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Briefe

Predigen Wasser, trinken Wein
aus DER SPIEGEL 40/1980

Predigen Wasser, trinken Wein

(Nr. 38/1980, Deutschland: Wahlkampf)

Immer mal wieder wirft mir Ministerpräsident Stoltenberg vor, daß ich die Länder in Ausgaben von Milliardenhöhe dränge. Der Vorwurf ist falsch.

Die Bildungsplanung ist gemeinsame Aufgabe des Bundes und der Länder. Der Bund kann dabei niemanden zum Geldausgeben drängen. Die Länder selbst schätzen ihren künftigen Finanzbedarf ein und setzen damit die Daten für die Kostenplanung. Stoltenberg sollte genau sagen, welche Ausgaben er meint.

Soweit es um Personalkosten -- der Länder -- geht, hat sie für Schleswig-Holstein Stoltenbergs Kultusminister in die Beratungen des neuen Bildungsgesamtplans eingebracht. Wenn er hier kürzen will, wenn er für größere Klassen, für bleibenden Unterrichtsausfall, gegen wohnortnahe Kindergärten und Schulen, gegen besseren Berufsschulunterricht, gegen bessere Bildungschancen für Behinderte und Ausländerkinder ist, sollte er es sagen und dafür die Verantwortung übernehmen, statt mich als Kostentreiber anzuschwärzen.

Bonn JÜRGEN SCHMUDE Bundesminister für Bildung und Wissenschaft

Nicht nur von der staatlichen Ausgabenseite kann die wachsende Staatsverschuldung in der letzten Dekade erklärt werden. Auch die Entwicklung der bundesrepublikanischen Geldvermögensbildung sowie deren Inanspruchnahme durch Kredite (einschließlich Aktienemissionen) muß in die Beurteilung einbezogen werden, denn hier hat sich ein struktureller Wandel vollzogen.

Während der Anteil der Ersparnisse der privaten Haushalte an der gesamten volkswirtschaftlichen Geldvermögensbildung -- in Form von Bargeld, Spareinlagen, Geldanlagen bei Bausparkassen und Versicherungen und so weiter -- seit 1960 gestiegen ist (1960 bis 1969 auf 60,24 Prozent; 1970 bis 1974 63,26 Prozent und 1975 bis 1979 schließlich auf 68,76 Prozent), sank die Inanspruchnahme in Form von Krediten und Aktienemissionen im Unternehmenssektor kontinuierlich von 80,01 Prozent in den Jahren 1960 bis 1969 auf 58,77 Prozent im Zeitabschnitt 1975 bis 1979.

In diese sinkende Schuldnerposition mußte der Staat per Kreditfinanzierung einspringen. Der Staat wurde zu einer Pumpstation, die lückenbüßerhaft anlagesuchendes, vagabundierendes Kapital in den volkswirtschaftlichen Kreislauf per ausgabenwirksamer Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen zurückgab.

Ein Verzicht auf den Ausbau der staatlichen Schuldnerrolle hätte zwangsläufig das Einkommens- und Beschäftigungsniveau weiter absacken lassen.

Der Anteil der Staatsverschuldung, der im Geschäftsbankensektor hängen bleibt, ist kontinuierlich angestiegen; er hat 1979 ungefähr 71 Prozent des gesamten Staatsschuldenbergs erreicht.

Die Zinsen auf Staatsschuld werden wegen des überdurchschnittlichen Anteils der Lohnsteuer am Steueraufkommen von den lohnabhängigen Einkommensschichten vorwiegend bezahlt; Zinsempfänger ist überdurchschnittlich das Bankensystem.

Das schafft -- wie der »Wissenschaftliche Beirat beim Bundesfinanzministerium« mit seinem Gutachten zur »Staatsschuldenstruktur« feststellte -ein doppeltes Ärgernis.

Wegen der »monopolähnlichen Situation« -- so der Originalton der Gutachter -- bestimmen die Banken die Verschuldungskonditionen einerseits; andererseits geben sie die Zinsgewinne an die Kleinanleger nicht weiter. An der volkswirtschaftlichen Notwendigkeit, staatlicherseits Schulden aufnehmen zu müssen, verdient der Bankenbereich.

Maßnahmen, das zu ändern, wären: breite Beteiligung privater Haushalte und Verpflichtung der Banker, Staatsschuld-Titel zu Mindestkonditionen zu übernehmen.

Bremen PROF. DR. RUDOLF HICKEL Universität Bremen

Es ist schon erstaunlich, wie sich der von seinem Kanzlerkandidaten zum Schatten-Finanzminister erhobene Ministerpräsident von Schleswig-Holstein an die von den C-Parteien eingeschlagene Marschroute hält: weil die S.121 Staatsverschuldung in ganz besonderem Maße geeignet scheint, Ängste zu schüren und die Wähler zu verunsichern, muß dieses Thema im Sinne der Sonthofener Strategie auf Biegen oder Brechen ausgeschlachtet werden.

Wenn die Statistiken beweisen, daß der designierte »Retter der Staatsfinanzen« in seinem eigenen Bundesland ungeniert an der Spitze der öffentlichen Schuldenmacher mitmarschiert, dann hat ihm der Wähler abzunehmen, daß es dafür gute und ehrenwerte Gründe gibt, die natürlich für sozialdemokratisch geführte Regierungen nicht gelten. Solche schizophrene Haltung hat schon Heinrich Heine empört, als er »chrieb: Ich kenne die Weise, ich kenne den Text; Ich kenn auch d"e » Herren Verfasser; Ich weiß, sie tranken heimlich Wein und » » predigten öffentlich Wasser. »

Daß sich Dr. Stoltenberg auch über die Ergebnisse internationaler Vergleiche hinwegsetzt, ist nur folgerichtig. Die Tatsache, daß die Staatsverschuldung in der Bundesrepublik Deutschland gemessen am Bruttosozialprodukt im Vergleich zu allen wichtigen Industrienationen weit im unteren Bereich der Rangskala liegt, paßt nicht in den Kram und wird deshalb schnell abgetan. Zum Vergleich, so heißt es, dürften nicht die Gesamt-Schuldenstände, sondern müsse der Verschuldungs-Anstieg in den letzten Jahren herangezogen werden. Der gute Stellenwert für die Bundesrepublik Deutschland sei nur ihrer günstigen Ausgangsposition zuzuschreiben.

Dr. Stoltenberg hätte sich, ehe er dieses Argument aufgriff, die Zahlen ansehen sollen. Werden aber die seit Ende 1972 aufgelaufenen Schuldenzuwächse zum Bruttosozialprodukt in Beziehung gesetzt, so »tellt sich das Ergebnis für 1978 wie folgt dar: Italien 53 v. H.« » Großbritannien 28 v. H. Japan 28 v. H. USA 21 v. H. » » Bundesrepublik Deutschland 16 v. H. Schweiz 12 v. H. »

Gemessen an der Wirtschaftskraft der Länder ist also für die Bundesrepublik Deutschland auch die staatliche Neu-Verschuldung der letzten Jahre im internationalen Vergleich als außerordentlich günstig einzustufen.

Hamburg DR. WILHELM NÖLLING Finanzsenator der Freien und Hansestadt Hamburg

S.121

Ich kenne die Weise, ich kenne den Text; Ich kenn auch die Herren

Verfasser; Ich weiß, sie tranken heimlich Wein und predigten

öffentlich Wasser.

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Italien 53 v. H. Großbritannien 28 v. H. Japan 28 v. H. USA 21 v. H.

Bundesrepublik Deutschland 16 v. H. Schweiz 12 v. H.

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