es, tu es) animieren angeblich zum Selbstmord. Das Gericht jedoch gab am Ende der Meinungsfreiheit den Vorrang und verneinte eine Verantwortung der Rock-Band für die Selbsttötungen.

Bundesdeutsche Richter hätten nicht anders entschieden - auch nicht, wenn es in den von Glogauer gesammelten Fällen zu vergleichbaren Klagen gekommen wäre. Zwar ist die von der Bundesregierung eingesetzte Gewaltkommission in ihrem vergangenes Jahr vorgelegten Gutachten zu dem Ergebnis gekommen: »Dramatische, besonders spektakuläre Gewaltdarstellung ermutigt, stimuliert und rechtfertigt Gewaltanwendung.« Doch vor Gericht zählen nur eindeutig beweisbare Kausalzusammenhänge.

Ob Rambo- oder Zombie-Mord, ob das Vorbild Ninja heißt oder aus einem Brutalo-Western stammt: In jedem bekannten Fall kommen weitere schädliche Einflüsse und Lebenserfahrungen hinzu, die erst aus harmlosen jungen Leuten potentielle Mörder machen.

Daß die Hersteller von Brutalo-Medien juristisch belangt werden können, glaubt denn auch der Pädagoge Glogauer nicht. Der Augsburger Hochschullehrer plädiert vorerst nur für eine verstärkte Aufklärungsarbeit in den Familien und in der Schule. Glogauer: »Die Eltern müssen endlich zur Kenntnis nehmen, was sich ihre Kinder mit diesen Schreckensgeschichten antun.«

Glogauer will seinen Teil dazu beitragen. Ein Informationsrundbrief soll regelmäßig in allen Klassenzimmern verteilt werden. Schon jetzt lädt der Pädagoge immer wieder interessierte Kollegen, Studenten und Eltern zur Demonstrationsvorführung harter Horrorfilme ein.

Der Professor selbst kann das blutige Treiben auf der Leinwand nicht mehr ertragen: »Immer wenn es im Saal dunkel wird, mache ich erst mal die Augen zu.« o

* Werner Glogauer: »Kriminalisierung von Kindern und Jugendlichendurch Medien. Wirkungen gewalttätiger, sexueller, pornographischerund satanischer Darstellungen«. Nomos Verlag, Baden-Baden; 140Seiten; 29 Mark.

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