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GROSSBRITANNIEN Prinz mit Herz

Thronfolger Charles geht auf Distanz zum Thatcherismus - sein Engagement für Arbeitslose und Slumbewohner verärgert die Konservativen. *
aus DER SPIEGEL 44/1987

Heh Charlie, Liebling, vergiß uns nicht«, ruft eine unordentlich gekleidete und wohl nicht mehr ganz nüchterne Untertanin aus der Menge, als der Kronprinz sich anschickt, seinen Jaguar zu besteigen.

Charles hält inne. »Was für eine dolle Stimme Sie haben«, gibt er zurück, »wir müssen miteinander reden.« Dann geht er auf die perplexe Frau zu und beginnt eine Unterhaltung auf dem Bürgersteig.

Die eben noch steife und - ob des plump-vertraulichen Zurufs - verlegene Stimmung wandelt sich schlagartig. Als Charles abfährt, erfüllt freudiges Geschnatter Spitalfields, einen der verkommensten Slums im Londoner Eastend.

Der Kronprinz hatte den richtigen Ton getroffen, wie fast immer bei Begegnungen mit Unterprivilegierten in seinem Königreich. Ob asiatische Einwanderer oder Trinker in einer Eckkneipe, ob schwarze Arbeiter oder Obdachlose unter einer Brücke - der Edelmann aus dem Kensington-Palast hat keine Berührungsängste.

»Ihr solltet vor Bewerbungsgesprächen über euren Aufzug nachdenken«, rät er arbeitsuchenden Teenagern im Punk-Look, »denn leider lassen sich viele Menschen von Äußerlichkeiten beeindrucken.« Als ihn Schuljungen auf die Charles-Karikatur in der satirischen Fernseh-Show »Spitting Image« ansprechen, stellt sich der Prinz dumm: »Was ist Spitting Image, eine Popgruppe?«

Das mögen die kleinen Leute - einen Königssohn, der zutraulich plaudert und zur Selbstironie fähig ist. Die Bessergestellten hingegen finden Charles' Verhalten zunehmend befremdlich. Warum, fragen sie, begnüge er sich nicht damit, die Nation mit distinguiertem Prunk draußen in der Welt zu vertreten?

Die Reise, die der Thronfolger mit seiner schönen Prinzessin Diana 1985 in die USA unternahm, soll Großbritannien Aufträge im Wert von 500 Millionen Pfund gebracht haben. Nun kommt die Charles-and-Diana-Show vom 2. bis 7. November in die Bundesrepublik. Dort wird der Prinz in Köln die »Best of Britain«-Handelsmesse besuchen - und sich erneut als Exportförderer fürs Vaterland verdient machen.

Plagen den Bilderbucharistokraten Charles vielleicht Schuldgefühle wegen seines privilegierten Lebens? Füllen ihn seine - laut Regenbogenpresse kriselnde - Ehe und das Warten auf die Königswürde nicht aus? Oder ist es einfach Spleen, der ihn dazu treibt, Sozialpolitik auf eigene Faust zu machen? Fest steht: Der 38jährige sorgt sich, daß er einmal König werden könnte in einem tief zwischen Reich und Arm gespaltenen Land, mit »no-go areas« der Gesetzlosigkeit.

Das bringt ihn zwangsläufig in Gegensatz zur Regierungschefin. Während Margaret Thatcher mit ihren unerbittlichen Spar- und Sanierungsprogrammen die Schwachen belastet und die Bedürftigen glauben läßt, im neuen England der Thatcher-Revolution sei für sie kein Platz mehr, personifiziert Charles das Bild von einer sorgenden Obrigkeit: Prinz mit Herz gegen Lady aus Eisen.

Charles will nicht nur Reden halten. In Spitalfields, dem Londoner Armutsviertel zwischen der nach Geld stinkenden City und dem von Curry-Düften durchzogenen Little Calcutta der asiatischen Einwanderer, engagiert er sich für ein »Job-Garantie-Projekt": 50 Firmen sollen sich verpflichten, je sechs Schulabgänger aufzunehmen.

In sechs Monaten war der Kronprinz dreimal in der Gegend; in den vergangenen zwei Jahren reiste er rund 100mal in Slums, die einst lebendige Viertel blühender Industriestädte waren - »Schutzherr der inner cities« nannte ihn deshalb der liberale »Guardian«.

Manchen gehen soviel Fürsorge und der stille Tadel, der sich darin gegen den Thatcherismus offenbart, zu weit. »Der Prince of Wales kümmert sich nur um die dunkle und schattige Seite der Thatcherschen Erfolgsstory«, kritisierte Peregrine Worsthorne, Chefredakteur des »Sunday Telegraph« und konservativer Ideologe. Charles sei »nicht im Gleichschritt mit der Mehrheit der Nation«.

Zu der zählt sich die konservative Unterhausabgeordnete Teresa Gorman, die Charles' Engagement als »altmodisch« abtut. Die königliche Familie sollte lieber die Errungenschaften des Thatcherismus feiern, etwa den Abbau von staatlichen Vorschriften und hohen Steuern.

Teresa Gormans Fraktionskollege Nicholas Budgen beanstandet einen Verstoß des Prinzen gegen ein geheiligtes Prinzip der Thatcher-Revolution. In Birmingham besuchte Charles ein mit öffentlichen Mitteln errichtetes afro-karibisches Musikstudio. Budgen über Charles: Damit habe er das »Ausgeben von Steuergeldern befürwortet«.

Wohl wahr. Im Gegensatz zur Premierministerin glaubt Charles nämlich, daß der Staat in vielen Bereichen aktiver

eingreifen müsse. Und so gerät die königliche Version von Sozialpolitik in Margaret Thatchers dritter Amtsperiode zur »ernsten Herausforderung an die Zielrichtung der Regierungspolitik« (der Fernsehjournalist Matthew Parris).

Der Konflikt könnte sich bald verschärfen. Publizist Worsthorne und Politiker wie Budgen und Gorman sprechen nur als erste aus, was die Thatcher-Konservativen zunehmend wurmt:

Zwar setzt sich Charles öffentlich nur für scheinbare Nebensächlichkeiten ein, wie die Erhaltung von Sumpflandschaften, die Förderung von alternativer Medizin und die Aufnahme von Schwarzen in die Eliteeinheiten der Streitkräfte. Aber zu Englands unbestreitbaren wirtschaftlichen Erfolgen seit Margaret Thatchers Amtsübernahme 1979 hat er noch keine Rede gehalten. Und weshalb, so murren Frau Thatchers Gefolgsleute, ziehe es den Kronprinzen immer nur zu Slumbewohnern und Arbeitslosen, statt daß er einmal stolze Kleinaktionäre und Hauserwerber beehre?

Schon sieht der konservative Journalist Bruce Anderson die »Gefahr, daß Charles von linken Regierungskritikern vereinnahmt wird«. Nordenglische Labour-Parlamentarier zum Beispiel lobten den Kronprinzen, als der mit 200 Spitzenmanagern - potentiellen Investoren - in ihre wirtschaftlich sterbende Region reiste. »Es ist eine Schande«, schimpfte der Labour-Abgeordnete John Dormand, »daß er tun muß was eigentlich Aufgabe der Regierung ist.«

Wie Oppositionspolitiker zeigen auch linke Publikationen Sympathie für Charles. So bescheinigt der »New Statesman« dem Thronfolger »die Lust des Gelehrten am Studieren«, ein »wahrhaft soziales Gewissen« - und sogar Zweifel am Sinn der Monarchie. Charles sei »ein Mann mit zuviel Sensibilität und zuviel Intelligenz«, um unerschütterlich von einer »sozial nützlichen Rolle der Monarchie in einer modernen Demokratie« überzeugt sein zu können.

Solchen liebevollen Analysen von links stehen gehässige Attacken von rechts gegenüber.

»Dreht unser Kronprinz durch?« fragte die Massenzeitung »Sun«. In den Wochen vor den Parlamentswahlen im Juni stellte das Boulevardblatt den wieder einmal ohne seine Familie Urlaub machenden Charles als einen Halbverrückten dar.

»A-loon with his worms«, allein mit seinen Würmern, lautete die Schlagzeile zu einem Bild, auf dem Charles nach Ködern für seine Angel grub. Daß die »Sun« die Wortschöpfung »a-loon« (Doppelbedeutung: »ein Übergeschnappter") benutzte, deutet der Londoner Journalistik-Professor Hugh Stephenson so: Die Zeitung habe einen Zusammenhang mit der »loony left«, radikalen Linken in einigen Stadträten, suggerieren wollen.

»Gekidnappt« von der »loony green brigade«, den »verrückten Grünen«, ist Charles nach Meinung von Lord Northfield, dessen Firmenkonsortium sechs neue »country towns« in die Landschaft um London setzen will. Denn Charles ist dagegen, daß landwirtschaftlich nutzbares Land bebaut wird, während es in den verfallenen Industriezentren mehr als genug Bauland gibt.

In Wirklichkeit hat der Kronprinz mit Grünen und Labour-Sozialisten wohl wenig im Sinn. Das Magazin »Economist« ordnet ihn bei den rechten Sozialdemokraten ein. »im Mittelfeld, das Margaret Thatcher und ihr Flügel der Konservativen aufgegeben haben« .

Rechts, links oder in der Mitte - Mitglieder des Königshauses so will es ein ungeschriebenes Gesetz der britischen Monarchie, sollen sich aus der Politik heraushalten. Aber es gibt Vorbilder für Charles' Eigenwilligkeiten; so forderte 1936 der spätere König Edward VIII. als Kronprinz nach einem Besuch bei arbeitslosen Bergleuten in Wales »Es muß etwas für sie getan werden«.

Charles stöhnte im vergangenen Jahr, nachdem er Jugendliche getroffen hatte, für die es keine Arbeitsplätze gibt: »So viel verschwendetes Talent. Er würde sich besser fühlen, wenn die Ministerien koordinierte Anstrengungen zur Arbeitsplatzbeschaffungen unternähmen.

Bei der Einweihung einer Niederlassung des Microchip-Herstellers Plessey in der Nähe von Plymouth sagte er: »Manche beschreiben dieses 52-Millionen-Pfund-Gebäude als Industriekathedrale. Mir erscheint es eher wie die High-Tech-Ausgabe eines viktorianischen Gefängnisses.« 350 Arbeiter klatschten, die Manager waren peinlich berührt .

Neubauten in London nannte er »monströse Karbunkel und »hervorragende Beispiele des neuen Barbarismus« . Die Verhältnisse in schnell verfallenden Sozialbauten beschrieb er nach einer Vor-Ort-Inspektion kurz und drastisch: »Hundescheiße im Fahrstuhl.« Charles schockierte die britische Architektenzunft auf ihrem Jahreskongreß mit einem Goethe-Wort: »Es ist nichts fürchterlicher als Einbildungskraft ohne Geschmack.«

Charles und seine Mutter würden den Trend der Epoche verpassen, maulen rechte Konservative. Der Thatcherismus sei eine über den Tag hinausgehende gesellschaftliche Strömung. Und so, wie sich das Königshaus einst mit dem britischen Wohlfahrtstaat identifiziert habe, müsse es sich heute zur Thatcher-Revolution bekennen und eine vergleichbare Pioniertat würdigen - Margaret Thatchers Privatisierungsprogramm etwa.

Charles offenkundige Vorliebe für die Nöte der kleinen Leute verhöhnt Rechtsideologe Worsthorne so: »Was will er tun und sagen, wenn Großbritannien ein einziger wohlhabender Vorort ist und es keine verarmten Massen mehr gibt, die geschützt werden müssen?«

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