»PROTESTANTENBLUT SOLL FLIESSEN ...«
In der Long Bar war auch am Samstag punkt 22 Uhr Feierabend wie in allen Kneipen Belfasts. Das Gesetz ist da streng. Es gibt in der nordirischen Hauptstadt mehr Pubs als Bäume. Die Gesetzgeber sorgen sich um die Volksgesundheit.
Die Trinker schimpften wie jeden Abend um diese Zeit. Aber die meisten hatten genug gehabt. Wer arm ist in Belfast und nicht Mitglied in einem privaten Klub, muß bis 22 Uhr betrunken sein. Einer, den sie Eddie nannten, faßte mich am Arm. »Komm, jetzt geht's los. Aber sag mir, daß du kein verdammter Papisten-Stiefellecker bist und keine verdammte Presse.«
Die Long Bar hat die rauchbraune Patina nordirischer Pubs: eine rissige hölzerne Stehtheke, zerschlissene Polsterbänke, Eisentische, Werbesprüche aus dem vergangenen Jahrhundert. Bierschaum, Schmutz und betrunkene Arbeiter hatten den Geruch von Elend. Hier soffen die Textilarbeiter schon ihr Guinness, als sie noch achtzehn Stunden am Tag arbeiten mußten, weiß der Wirt. Viel hat sich seitdem nicht geändert.
Auch draußen ist noch alles so wie vor Jahrzehnten in Belfasts protestantischem Proleten-Viertel Shankill. Irgendwo wurde geschrien. »Hab' ich recht -- es fängt an«, sagte Eddie. Vor den Häusern standen Frauen und Kinder. Die Häuser in Shankill unterscheiden sich in den phantasievollen Arrangements aus Plastikblumen auf der Fensterbank: Wände aus zweistöckigen Backsteinbauten an engen Gassen, dunkle Fensterhöhlen, Zwillingsschornsteine -- so wie sie der Manchester-Kapitalismus als billige Schlafstätten für billige Arbeitskräfte baute. Nach der Statistik sind 95 Prozent der Wohnungen ohne sanitäre Anlagen.
* Am 12. Oktober in Bett ast.
Die Schreie kamen aus einer Gruppe von Frauen am Ende der Straße, wo eine drei Meter hohe Wellblechwand den Weg versperrte. Die »Friedensgrenze« nennen das die Regierenden in feierlichem Ernst und die Shankill-Leute in wütendem Hohn. Sie trennt den evangelischen vom katholischen Slum mit Blech, Stacheldraht, Sandsäcken, Holzbrettern und Gewehren. Die Frauen riefen in das Katholikenviertel hinüber: Fucking Popists fucking pigs ... we'll get you. -- Kinder äfften sie nach.
In den Häuserzeilen gibt es bisweilen Unterbrechungen -- Trümmer, ausgebrannte Fassaden. Eddie erklärte: »Da haben Micks gehaust, stinkt immer noch.« Bis man sie im vergangenen August ausräucherte, lebten unter den 32 000 Protestanten noch fast 3000 Katholiken in Shankill,
In den Backsteinfassaden zwängen sich graue Kirchen und Gebetshäuser mit den gottesfürchtigen Parolen protestantischer Sekten. Es gibt in Belfast auch mehr Gotteshäuser als Bäume.
Aus Fenstern hängt der Union Jack. Fähnchen sind über die Gassen gespannt. Das endlose Graurot der Backsteinhütten ist zum heiligen Volksfest geschmückt. »Für Gott und die Königin«, sagen Inschriften.
Eddie ging schneller. Die Frauen in den Haustüren feuerten ihn an mit Obszönitäten, die nicht mehr den Katholiken, sondern den britischen Soldaten galten. Die Armee habe die Shankill Road besetzt, sagten sie.
Auf der Shankill Road waren vielleicht 2000 Demonstranten, Sie schwenkten britische Fahnen, ließen die Polizei hochleben, die sie angriffen. Es war nicht viel anders als am Abend zuvor, als an vielen Samstag-Abenden in Belfast.
Als sie die Polizistenkette mit einem Auto zu durchbrechen versuchten, kamen Soldaten aus einer Nebenstraße und schossen Tränengas. Es war eine Stunde und 40 Minuten, nachdem die Pubs geschlossen hatten.
»Schweine«, sagte Eddie. »Ich muß auf die andere Seite, zu den Jungen.« Es knallte aus dem Nebel der Gasgranaten, als würden Feuerwerkskörper augebrannt. Es pfiff in der Luft, als schwänge jemand eine Peitsche. Nicht weit von uns lag ein Polizist auf der Straße, ein anderer fiel plötzlich um und schrie. Eddie zog mich in einen Hauseingang: »Verdammt, die schießen ja richtig.« Er war fröhlich.
Der Polizist, den es zuerst getroffen hatte, wurde hinter einen Wagen gezogen und aufgerichtet. Er blutete am Kopf und starb nach einigen Minuten. Er war der 29jährige Constable Victor William Arbuckle, Vater eines zweijährigen Sohnes, erzählten seine überraschten, dann entsetzten Kollegen. Er war ein guter protestantischer Kirchgänger, gerade ausgezeichnet für besondere Tapferkeit vor den Katholiken. Im August war er von einem katholischen Molotow-Cocktail verletzt worden.
In Belfast hatte begonnen, was englische Zeitungen etwas übertrieben »die blutigste Nacht« und »die schwersten Straßenkämpfe seit 1922« nannten.
Wir versuchten durch Nebenstraßen, Liber Stacheldrahtverhaue auf die andere Seite der Barrikaden zu kommen. Mein Führer war beinahe 50. Er hatte so etwas, er wußte nicht wie oft, mitgemacht. Er sprach immer wieder vom Papst. Eine andere Erklärung für das Absurde hatte er nicht.
Als wir an den bleichen Kindern, an den Frauengesichtern, aus denen man kein Alter lesen kann, vorbeigingen, erklärte er doch: »Uns geht es hier nicht schlecht. Du mußt mal zu den Papisten rübergehen. Die hausen wie die Schweine. Die sind faul, wollen nicht arbeiten, aber unsere Jobs und unsere Häuser wollen sie.«
Die Proletarier von Shankill hatten in dieser Nacht nichts zu verlieren als das Bewußtsein. nicht die Ärmsten zu sein. Sie kämpften um alles, was sie hatten. Daß sie, die Prods. besser seien als die Micks, hatten Pfarrer, Politiker und Fabrikbesitzer Generationen von Unterbezahlten und Arbeitslosen gesagt.
Für die Leute von Shankill war der Klassenfeind immer im benachbarten Falls, dem katholischen Slum, und in Rom. Für sie hat es nie eine Arbeiterbewegung oder eine sozialistische Partei gegeben, sondern immer nur die Unionist Party, die ihnen das Privileg gab, nicht so arm zu sein wie die Katholiken. Noch vor den letzten Wahlen versprachen ihnen die Politiker ewigen Kampf gegen die Papisten.
In Nordirland liegen die Löhne zwar um 25 Prozent niedriger als im englischen Mutterland, in Shankill gibt es mehr als zehn Prozent Arbeitslose -- aber in Falls sind es 25 Prozent. Deswegen haben sie wieder die Unionists, die in London an dem rechten Flügel der Konservativen sitzen, gewählt.
Und nun, nachdem nicht nur kleine Läden, sondern auch Supermärkte und Fabriken gebrannt haben, soll das alles nicht mehr stimmen. Dieselben Politiker sagen plötzlich, alle seien gleich, auch die Katholiken. Alle sollten das gleiche Stimmrecht haben, die gleichen Jobs, die gleichen neuen Sozialwohnungen mit Dusche und Toilette.
Eddie sagt, alle in Shankill sagen das: »Man hat uns beschissen.« Sie wissen nur noch nicht, wann und wie.
Es gibt zwei Parolen an den Häusern, die sind häufiger als alle anderen. Sie sind nicht hastig hingeschmiert, sondern in Blech gestanzt oder auf Karton gedruckt und hängen oft nebeneinander; »Guinness is good for you« -- »God is right«. Mit Guinness-Bier und dem guten (protestantischen) Gott sind Shankill-Generationen beruhigt und beherrscht geworden. Bis zu diesem Sonnabend.
Hinter den Barrikaden war der Haß mörderisch. Drei oder vier Jungen schossen mit Pistolen auf alles, was sich bewegte. Molotow-Cocktails flogen, drohten die eigenen Leute zu verbrennen, die in Ausfällen immer wieder versuchten, an die Stellungen der Armee hinter Panzerwagen und Trümmern heranzukommen. Aus den Seitenstraßen schrien Frauen. Sie schickten ihre Kinder mit Töpfen voll Essigwasser zu den Barrikaden, das gegen Tränengas schützen sollte. Zehnbis Zwölfjährige brachten benzingefüllte Flaschen.
Es gab kein Ziel des Hasses mehr. Ein alter Betrunkener stand in den Gaswolken vor der Barrikade mit ausgebreiteten Armen, einen Stein in jeder Hand, Speichel vor dem Mund. Er schrie immer wieder denselben Satz: »We're the fuckin people of fuckin' Shankill and fuck' em all.« Er laute es noch auf der Bahre der Ambulanz.
Gegen ein Uhr kam ein offener MG-Sportwagen aus einer Seitenstraße. Stephen fuhr ihn, ein knapp 30jähriger Unternehmer, den ich aus der Hotelbar kannte. Er war auch betrunken und weinte -- das schien nicht nur vom Tränengas, sondern auch von Herzen zu kommen. Er besaß ein Fabrikgebäude in der Shankill Road, das er an Handwerksbetriebe vermietet hatte, und wollte sehen, ob es noch stand. Es brannte noch nicht. Die großen britischen Fahnen schützten es.
Stephen sagte schluchzend: »Darüber dürfen Sie nicht schreiben. Das ist nicht Belfast, nicht Nordirland.« Er erzählte, daß, wo er wohne, noch an diesem Nachmittag Protestanten und Katholiken zusammen Kricket gespielt hätten. Er kam gerade von einem Fest im Jacht-Klub: »Wir haben mit Katholiken getanzt, Späße gemacht, gelacht, glauben Sie mir. Das hier sind die Arbeitslosen, nein, Asoziale, die nicht zu beschäftigen sind.«
Zwei Abende später, wieder an der Hotelbar, war Stephen besser gelaunt. Er verriet, daß er auch ein Geschäft für Verglasungs- und Malerarbeiten habe und in Shankill Road und Umgebung in den letzten Monaten für 12 000 Pfund umgesetzt habe. Er fügte hinzu: »Aber das ist all das Blut und die Tränen nicht wert.«
Er hatte in einigem recht: In den Vororten gibt es keinen »Religionskrieg«, Villen wurden nicht von Villenbesitzern niedergebrannt. Slumbewohner steckten Slums an. Es waren die Arbeitslosen von Shankill und Falls, die in der vordersten Reihe gegeneinander kämpften. Es sind die Armen, die die Ärmsten hassen.
Im Katholikenviertel um die Falls Road war man in dieser Nacht für den Bürgerkrieg gerüstet. Die Soldaten, die mich über ihre Barrikaden in den anderen Teil des Slums ließen, meinten, weit werde ich nicht kommen.
Die gleichen Backsteinmauern, die gleichen Plastikblumen hinter den Fenstern. Nur die Parolen an den Wänden sind anders. Am Tage scheint hier alles etwas schmutziger. Die Katholiken versuchen nicht wie die protestantischen Frauen, das Grau von den Backsteinen zu scheuern. In ihren Zimmern hängen statt Buntdrucken des englischen Königpaares Bilder der Kennedys. Sie führen die Jungfrau Maria häufiger in den Wandsprüchen als Jesus und den lieben Gott.
Die Katholiken waren nicht vor den Türen. Ihre Fenster waren dunkel. Sie haben zuviel Angst, um richtig hassen zu können. Die Bewohner der Falls nennen ihr verbarrikadiertes Getto jetzt »Free Belfast«. Seit August regieren sie es selbst. Kein Polizist hat seitdem die freie Stadt betreten.
Die Regierung sitzt in einem etwa 20 Quadratmeter großen Raum über einem der wenigen nicht ausgebrannten Pubs: ungestrichene Wände, ein Tisch, zwei Stühle, eine Schreibmaschine, ein Vervielfältigungsgerät und das wichtigste, ein Telephon.
Die übernächtigten jungen Männer des Verteidigungskomitees lehnten an den Wänden. Über das Telephon kamen Lageberichte von Spähern aus der Shankill Road. Telephonisch gingen Instruktionen an die Wachtposten.
Sie sagten, sie seien besser gerüstet als im August. Vor zwei Monaten hatten sie nur ein Maschinengewehr und ein paar Pistolen, Benzinflaschen und Steine. Damals zündeten die Shankill-Nachbarn unter dem Schutz von Polizei und bewaffneter protestantischer Bürgerwehr 400 Häuser an.
In den Falls weiß man sehr genau, warum man kämpft. »Zunächst einmal ums nackte Leben«, sagte Oliver, Pressesekretär des Komitees. »Dann um die Befreiung von jahrhundertealter kolonialer Unterdrückung.«
Seit Heinrich II. 1171 die Insel eroberte und das Land an englische Barone verteilte, Elizabeth I. nach vielen Schlachten den Iren die englische Kirchenverfassung diktierte, Cromwell die Katholiken niederwarf und die Ländereien im heutigen Nordirland ausschließlich Protestanten übereignete, Wilhelm von Oranien noch einmal gegen die Aufständischen siegte, hat sich am Status der Kelten kaum etwas geändert.
Die englischen Feudalherren wurden vom britischen Kapitalismus abgelöst; die neuen Herrscher regierten mit den Mitteln des Mittelalters am bequemsten. Als sie 1920 den Norden politisch vom Süden trennten und England eingemeindeten, mußten sie nicht einmal das parlamentarische System des Mutterlandes übertragen. Vielklassen-Wahlrecht, manipulierte Wahlkreise, Apathie der Unterdrückten, die Unterstützung des protestantischen Proletariats im angeblichen Religionskampf sicherten konservative Macht.
Die jungen Leute im Verteidigungskomitee meinten, das Mittelalter sei für sie endgültig vorbei. Spätestens seit dieser Nacht, in der Protestanten auf Protestanten schossen.
Die meisten der Jungen, die seit zwei Monaten das »Freie Belfast« regieren, sind Sozialisten. Sie sagen, die Einheit des Proletariats sei wichtiger als die Wiedervereinigung Irlands.
Doch vorerst dringt ihre sozialistische Lehre nicht einmal bis in die Häuser der katholischen Arbeitslosen. Mittlerweile müssen sie nicht nur gegen die Protestanten kämpfen, sondern auch gegen die eigene Kirche, der bange geworden ist In Free Belfast. In den Fenstern der Falls hängen keine sozialistischen Kampfparolen, sondern Bibelsprüche und die ängstlich-mahnende Frage: »Hast du heute schon deinen Rosenkranz gebetet?«
Auf der Shankill Road, um drei Uhr morgens, hatten sich die Auf ständischen einige hundert Meter zurückziehen müssen. Panzerfahrzeuge hatten die erste Barrikade erobert. Seit einer Stunde schoß die Armee zurück.
Mehr als 20 Soldaten waren trotz kugelsicheren Westen mit Schußverletzungen abtransportiert worden. Die Disziplin der uniformierten Straßenkämpfer hatte etwas Heroisches. Noch immer schienen sie nur gezielt auf Mündungsfeuer zu zielen.
Die Shankill-Leute hatten ein Maschinengewehr auf die Straße gebracht, Zwei Pistolenschützen hockten daneben. Auf beiden Seiten wurde ohne Unterbrechung geschossen. Die Ambulanzen schafften den Abtransport der Verletzten nicht mehr.
Ein Mann wurde in eine Seitenstraße gezerrt. Er hatte eine Schußwunde im Nacken, saß aufrecht, sagte etwas, bis er plötzlich nach vorn klappte. Frauen schrien Obszönitäten. Als jemand den Namen eines zweiten Toten nannte, brach eine der Frauen zusammen. Die beiden Erschossenen waren Vettern. Sie waren gemeinsam von einer Geburtstagsfeier gekommen.
Als es dämmerte, wurde es ruhiger. Gegen sieben Uhr war es totenstill auf der Shankill Road. Die Feuerwehr kam, doch es gab nichts mehr zu löschen. Dann die Bulldozer und Kranwagen, die in kaum zwei Stunden die Trümmer der Nacht beseitigten. Es folgten die Ladenbesitzer und Belfasts Jeunesse dorée mit Taschentüchern vor den Gesichtern gegen den Gestank von Rauch und Tränengas.
Gegen zehn Uhr rief der Protestanten-Führer Ian Paisley zur Andacht. Fast 2000 Menschen sangen mit ihm: »Stand up! -- stand up for Jesus!
... Von Sieg zu Sieg wird seine Armee uns führen ... Heute noch der Lärm der Schlacht -- morgen schon das Lied des Sieges.«
Paisley ließ seine Gemeinde der Armen die Köpfe senken, die Augen schließen, den Herrn in sich fühlen und erläuterte die Ereignisse der Nacht: »Protestantenblut soll Shankill Road hinunterfließen, damit der Kommunismus siegt.«
In seinen Predigten und Traktätchen haben sich Judentum und die Uno-Flagge, der Papst und der Bolschewismus zur Weltverschwörung des Antichristen gegen das englische Königshaus verbündet. Die Leute von Shankill verehren Paisley.
Der Schrecken dieses Wochenendes erschütterte noch das Londoner Oberhaus. Lord Stonham forderte, den Priester Paisley vor Gericht zu stellen, denn »wer arme Leute zur Gewalt auf hetzt, an dessen Händen klebt Blut«. Die so plötzlich aufgeschreckten Demokraten in England suchen nach zeitgemäßen Formen der Herrschaft für Nordirland. Sie versuchen, den Statthaltern in Belfast klarzumachen, daß die Formel, teile das Proletariat und herrsche, nicht mehr stimmt.
Die viel Geld in Nordirland investiert haben, drängen am ungeduldigsten auf Reform. Wo sie gestern noch die politische Idylle des Frühkapitalismus wähnten, fürchten sie nun Faschismus und sozialistischen Umsturzversuch. Viele glauben, daß es schon zu spät sein könnte.
Auf der Shankill Road wurde am Sonntagabend wieder geschossen. Der junge Offizier, der hinter einem Panzerwagen Deckung suchte, mahnte seine Leute, die 48 Stunden nicht geschlafen hatten, zur Beherrschung. Er war nicht beunruhigt, denn am Sonntag blieben die Kneipen geschlossen. »Die haben heute nicht genug Alkohol im Bauch. Bis am nächsten Sonnabend die Pubs schließen, wird nicht viel passieren.«