BUNDESPRÄSIDENT Professor Hindenburg
Parteipräses Konrad Adenauer gebot Schweigen. Über die im Juli anstehende Bundespräsidenten - Wahl, so verlangte er am Dienstag der vergangenen Woche im Bonner Hotel »Königshof« vom CDU-Bundesvorstand, sollten die Herren auch jetzt besser gar nicht reden.
Bundestagsabgeordneter Gerhard Stoltenberg aus Kiel meldete sich trotzdem zu Wort: »Wir müssen doch schnell zu einem Ergebnis kommen. Was soll denn werden, wenn die FDP uns wirklich im Stich läßt und die SPD uns weiter hinhält? Dann kommt Herr Lübke in eine ganz unangenehme Situation.«
Indessen - Heinrich Lübkes Lage ist schon unangenehm genug. Der Bundespräsident möchte, genau wie sein Vorgänger Theodor Heuss, noch einmal fünf Jahre lang in der Villa Hammerschmidt residieren - nach dem Grundgesetz ist einmalige Wiederwahl des Bundespräsidenten zulässig.
Aber in allen Parteien und in der Öffentlichkeit sind gegen diesen Wunsch Lübkes Bedenken geltend gemacht worden, die sich nicht zuletzt, wie selbst der übervorsichtige » FAZ« - Mitherausgeber Jürgen Tern in der »Frankfurter Allgemeinen« schrieb, auf die Person des Präsidenten beziehen, »von dessen Natur und Temperament nicht gerade eine faszinierende Ausstrahlungskraft ausgeht«.
Lübkes christdemokratischen Parteifreunden bleibt nichts anderes übrig, als ihn der Bundesversammlung* für die Wiederwahl im Sommer vorzuschlagen - wenn sie nicht das amtierende Staatsoberhaupt vor aller Welt desavouieren und eingestehen wollen, daß sie 1959 einen falschen Kandidaten nominiert haben.
Die Stimmen der CDU/CSU-Wahlmänner reichen freilich nicht hin, um eine zweite Amtsperiode Lübkes in den ersten beiden Wahlgängen zu sichern**. Zumindest müßte der freidemokratische Koalitionspartner Wahlhilfe leisten. Die FDP jedoch findet daran keinen Gefallen.
Aus dieser Situation könnte nur die oppositionelle SPD, in der Bundesversammlung fast ebenso stark wie die CDU/CSU, der christlichen Staatspartei heraushelfen. So ist es zu erklären, daß sich die Christdemokraten neuerdings Mühe geben, der SPD freundlich zu begegnen.
Konrad Adenauer wies seine Parteipropagandisten in der vergangenen Woche sogar an, erst einmal alles hintanzuhalten, was die SPD-Prominenz verärgern könnte. -
Die Sozialdemokraten genießen derweil ihre Schlüsselposition, die sie dem Trotz der Liberalen verdanken. Sie warten darauf, um etwas gebeten zu werden, wozu zwar ihre Führung, aber noch nicht die Gesamtpartei entschlossen ist: den schwarz-roten Wahlbund für Heinrich Lübke.
Auf diese Allianz sieht sich der Bundespräsident, wenn er ohne mehrmalige Kampfabstimmung gewählt werden will, angewiesen, seit ihm der FDP-Vorsitzende Erich Mende Mitte Januar freimütig Rede und Antwort stand.
Lübke fragte: »Was haben denn Ihre Herren eigentlich gegen mich, Herr Mende?« Antwort: »Wir haben verfassungspolitische Bedenken. Die Wiederwahl soll nicht die Regel werden, sondern eine seltene Ausnahme sein.«
Überdies haben die Freien Demokraten handfeste parteipolitische Vorbehalte: Der Herr Bundespräsident - so Mende zu Lübke - habe 1961 und 1962 die SPD ins Kabinett bringen wollen; man müsse verstehen, daß der FDP das nicht sympathisch gewesen sei.
Mende heute: »Es kann nicht unsere Aufgabe sein, einem solchen Mann erneut ins Präsidentenamt zu verhelfen.« Obendrein: »Bei Herrn Lübke ist wohl eine allgemeine Abneigung gegen den Liberalismus festzustellen.«
Fazit: »Herr Bundespräsident, ich muß Ihnen sagen, mindestens zwei Drittel unserer Wahlmänner würden im Falle Ihrer Kandidatur weiße Stimmzettel abgeben.«
Aber: »Meldungen, daß wir einen eigenen Kandidaten aufstellen wollen, eilen den Tatsachen voraus.«
Jene Zeitungsmeldungen hatten zuerst den Kandidatennamen Thomas Dehler genannt. Dazu Bundestagsvizepräsident Dehler: »Ich war davon genauso überrascht wie alle anderen auch.«
Da Dehler wegen seiner temperamentvollen Ausdrucksweise und unorthodoxen politischen Ansichten für Christdemokraten nicht akzeptabel ist, würde er allenfalls mit einer SPD-FDP-Mehrheit in der Bundesversammlung gewählt werden können.
Aber auf eine solche Rechnung hatten sich die Sozialdemokraten gar nicht erst verlassen, weil sie voraussahen, daß die FDP nicht für einen SPD -Kandidaten und damit gegen ihren CDU-Koalitionspartner stimmen, sondern sich allenfalls der Stimme enthalten würde.
Als Frei- und Sozialdemokraten in der ersten Februarwoche über die Präsidentenwahl berieten, sagte Herbert Wehner zu Mende: »Herr Dehler würde unsere Stimmen nicht bekommen.«
Mende: »Über eine Kandidatur Dehlers ist bei uns nie gesprochen worden.«
Der FDP-Chef erkundigte sich bei diesem Treffen, ob denn die Sozialdemokraten einen eigenen Kandidaten nominieren wollten. Die SPD-Unterhändler verneinten. Ihr Rezept: »Wir wollen einen Gemeinschaftskandidaten aller Parteien, und den schlagen wir nicht vor.«
Tatsachlich haben die Sozialdemokraten an einen Präsidentschaftskandidaten ihrer Partei bislang nicht gedacht. Lediglich Hamburgs Altbürgermeister Max Brauer hatte im Parteivorstand aufbegehrt: »Für eine so große Partei wie uns ist es unwürdig, auf einen eigenen Kandidaten zu verzichten.«
Die Genossen begriffen rasch, daß Brauer sich selbst für das höchste Staatsamt empfehlen wollte, und wechselten das Thema.
FDP-Mende bestätigte den Sozialdemokraten, ihr Verzicht entspreche den Realitäten: »Es wäre koalitionspolitische Schizophrenie, wenn wir gegen die CDU einen SPD-Kandidaten wählen würden.« Übrigens könne keinem daran gelegen sein, sich gegen die stärkste Partei zu verbünden. Wehner fügte hinzu: Man dürfe den Bundespräsidenten »nicht mit einem Trick« wählen.
Den Sozialdemokraten fiel die nächstliegende Frage ein: Wenn die FDP den Lübke ablehne und einen Sozialdemokraten auch nicht wolle - wer denn nun eigentlich von ihr vorgeschlagen werde. Die Freidemokraten hatten gleich eine ganze Liste mit Gemeinschaftskandidaten besonderer Art zur Hand: »angesehene Wissenschaftler«, nämlich
- den Philosophen Weizsäcker aus
Hamburg,
- den Juristen Jahrreiß aus Köln und
- den Historiker Heimpel aus Göttingen.
Dazu Wehner spöttisch: »Weil wir keinen Feldmarschall mehr haben, soll es diesmal also ein Professor Hindenburg sein.« Das Amt des Bundespräsidenten
- so Wehner und Erler - sei ein politische
Amt, in das ein Politiker gehöre.
Verlegen sahen die Freien Demokraten einander an, als der amtierende SPD-Fraktions-Chef Fritz Erler einen Brief Weizsäckers aus der Tasche zog. Es stellte sich heraus, daß die FDP keinen ihrer drei professoralen Wunschprinzen auch nur gefragt hatte.
Erler hingegen war in Hamburg mit Weizsäcker zusammengetroffen. In dem Brief, den der SPD-Mann den FDP -Unterhändlern zeigte, verwarf der Philosophieprofessor eine »unpolitische Lösung« für das Präsidentenamt und lehnte mithin seine Kandidatur ab.
Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Willi Weyer kam auf das SPD-Rezept zurück: »Sie sprachen vorhin von einem Gemeinschaftskandidaten. Was meinen Sie damit? Wäre zum Beispiel Herr Gerstenmaier einer?«
Antwort: »Ja, schon.«
Die Sozialdemokraten schätzen Bundestagspräsident Gerstenmaier seit langem als einen Mann der Großen Koalition.
Den Freidemokraten vermochte SPD -Wehner jedoch klarzumachen, warum Gerstenmaier als Bundespräsident nicht in Betracht kommen könne: Die Christdemokraten würden niemals neben den Protestanten Erhard im Kanzleramt, Schröder, Hassel und Dahlgrün in den wichtigsten Kabinettsressorts auch noch einen evangelischen Bundespräsidenten zulassen.
Gerstenmaiers Konfession inspirierte Parlamentarier und Presse, im katholischen Lager der CDU/CSU nach einer Alternative zu Heinrich Lübke zu fahnden. In den Blättern tauchten die Namen auf von
- Sonderminister Heinrich Krone,
- Bundesverfassungsgerichts-Präsident
Gebhard Müller,
- Ministerpräsident Kurt Georg Kiesinger
und
- Europa - Parlamentspräsident a.D. Hans Furler.
Aber keiner der vier war gefragt worden, ob er gegen Parteifreund Lübke antreten wolle. Die Version Kiesinger verschreckte immerhin einige Freidemokraten im Schwabenland. Dort hatte der Landtagswahlkampf begonnen, weshalb die südwestdeutschen Liberalen die vermeintliche Präsidentschaftskandidatur des Stuttgarter Regierungschefs Kiesinger als einen ausgeklügelten Wahlschlager der CDU-Konkurrenz empfanden.
Im Gegenzug sorgten sie dafür, daß die Heimatpresse auch den katholischen FDP-Bundesjustizminister Ewald Bucher aus Schwäbisch Gmünd für die Präsidentenwahl offerierte. Bonner Fraktionskollegen bedrängten den Minister am Dienstag vorletzter Woche im Bundeshaus: »Sie haben silbernes Haar, und katholisch sind Sie auch. Sollten wir Sie nicht zu unserem Präsidentschaftskandidaten machen?«
Bucher, 49: »Ich bin doch viel zu jung dazu. Und gegen den amtierenden Bundespräsidenten würde ich wohl nicht kandidieren. Außerdem habe ich persönlich ein sehr gutes Verhältnis zu Lübke.«
Als Erzvater Adenauer den Namen Gerstenmaier las, griff er sogleich zum Telephon: »Herr Gerstenmaier, ich lese eben in der Zeitung, daß Sie für die Präsidentschaft in Frage kommen. Was soll denn das bedeuten? Das richtet doch den größten Schaden für die Partei an.«
Gerstenmaier ließ unverzüglich verbreiten, er sei zu einer Kandidatur nicht bereit. Denn: »Kandidat der CDU/CSU ist der gegenwärtige Bundespräsident Lübke.«
Am Donnerstag vorletzter Woche trafen die Spitzen der drei Bundestagsparteien im Bundeshausbüro des Altkanzlers Adenauer zur Präsidentschafts -Diskussion zusammen.
Die Vertreter von SPD und FDP hatten der CDU/CSU ausdrücklich zugebilligt, als größte Partei habe sie das erste Vorschlagsrecht. Gleichzeitig jedoch schränkten die Freien Demokraten ein, als Gemeinschaftskandidat kämen für sie nur Gerstenmaier, Gebhard Müller oder Kiesinger in Frage. Barzel schnitt den FDP-Faden ab: »Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, meine Herren, daß die CDU nur einen Kandidaten hat, und das ist Herr Dr. Lübke.«
Die Sozialdemokraten antworteten hinhaltend, die zuständigen Parteigremien würden über den CDU-Vorschlag beraten.
Eine Stunde später berichtete Adenauer dem Bundespräsidenten, daß man leider nicht einig geworden sei.
Der Sauerländer Lübke ließ sich nicht beirren. Anfang des Jahres noch hatte er eine breite Mehrheit aus allen Parteien für sich verlangt. Nun aber war er auch mit weniger zufrieden: »Ich stelle mich zur Wahl, selbst wenn eine Kampfabstimmung droht.«
* Die Bundesversammlung, die alle fünf Jahre den Bundespräsidenten wählt, setzt sich zusammen aus den Abgeordneten des Bundestages und einer gleichen Zahl von Wahlmännern, die von den Landtagen entsprechend deren parteipolitischer Zusammensetzung delegiert werden.
** In den ersten beiden Wahlgängen ist die Mehrheit der Stimmen der Mitglieder der Bundesversammlung erforderlich. Über diese Mehrheit verfügt die CDU nicht. Im dritten Wahlgang ist gewählt, wer die meisten Stimmen bekommen hat.
Bundespräsident Lübke: »Ich stelle mich einer Kampfabstimmung«
Philosoph von Weizsäcker* Kandidatur abgelehnt
* SPIEGEL-Titel 19/1957.