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Artikel 36 / 60

ptx ruft moskau

Von Heinz Höhne
aus DER SPIEGEL 25/1968

4. Fortsetzung

Die Gruppe Schulze-Boysen / Harnack

Die Berichte der Funkabwehr ließen keinen Zweifel mehr, die sowjetischen Funksprüche -- von Fu III aufgefangen und entschlüsselt -- bewiesen es: Mitten im Zentrum des totalitären Staates Adolf Hitlers, im Schatten der schier allmächtigen Gestapo, arbeitete eine der ehrgeizigsten Spionagegruppen Moskaus.

Je mehr sich Kriminalkommissar Johann Strübing, Chefermittler der Gestapo in Sachen Rote Kapelle, in die Akte der Funkabwehr vertiefte, desto phantastischer erschien ihm, was er da las. Wichtige Kriegsgeheimnisse Hitler-Deutschlands waren an Moskau verraten, über 500 Meldungen an die sowjetische Zentrale gefunkt worden.

Wer aber waren die Führer dieser Spionageorganisation, wo saßen die wichtigsten Agenten? Eine Spur verrieten die aufgefangenen Meldungen: In den Funksprüchen tauchten immer wieder die Namen »Choro« und »Arwid« auf. Strübing kam eine Idee.

Der Gestapo-Kommissar griff nach einem Funkspruch, in dem die Moskauer Spionage-Zentrale am 10. Oktober 1941 ihren Chefagenten Kent in Brüssel angewiesen hatte, drei führende Mitglieder des Berliner Ringes in deren genau beschriebenen Wohnungen aufzusuchen. Die Gestapo wußte inzwischen, wer die Mieter der drei Wohnungen waren: der Oberleutnant Harro Schulze-Boysen, Referent im Reichsluftfahrtministerium, der Oberregierungsrat Dr. Arvid Harnack, Abteilungsleiter im Reichswirtschaftsministerium, und der Schriftsteller Dr. Adam Kuckhoff.

Strübing verglich die Funksprüche mit den ermittelten Namen der drei Mieter. Sollte »Choro« die russische Form von Harro sein und zu Harro Schulze-Boysen passen, »Arwid« hingegen Arvid Harnack heißen?

Ein Blick in die Gestapo-Akte über Schulze-Boysen beseitigte manchen Zweifel.« Schulze-Boysen ist der Geheimen Staatspolizei seit 1933 bekannt«, wird später ein Mitarbeiter Strübings protokollieren und damit nur bestätigen, was das Berliner Landeskriminalpolizeiamt schon am 1. April 1933 behauptet hatte: Eine von »Schu-Boy« (so nannten ihn die Gestapo und auch seine Freunde gern) geleitete Organisation sei »radikal kommunistisch eingestellt«.

Strübing gab Order, das Telephon Schulze-Boysens und der beiden anderen Mieter zu überwachen. Die Tonplattengeräte der Gestapo zeichneten jedes Gespräch der Verdächtigen auf, allmählich erkannte die Gestapo erste Umrisse der Roten Kapelle, erfuhr sie die Geschichte einer seltsamen Spionageorganisation antifaschistischer Intellektueller und Arbeiter.

Immer deutlicher wurde, daß Harro Schulze-Boysen der Motor des gegnerischen Unternehmens war, eine Art charismatischer Führer, der seine Gruppe vorantrieb, energisch, rücksichtslos, unvorsichtig bis zur Todesverachtung, immer nur ein Ziel vor Augen -- das nationalsozialistische System zu stürzen.

Er war einer jener fanatischen Beweger, die keine temperierten Urteile über sich zulassen. Für die einen war er Idealist, Romantiker und Widerstands-Held, für die anderen Scharlatan, Wirrkopf und Landesverräter.

»Ein schönes, ein reines Gesicht«, so beschreibt ihn sein treuester Freund, der Bühnenautor Günther Weisenborn. »Ein Bild dessen, das sie sich in Romanen von einem jungen Offizier erträumten, herrlich gewachsen, blauäugig, kühn, dahinter der suggestive Schwung eines genialen Politikers.« Dem NS-Gegner Rainer Hildebrandt, fiel auf: »Das kalte Feuer, das in seinen Augen brannte, das große magere Kinn, in dem die Muskeln bisweilen spielten, konnte nur zu einer Natur gehören, der es ums Ganze geht.«

Anders formulierten die Kritiker. »Eine ausgesprochene Abenteurernatur, klug und gewandt, rücksichtslos auch in der Ausnutzung seiner Freunde, im höchsten Grade ehrgeizig«, fand ihn der Senatspräsident Dr. Alexander Kraell, dessen Gericht später den Agentenchef Schulze-Boysen verurteilte. Der Historiker David Dahin hielt ihn für einen »Mann der nie erlahmenden Tatkraft, in der Wahl seiner Mittel skrupellos«, und »viel zu gefühlsbetont und unbeständig, um einen gehorsamen »Apparatschik« abzugeben«.

Am ehesten sind sich Freunde und Gegner noch über Schulze-Boysens Hang zum Irrationalen einig. »Er war durch eine völlig romantische Schulung gehandicapt«, schrieb der Schweizer Philosoph Adrien Turel über seinen Freund. »Dies hat dann in der Folge einen herostratischen Zug in ihm entwickelt.«

Selbst Partner Harnack, der strenge Marxist« nannte ihn einen Wirrkopf ohne konstante Linie, und Schu-Boy-Freund Hugo Buschmann hatte Mühe, den Mann, der sich einen Kommunisten hieß, mit den simpelsten Grundvorstellungen des Marxismus-Leninismus vertraut zu machen.

Mancher Zug seines Wesens verriet, daß er zur Nachhut der deutschen Jugendbewegung gehörte. In ihm verkörperte sich noch einmal der Aufbruch einer romantisch-revolutionär gestimmten Jugend, die alle Klassengrenzen sprengen und die bürgerliche Gesellschaftsordnung des Weimarer Deutschlands reformieren wollte.

Sie nannten sich Nationalrevolutionäre und fühlten sich als »eine Auffangstation«, wie ihr Interpret Karl 0. Paetel sie deutet, als »ein Forum rechts und links wegen ihrer unbequemen Eigenwilligkeit ausgeschalteter Elemente": junger Bürgersöhne in Rebellion gegen den Muff des Besitzbürgertums, junger Arbeitersöhne im Protest gegen sterilen Proletarier-Stolz, junger Adliger im Aufstand gegen antiquierten Aristokraten-Hochmut.

Eine »Junge Front« wollten sie bilden gegen die erstarrten Parteien von rechts und links, als dritte Macht wollten sie sich zwischen die Marschkolonnen der Roten und Braunen schieben, die schon über den Leichnam der parlamentarischen Demokratie hinweg zur letzten Schlacht antraten. Die Jungen gaben sich einem verführerischen Traum hin: die Gegner zu versöhnen, sie zu vereinigen in einem neuen Glauben, der proletarischer Nationalismus oder nationaler Sozialismus hieß.

Freilich: Mochten auch die Köpfe der Jungen Front aus dem Bürgertum stammen, das Herz schlug links. Die Nationalrevolutionäre konnten sich eine Zukunft nur im Sozialismus vorstellen; der Klassenkampf wurde akzeptiert, ja ins Weltweite gewendet. Mit Hilfe der Sowjet-Union, deren planwirtschaftliches System auch für Deutschland als Vorbild galt, sollte ein »Völkerbund der unterdrückten Nationen« entstehen, dazu berufen, die »Ketten von Versailles« zu zerbrechen.

Die Sprache erinnerte an das braune Vokabular, dennoch verabscheuten die Nationalrevolutionäre die NS-Partei. Für sie waren die Nazis Verräter am Sozialismus, seit sich der nationalsozialistische Linksaußen Otto Strasser ("Die Sozialisten verlassen die Partei") von dem kleinbürgerlichen Opportunisten Hitler getrennt hatte. Und Adolf Hitlers Schlägerkolonnen erwiderten Haß und Hohn der Jungen Front auf ihre brutale Art.

Harro Schulze-Boysen hatte es an sich selber erfahren. Auch ihn, den 1909 in Kiel geborenen Großneffen des Admirals von Tirpitz und Sohn eines Fregattenkapitäns, hatte der Protest gegen bürgerliche Lethargie mit dem deutschnationalen Elternhaus in Konflikt gebracht. Revolution und Geheimbündelei zogen ihn frühzeitig an, schon 1923 -- er war damals noch Schüler an einem Realgymnasium in Duisburg -- beteiligte er sich am unterirdischen Kampf gegen die französischen Ruhr-Besatzer und wurde zeitweise von ihnen eingekerkert.

Nach dem Abitur (Note: »Gut"> trat er 1928 dem »Jungdeutschen Orden« Arthur Mahrauns bei, dessen nationalistische, wiewohl republiktreue und paneuropäische Ordensmystik den Jura-Studenten Schulze-Boysen begeisterte. An der Freiburger Universität, seiner ersten akademischen Station, warb er eifrig für deutsch-französische Verständigung.

Die Übersiedlung an die Berliner Universität im Jahr 1930 aber entfremdete ihn dem völkischen Weltbild des Ordensmeisters Mahraun. Schulze-Boysen hatte sich Im Arbeiterviertel Wedding ein Zimmer gemietet; die Berührung mit dem Berliner Proletariat ließ ihn auf der Rechten weiter nach links rutschen: in das Lager von Otto Strassers »Schwarzer Front«.

Im Sommer 1932 geriet der Tirpitz-Abkömmling in einen Kreis Berliner Nationalrevolutionäre, die fast alle politischen Mächte der Republik befehdeten. Schulze-Boysen wurde Redakteur eines der schärfsten antinazistischen Kampfblätter« der Monatszeitschrift »Gegner«.

Um den Schlesier Frain Jung, einen von seiner Partei abgefallenen Altkommunisten, hatten sich Nationalisten vieler Lager zusammengefunden. Ihr Sprachrohr war die Zeitschrift »Gegner«, der Name ein Programm. Sie wollten die Gegner von rechts und links zu einer dritten Kraft zusammenschließen -- gegen die Nazis.

Abseits des Anti-NS-Programms konnten sich die »Gegner«-Leute freilich kaum über ein gemeinsames Ziel verständigen. Sie huldigten im Grunde einem Programm der Programmlosigkeit, scheuten vor konkreten Formulierungen zurück und begnügten sich damit, dem Protest junger Deutscher gegen das Establishment der unglaubwürdig gewordenen Parteien als Forum zu dienen.

Gleichsam als Diskussionsleiter benötigte Jung einen Mann, der mit möglichst vielen im »Gegner«-Kreis vertretenen Gruppen vertraut war. Schulze-Boysen war dieser Mann. Es gab kaum eine oppositionelle Jugendgruppe, mit der er nicht Kontakt hielt.

Schulze-Boysen ließ sich von Jung in die redaktionelle Arbeit einweihen und zeichnete bald als Herausgeber des »Gegner«. Von Heft zu Heft steigerten sich die Polemiken gegen die nationalsozialistische Gefahr, von einer Nummer zur anderen wuchs der Beifall junger Nonkonformisten in nahezu allen Parteien.

Schulze-Boysen ging dazu über, in Berliner Cafés sogenannte »Gegner«-Abende zu veranstalten. Er ließ junge Menschen »Gegner«-Artikel diskutieren, lud Vertreter der Parteien ein und erörterte Zukunftsfragen deutscher Politik. --

Selbst der Skeptiker Jung mußte später zugeben: »Die Abende, zuerst in kleineren Versammlungsräumen, waren bald so überfüllt, daß wir Parallel-Veranstaltungen abhalten mußten. Es herrschte eine außerordentliche Disziplin, eine merkwürdige Kameradschaft zwischen Links und Rechts. Junge Leute, die sich auf der Straße sofort verprügelt hätten, hörten sich Argumente an, einig in der gemeinsamen Ablehnung des doktrinären bramarbasierenden Parteibonzentums und der steifnackigen Übermenschen.«

Ein konkretes Programm konnten jedoch auch solche Erörterungen nicht zutage fördern. Nur Schulze-Boysen und seine engeren Freunde begannen, ein nationalbolschewistisches Ziel zu formulieren: Die Zukunft Europas, so Schu-Boys Leitgedanke, liege in dem Bündnis einer Elite der Jugendbewegung mit dem Proletariat und jener Sowjet-Union, in der »ein neuer Adam« gezüchtet werde.

Noch nahm er daran Anstoß, daß eine deutsche Partei, die KPD« von den Direktiven der sowjetischen Zentrale abhängig sei, noch sah er nicht die völlige Identität zwischen deutschen und russischen Interessen, aber immer deutlicher wurde Schulze-Boysens proletarierfreudiges Antiwestlertum. Der »Gegner« konstatierte: Der Aufstand der deutschen Jugend gegen den erstarrten Westen sei das beherrschende »Urphänomen« der Zeit.

Bedenkenlos feierte die Zeitschrift die deutsch-sowjetische Bruderschaft der Zukunft. Dazu Memoirenschreiber Jung: »Ich verrate kein Geheimnis mehr, wenn ich sage, daß die russische Botschaft für den Vertrieb des »Gegner regelmäßig einen Zuschuß gezahlt hat.«

Selbst nach dem Sieg des Antibolschewisten Hitler bekannte sich der »Gegner« zum östlichen Mekka: In Rußland, so hieß es im letzten »Gegner«-Heft (Frühjahr 1933), entstehe der »neue Mensch«, Deutschland aber sei von Krämpfen befallen; der Westen werde Deutschland immer fremder, mit dem Osten aber sei das deutsche Volk wahlverwandt.

Desto erbarmungsloser schlugen Deutschlands neue NS-Herren in der Nacht der langen Messer auf ihre prosowjetischen Opponenten ein. Anfang April 1933 überfiel ein Rollkommando der SS-Standarte 6 die Redaktion des »Gegner« in der Schellingstraße 1, verwüstete die Räume und beschlagnahmte sämtliche Exemplare der inzwischen verbotenen Zeitschrift. Herausgeber Schulze-Boysen und seine beiden Freunde Adrien Turel und Henry Erlanger wurden an den Stadtrand Berlins verschleppt, in eines jener entlegenen »wilden KZ«, in denen NS-Rabauken mit ihren Gegnern »abrechneten«, wie sie es nannten.

Man warf sie, notierte Turel, »in einen Kegelkeller, der als Polizeiwache eingerichtet war. Auf dem kahlen Boden lag Stroh. Darüber große schwarzrotgoldene Fahnen, die als Bettzeug dienten. Dort mußte ich mich unter greller Beleuchtung hinlegen«.

Der Schweizer Turel durfte bald wieder gehen, aber die beiden anderen sahen sich hemmungslosem Sadismus ausgeliefert. Auf einem Hof stellten sich zwei Spießruten-Reihen bewaffneter SS-Männer auf, die durch Gebrüll ihre Häftlinge vorwärtstrieben und mit bleibestückten Peitschen auf sie einhieben. Dreimal -- das befohlene Pensum -- kämpfte sich Schulze-Boysen nackt durch den Peitschenhagel, keuchend, blutend, verzweifelt.

Da sprang er unaufgefordert zurück und lief ein viertes Mal durch die Reihen der Folterer. Kaum noch seiner Sinne mächtig, schlug er die Hacken zusammen und schrie: »Melde gehorsamst: Befehl ausgeführt plus Ehrenrunde.« Einige SS-Männer riefen beeindruckt: »Mensch, du gehörst doch zu uns!«

Schulze-Boysen überlebte den Todeslauf, der zarte Intellektuelle Erlanger aber überstand ihn nicht. Nie konnte Schulze-Boysen den Mord an seinem Freund überwinden, mehr als

* Auf der Reichstagung der Schwarzen Front Leuchtenburg bei Jena, 1932.

die eigenen Qualen und Wunden bestärkte ihn der Tod Erlangers darin, einem Regime mit solchen Sadisten niemals die Hand zu reichen.

Schulze-Boysen wäre freilich dem Folterlager der SS-Standarte kaum entronnen, hätte nicht seine Mutter eingegriffen. Marie-Louise Schulze, Tochter eines Flensburger Rechtsanwalts, war sofort nach Berlin gefahren, als sie von ihrem Schwager, dem Kammergerichtsrat Werner Schulze, erfahren hatte, Harro sei verschwunden.

Schwager Schulze ermittelte, daß sein Neffe auf Veranlassung des SS-Standartenführer Hans Henze verhaftet worden war, dessen Einheit als »Hilfspolizeikommando« fungierte. Mutter Schulze steckte sich ein Parteiabzeichen an, aktivierte ehemalige Crew-Kameraden ihres Mannes und fuhr in die Potsdamer Straße 29, Henzes Hauptquartier.

Nach langem Palaver ließ sich Henze erweichen. Einen Tirpitz-Nachfahren wollte auch er nicht länger eingekerkert wissen, zumal die Parteigenossin Schulze versprach, ihr Sohn werde fortan von jeder »staatsfeindlichen Tätigkeit« Abstand nehmen und Berlin verlassen. Die Folterer gaben ihren Gefangenen frei.

Frau Schulze erinnert sich: »Aber wie sah er aus! Leichenblaß mit tiefen schwarzen Schatten unter den Augen, das Haar mit der Gartenschere abgehackt, kein Knopf mehr am Anzug. Er erzählte, wie sie den Halbjuden Erlanger auf geradezu bestialische Weise totgeprügelt hatten.«

Die Advokatentochter erstattete daraufhin bei der Polizei Anzeige gegen die SS-Standarte 6 wegen des Mords an Henry Erlanger. Die SS schlug zurück: Am 30. April griff sie sich erneut Schulze-Boysen, wieder verschwand er in einem Verlies.

Empört intervenierte Mutter Schulze bei dem Berliner Polizeipräsidenten, dem Admiral Magnus von Levetzow. Dessen Stellvertreter ließ Harro gefesselt vorführen, erbittert rief der Gefangene: »Mama, du hast mich hier hereingebracht, jetzt bring mich auch wieder heraus!« Darauf Frau Schulze: »Du bist morgen frei, oder ich bin auch gefangen.«

Aus dem »Morgen« wurden zwei Wochen, Mitte Mai war der »Gegner«-Chef endgültig frei. Er kannte von nun an nichts anderes mehr als Rache, als den Sturz der Tyrannei. Ernst von Salomon, auch er ein ehemaliger »Gegner«-Autor, traf Schulze-Boysen Ende 1933 und »erkannte ihn nicht. Sein Gesicht war sehr verändert. Ihm fehlte ein halbes Ohr, sein Antlitz war von rötlichen, kaum vernarbten Wunden gezeichnet. Er sagte: »Ich habe meine Rache auf Eis gelegt!"«

Zunächst freilich galt es, eine schützende Stellung im Dschungel der braundeutschen Hierarchie zu gewinnen. Schon dem Mitarbeiter Salomon hatte Schulze-Boysen anvertraut, seine Zukunft liege in der Wehrmacht; das Militär bot noch den besten Schutz vor den Aufpassern des Regimes.

Schulze-Boysen wollte unter Hermann Görings Flieger gehen. Ein Jahr lang ließ er sich als Seebeobachter auf der Deutschen Verkehrsflieger-Schule in Warnemünde ausbilden, unter deren zivilem Aushängeschild die deutsche Luftaufrüstung vorangetrieben wurde. Er fühlte sich jedoch unter seinen Lehrgangskameraden isoliert, die instinktiv ahnten, daß Schulze-Boysen nicht an dem Begeisterungstaumel der »nationalen Revolution« teilnahm.

»Ja, die letzten Monate sind schon schwer gewesen«, schrieb er seinen Eltern.« Meine speziellen »Freunde« haben mir hier manche Kränkung zugedacht, und zuerst war ich oft ratlos, wie ich das alles überstehen sollte.« Auch die Vorgesetzten überzeugte er nicht, sie ließen ihn bei der Abschlußprüfung durchfallen -- im Kunstflug scheiterte er.

Der gestrandete Flieger nutzte seine immensen Sprachkenntnisse er beherrschte Französisch, Englisch, Schwedisch, Norwegisch, Dänisch und Holländisch -, lernte Russisch hinzu und empfahl sich der Luftwaffe als Dolmetscher. Doch Unteroffizier Schulze-Boysen mußte lange bei der Fliegerersatzabteilung Schleswig warten, ehe man seiner Dienste bedurfte.

Eine attraktive Blondine, begeisterte Nationalsozialistin und Arbeitsdienst-Führerin, half dem Hitler-Gegner weiter. Beim Segeln auf dem Wannsee hatte Schulze-Boysen sie im Sommer 1935 kennengelernt: Libertas ("Libs") Haas-Heye, Enkelin des musizierenden Wilhelm-II-Günstlings Fürst Philipp zu Eulenburg und Hertefeld (1847 bis 1921), Journalistin mit dichterischem Ehrgeiz.

Seltsame Zufälle verbanden die Fürsten-Enkelin mit den Herrschenden: Ihr Vater, Professor Wilhelm Haas-Heye, hatte in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße 8 die Kunstgewerbeschule geleitet, in deren Räumen Gestapo-Gründer Göring die Zentrale des Schreckens einrichtete, und die Mutter, von dem Professor geschieden, hielt auf dem väterlichen Gut Liebenberg engen Kontakt zu dem Nachbarn Göring, der gern von Karinhall herüberkam und sich von Gräfin Thora die Rosenlieder des alten Fürsten vorspielen ließ.

»Libs« fand Gefallen an dem Segelsportler Schulze-Boysen, am 26. Juli 1936 heirateten sie. Trauzeuge Göring öffnete dem jungen Ehemann das Tor zum Reichsluftfahrtministerium (RLM), mochte auch Schwiegermutter Schulze von dem »naiv-optimistischen Mädchen, das gern Quatsch machte und sehr leicht beeinflußbar war« (so der Vermieter der ersten Wohnung des Paars), wenig erbaut sein.

Marie-Louise Schulze paßte die ganze Heirat nicht, das war ihr alles zuwenig bürgerlich: Libs nicht »häuslich« genug, zu unreif, dem unruhigen Harro Halt zu geben -- in ihren Kreisen erinnerte man sich noch allzugut an die skandalumwitterte Homosexuellen-Runde des Fürsten Philipp.

Der Sohn dachte anders darüber. Mit seiner Frau verknüpfte ihn ein Band fast gieriger Lebenslust, zudem konnte er über die Verbindungen des Hauses Haas-Heye in den Machtapparat des Regimes eindringen. 1936 bot ihm das RLM einen privaten Angestelltenvertrag, er wurde in die Auslandspressegruppe eingegliedert.

Der Posten war klein, aber ausbaufähig. Die Auslandspressegruppe, die in Berlin-Nikolassee saß und von dem Major Werner Bartz geleitet wurde, gehörte zur 5. Abteilung des Luftwaffen-Generalstabes. Der einstige »Gegner«-Chef fand sich am Rande der Gehirnzentrale des RLM: Aufgabe der 5. Abteilung war die Beobachtung fremder Luftwaffen, und mit ihren Nebenabteilungen 6 (Nachschub) und 7 (Nachrichtenverbindungswesen) gehörte sie zum Luftwaffenführungsstab.

Schulze-Boysen begann, seinen kleinen Bereich zu erweitern. Er begnügte sich nicht damit, fremde Zeitungen zu lesen, Artikel aufzukleben und über Gelesenes Vortrag zu halten. Zu Hause in der Eineinhalb-Zimmer-Wohnung am Hohenzollerndamm büffelte er wehrpolitische Literatur, um militärische Kenntnisse vorweisen zu können, er meldete sich zu Reserveübungen und wurde Leutnant, er kehrte Diensteifer hervor, wo andere nachlässig waren.

Die Oberen wurden auf den fleißigen Referenten aufmerksam. Hauptmann Dr. Hans Eichelbaum von der Abteilung »Presse-Zentrale«, dem eigentlichen Pressedezernat des Ministeriums, bediente sich oft des Leutnants Schulze-Boysen, wenn es galt, Artikelschreiber für das regelmäßig erscheinende »Jahrbuch der deutschen Luftwaffe« zu finden.

Der Leutnant war stets schreibbereit. Da machte er sich dann -- so im Jahrbuch von 1939 -- Sorgen über die »militär-politischen Pläne des Bolschewismus«, der mit »juristisch durchaus nicht immer einwandfreien Methoden« seine gefährliche Aufrüstung vorantreibe. Doch dank dem Führer und der Münchner Sudeten-Konferenz »dürfte das tschechischslowakisch-karpato-ukrainische Restgebiet keine Drohung mehr für das Großdeutsche Reich darstellen. Die Gegner des Nationalsozialismus werden das so oft erwähnte und nunmehr torpedierte »Flugzeugmutterschiff« verlassen müssen!«

Unter solcher Tarnung drang er immer stärker in die geheimnisträchtigen RLM-Abteilungen vor, machte neue Bekanntschaften, knüpfte Verbindungen an. Die geheimen Unterlagen aber, die seinen offiziell-journalistischen Arbeiten zugrunde lagen, riefen in ihm eine unausrottbare Überzeugung wach: Adolf Hitlers Weg ging in den Krieg.

»Ich habe das zwar unbestimmte, aber sichere Gefühl, daß wir -- a la longue einer europäischen Katastrophe von Riesenausmaßen entgegengehen«, hatte er schon am 15. September 1933 an seine Eltern geschrieben. Jetzt bewies ihm Information auf Information. authentisch und unbezweifelbar, die gewissenlose Abenteurerpolitik des Diktators, die in einem neuen Weltkrieg enden mußte.

Doch was konnte man mit dieser Erkenntnis anfangen, wie ließ sich die Katastrophe aufhalten? Der Leutnant beriet sich mit sechs Freunden, die seit geraumer Zeit in einer Wohnung der Berliner Waitzstraße 2 zusammenkamen, Urzelle jener Organisation, die man später die Gruppe Schulze-Boysen nannte.

Es hatte mit einer Zufallsbegegnung auf der Straße begonnen, wenige Monate nachdem Schulze-Boysen dem Folterkeller der SS entronnen war. Damals hatte er Kurt Schumacher getroffen, einen aus Stuttgart stammenden Bildhauer, den er von der gemeinsamen Arbeit im »Gegner« her kannte. Der in Berlin lebende Schwabe gehörte zu den Verfemten des neuen Regimes: Kommunist Schumacher hing der abstrakten Kunst an und war von allen Ausstellungen vertrieben, seit das gesunde Volksempfinden der nationalsozialistischen Kunstzensoren triumphierte.

Nur mit Gelegenheitsarbeiten und dem Verdienst seiner jüdischen Frau, der Gebrauchsgraphikerin Elisabeth Hohenemser, auch sie Mitglied der KPD, konnte sich Schumacher am Leben erhalten. Desto mehr Zeit hatte er, mit den Mitteln des gelernten Marxi-

* Auf seinem Landsitz Karinhall, 1934.

sten das nationalsozialistische System zu analysieren.

Was ihm dabei an Formulierungskunst und Tatsachenmaterial fehlte, lieferte ihm ein dritter Genosse: Walter Küchenmeister, ehedem Redakteur an dem KP-Organ »Ruhr-Echo«. Der Ex-Matrose Küchenmeister war nach der NS-Machtübernahme von der SA in ein Konzentrationslager verschleppt und dann im Zuchthaus Sonnenburg eingekerkert worden, aber nach neun Monaten Haft hatte man den schwerkranken Mann -- er litt an Magengeschwüren und Lungentuberkulose -- in eine fragwürdige Freiheit entlassen.

Auch ihm, dem Arbeitsunfähigen, stand eine selbstlose Lebensgefährtin zur Seite, die Ärztin Elfriede Paul. Sie verkehrte mit Kurt Schumacher seit 1925 und hatte durch ihn Küchenmeister kennengelernt; sie zog mit dem Invaliden in eine gemeinsame Wohnung.

Zu diesem Kreis stießen 1936/37 noch zwei Aktivisten, denen es nicht genügte, in privaten Zusammenkünften über die braune Tyrannei zu lamentieren. Die Gesandten-Tochter Gisela von Poellnitz, eine junge leidenschaftliche Kommunistin, forderte Taten, und auch der nach mehrjährigem Amerika-Exil heimgekehrte Schriftsteller Günther Weisenborn, Pazifist und einziger Nichtkommunist der Runde, wollte Aktionen gegen das Regime sehen.

Fast automatisch richteten sich ihre Blicke auf Schulze-Boysen, dem sie wie keinem anderen vertrauten. Küchenmeister und Schumacher kannten ihn seit 1930, Weisenborn seit 1932, Gisela von Poellnitz war mit ihm indirekt verwandt. Er war die einzige Hoffnung der Gruppe. Er trug die Uniform des Regimes. Er verkehrte mit hohen NS-Funktionären. Er saß an einer -- wenn auch kleinen -- Schaltstelle des Machtapparates.

Die Diskussionsabende, die zuweilen auch in Schumachers Wohnung stattfanden, hatten zudem einen neuen Harro Schulze-Boysen offenbart. Abgefallen von ihm war die nationalrevolutionäre Doktrin, von Mal zu Mal sah er das Licht im Osten stärker blinken; nur der Kommunismus schien ihm noch Halt zu geben, wenn er auch zuweilen gegen stalinistische Gewaltmethoden Vorbehalte zeigte. Und Ehefrau Libertas, längst zur Antifaschistin bekehrt, war bereit, jeden Coup des »tollen« Harro zu decken.

»Wenn Sie dagegen sind«, fragte Schumacher eines Tages, »müßten Sie dann eigentlich nichts dagegen tun?« Weisenborn nickte, Schulze-Boysen stimmte ein, und bald war ein Plan gefaßt. mit dem man das Regime an einer sensiblen Stelle sabotieren wollte.

Der seit Monaten tobende Bürgerkrieg in Spanien gab eine Gelegenheit dazu; die blutigen Unruhen südlich der Pyrenäen luden die Simplifikateure der Ideologien geradezu ein, dort einen Kreuzzug gegen den »Faschismus« zu wittern. Spanien erschien auch den Verschwörern in der Waitzstraße als der erste Testplatz eines Krieges, in dem sich bewähren sollte, was sie Antifaschismus nannten. Und der Leutnant Schulze-Boysen kannte eine Möglichkeit, den Faschisten einen Schlag zu versetzen

Im Reichsluftfahrtministerium hatte sich der Sonderstab W des Generals der Flieger Helmuth Wilberg etabliert, der die deutschen Hilfsaktionen -- Freiwillige, Waffen und Munition -- für Caudillo Francos Bürgerkriegspartei lenkte. Vom RLM liefen geheime Fäden zu allen Franco-Partisanen, die gegen jene Linksrepublik kämpften, deren Stützung Moskau zum vordringlichsten Ziel antifaschistischer Volksfrontarbeit erklärt hatte.

Schulze-Boysen sammelte, was er über den Sonderstab W erfahren konnte: Details über die deutschen Spanien-Transporte, über eingesetzte Offiziere und Truppen, über Unternehmen der deutschen Abwehr. Die Informationen vertraute er Briefen an, die Gisela von Poellnitz in den Postkasten der sowjetischen Botschaft warf. »Geheimzuhaltende Abwehrvorgänge« habe Schu-Boy den Sowjets verraten, hielt nachher die Gestapo fest, und Heinrich Scheel, ein späterer Mitarbeiter Schulze-Boysens, will sich an das Wort eines Gestapo-Kommissars erinnern: »Während des spanischen Bürgerkrieges haben wir Leute von uns als Spione in die Internationale Brigade geschickt. Schulze-Boysen hat ihre Namen gewußt und den Roten übermittelt. Unsere Leute sind daraufhin an die Wand gestellt worden.«

Die Gestapo kam den Freunden in der Waitzstraße schnell auf die Spur. 1937 wurde Gisela von Poellnitz verhaftet, die Verschwörer sahen sich durchschaut.

Schon fuhr Küchenmeister nach Köln, um über die niederländische Grenze entkommen zu können, schon wollten Schulze-Boysen und Weisenborn nach Luxemburg flüchten, da wurde Gisela von Poellnitz wieder freigelassen; sie hatte nichts verraten. Schulze-Boysen kam mit einer Verwarnung durch die Gestapo davon.

Der RLM-Leutnant ließ sich nicht entmutigen, die Spionagearbeit war für ihn nur ein und nicht einmal der wichtigste Teil des Widerstandes gegen die nationalsozialistische Herrschaft. Politische Aufklärung erschien ihm damals als der zukunftsträchtigste Part jeder Untergrundarbeit.

Er wollte, so formuliert sein späterer Mitarbeiter Werner Kraus, durch Broschüren, Mundpropaganda und Maueranschläge »zur Aufklärung der verschiedensten Berufskreise« beitragen und »zur Bildung einer intellektuellen Elite« aufrufen. Er selber verfaßte in Heimabenden die Zeitschrift »Der Vortrupp«, Schumacher und Küchenmeister tippten antifaschistische Proklamationen ab, andere verteilten sie nachts in den Straßen Berlins.

»Die Flugblätter«, berichtet Weisenborn, »wurden in den Verkehrsmitteln, in Telephonzellen usw. liegengelassen. Eine andere systematische Art der Vertrei-

* Sowjetische Matrosen in spanischer Milizuniform erschießen einen antikommunistischen Spion mi spanischen Bürgerkrieg (aus einem Bericht des »New York American«, 23. Mai 1937).

bung von Flugblättern war die Versendung in frankierten Umschlägen. Die Anschriften, meist aus dem Telephonbuch dem Beruf nach ausgewählt, schrieben sie auf einer Maschine. Die Flugblätter wurden auf Vervielfältigungsmaschinen hergestellt.«

Die Gruppe Schulze-Boysen sollte sich von Woche zu Woche verbreitern, immer weitere Mitglieder wurden geworben. Zur Urzelle der Schu-Boy-Gruppe gesellten sich vor Kriegsausbruch das Kommunisten-Ehepaar Walter und Martha Husemann, unbeugsame Vertreter der roten Parteilinie, die Schulze-Boysen amourös verbundene Tänzerin Oda Schottmüller, der Mechaniker Paul Scholz.

Doch die politische Widerstandsarbeit geriet bald wieder ins Zwielicht; die Briefe der Gisela von Poellnitz hatten inzwischen die Neugier des sowjetischen Geheimdienstes geweckt. In Schulze-Boysens Leben trat der Mann, der vielen Antifaschisten zum Verhängnis werden sollte: der sowjetische Agentenwerber Alexander Erdberg.

Sein wirklicher Name war ebenso unsicher wie die Welt, in der er sich bewegte. Als Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft in Berlin nannte er sich Erdberg, in Berliner KP-Kreisen agierte er unter dem Namen Karl Kaufmann, im Spionagedienst figurierte er als Oberst Alexandrow. Experten sind heute davon überzeugt, daß er Wassilij Berger hieß, 1905 In Moskau geboren und seit 1930 im Dienst der sowjetischen Spionage. Ganz unbezweifelbar aber Ist, daß Erdberg, seit 1935 in Berlin, den Auftrag hatte, im Reiche Adolf Hitlers eine sowjetische Spionageorganisation aufzubauen. Erste Ansätze fand er bereits bei seiner Ankunft vor: Die Berliner Sowjetbotschaft unterhielt ein Informanten-Netz, das bis in das Reichswirtschaftsministerium reichte.

Der wichtigste Informant trug einen berühmten Namen: Dr. jur. et phil. Arvid Harnack, ein Neffe des Theologen Adolf von Harnack, gehörte zu den intelligentesten Köpfen der deutschen Bürokratie. Zurückhaltend, geistvoll, mit einem Zug zum Asketischen, scheinbar der Urtyp des hohen deutschen Ministerialbeamten und dennoch fanatisch-rigoros, diente er kompromißlos seinen sowjetischen Freunden.

Von ihm ging die Strenge und Überzeugungskraft des Doktrinärs aus, Ihm fehlte der Schwung, aber auch die Verschwommenheit seines späteren Partners Schulze-Boysen. Selbst dem Senatspräsidenten Kraell machte er »einen persönlich klaren und sehr viel sympathischeren Eindruck als Schulze-Boysen«.

Die Beschäftigung mit der marxistischen Wirtschaftstheorie hatte den bürgerlich-rechtskonservativen Professoren-Sohn zum überzeugten Kommunisten werden lassen. Er war Anhänger der sogenannten Gießener Schule, einer von Professor Friedrich Lenz vertretenen Richtung der deutschen Nationalökonomie, die dem »Prinzip der Totalplanung in einer ausbeutungsfreien Wirtschaft« (Lenz) huldigte.

Dieses Prinzip sah Lenz in den sowjetischen Fünfjahresplänen verkörpert; für ihn war die sowjetische Planwirtschaft ein diskutables, wenn auch nicht in allen Einzelheiten kopierbares Vorbild für die zwischen Kapitalismus und Kommunismus schwankende Wirtschaft Deutschlands. Auch dem Lenz-Schüler Harnack schien nur das russische Experiment ein Muster für die deutsche Zukunft.

Ein mehrjähriges Studium an der amerikanischen Universität in Madison bestätigte Harnack in dieser Überzeugung. Ende der zwanziger Jahre hatte er in Madison zwar sein Dissertationsthema ("Die vormarxistische Arbeiterbewegung in den Vereinigten Staaten") und seine Lebensgefährtin, die herb-faszinierende Literatur-Dozentin Mildred Fish, gefunden, aber Rußland blieb der Fixstern seiner Karriere.

Nach Abschluß seines volkswirtschaftlichen Studiums 1930 gründete Harnack gemeinsam mit Lenz in Berlin die »Arbeitsgemeinschaft zum Studium der sowjetrussischen Planwirtschaft« (Arplan), die sich bald reger Förderung durch die Sowjetbotschaft erfreute. Botschaftsrat Bessanow assistierte dem Planwirtschaftler Harnack, Botschaftssekretär Hirschfeld half mit Materialien aus.

Die sowjetischen Arplan-Förderer bahnten Beziehungen an, die den Geschäftsführer Harnack immer stärker mit der Sowjet-Union verbanden. 1932 ließ Bessanow seinen Freund Harnack und 23 andere Mitglieder der Gesellschaft nach Rußland reisen, wo sie auch von hohen Sowjetfunktionären empfangen wurden. Von nun an war Harnack überzeugt, daß nur mit den Mitteln der sowjetischen Planwirtschaft die ökonomische Krise Deutschlands überwunden werden könne; allein ein festgefügter deutsch-sowjetischer Wirtschaftsblock werde die Zukunft des Reiches garantieren.

Der Sieg des Nationalsozialismus zwang Lenz und Harnack, die Arplan aufzulösen. Harnack mußte zeitweilig aus Berlin verschwinden und in Jena seine juristische Ausbildung vollenden. Dennoch ließ er nicht ab von seiner Zukunftsvision, einem aufgeklärten Kommunismus spezifisch deutscher Art.

1934 kehrte er wieder nach Berlin zurück, entschlossen, sein Reich vor-

* Ausstellung über illegale Tätigkeit der Kommunisten im Dritten Reich (im Geheimen Staatspolizeiamt, Berlin).

zubereiten: das Reich der absoluten Planwirtschaft. Der Regierungsrat Harnack, inzwischen in das Reichswirtschaftsministerium gelangt, seit 8. Juli 1937 auch Mitglied der NSDAP (Nr. 4 153 569), war bereit, seinen Weg geradlinig zu Ende zu gehen -- in engster Tuchfühlung mit seinen russischen Freunden.

Wann er in den Dienst des sowjetischen Geheimdienstes getreten ist, läßt sich nicht mehr rekonstruieren. Als die Diplomvolkswirtin Greta Lorke, überzeugte Marxistin wie Harnack, ihren ehemaligen Kommilitonen 1933 in Berlin wiedersah, gehörte er bereits zu den Informanten der Berliner Sowjetbotschaft.

Sie hatten sich auf der Universität in Madison kennengelernt, dann aber aus den Augen verloren. 1930 war Greta nach Zürich gegangen, um für die Partei in einer kommunistischen Tarnorganisation, dem »Bund für geistige Berufe«, zu arbeiten. Erst drei Jahre später rief die Partei sie ins Hitler-Reich. Dort wartete schon ihr neuer Mitarbeiter: Harnack.

Greta Lorke trat in das Rassenpolitische Amt der NSDAP ein und übersetzte Goebbels-Reden ins Englische, zuweilen auch Partien aus Hitlers »Mein Kampf«. In ihrer Freizeit aber schrieb sie die geheimen Berichte ab, die Harnack aus dem Reichswirtschaftsministerium herausschmuggelte. Dann gab die Genossin die Berichte auf den Kurierweg.

In Neukölln wartete schon der nächste Empfänger: John Sieg, Deutsch-Amerikaner aus Detroit, ehedem Mitarbeiter der »Roten Fahne« und Kontaktmann des kommunistischen Untergrundapparates. Er gab das Harnack-Material nach Leipzig weiter, wo ein nach Rußland reichendes Kuriersystem begann.

KP-Konfident Sieg verfügte in Berlin noch über weitere Informanten. Zu ihnen gehörte auch ein massiver Mann, mit dem sich Greta Lorke bald liieren sollte: der Schriftsteller Adam Kuckhoff.

Ihn kannte Sieg von seiner Mitarbeit an der jugendbewegten Zeitschrift »Die Tat« her, die der Rheinländer Kuckhoff bis 1930 als Chefredakteur geleitet hatte. Er war romantischer Nationalist, hatte eine Zeitlang mit den Nationalsozialisten sympathisiert und war nach dem Gleichschaltungs-Terror von 1933 zum enragierten NS-Gegner geworden.

Er nannte sich seither einen Kommunisten, dennoch hatte der stets von Geldsorgen umwölkte Dichter Kuckhoff Mühe, seine vaterländischen Werke wie das Drama »Till Eulenspiegel« oder den Film »Ein Leben für Irland« mit der Arbeit für den kommunistischen Untergrund in Einklang zu bringen. Greta Lorke half ihm aus seinen ideologischen Schwierigkeiten: 1937 heiratete sie ihn.

Die jungvermählte KP-Agentin war freilich vorsichtig genug, dem gesprächigen Ehemann nicht die ganze Wahrheit über den Partner Harnack anzuvertrauen. Sie arbeitete mit beiden Informanten zusammen, aber keiner -- das war Befehl der sowjetischen Botschaft -- sollte von der Spionagearbeit des anderen erfahren.

Kuckhoff hielt Harnack prompt für einen prinzipienlosen Karrieremacher und erregte sieh über ihn so, daß er ihn einmal auf der Straße stellte und ins Gesicht schlug. Greta Kuckhoff notierte: »An der Reaktion merkte ich, daß mit Harnack alles in Ordnung war.«

Der Dichter wußte auch nicht, wer. seit 1935 die Arbeit der Harnack-Gruppe zentral lenkte: Alexander Erdberg. »Auftraggeber für Harnack«, so Greta Kuckhoff, »war die Botschaft, Alexander Erdberg, auch genannt Karl Kaufmann.«

Doch dem Agentenwerber Erdberg genügte nicht die Arbeit der Harnack-Gruppe. Die vorwiegend wirtschaftlichen Informationen waren für Moskau wichtig, aber der heraufziehende Zweite Weltkrieg machte es erforderlich, über jeden Aspekt der deutschen Kriegsmaschine unterrichtet zu sein. Was der sowjetische Geheimdienst jetzt benötigte, waren Details und noch einmal Details über Hitlers Wehrmacht.

Die Briefe der Gisela von Poellnitz zeigten, wo der sowjetische Geheimdienst den Hebel ansetzen mußte. Schulze-Boysen war der Mann, der militärische Informationen liefern konnte. Erdberg faßte den Plan, die Gruppen Schulze-Boysens und Harnacks miteinander zu vereinigen.

Greta Kuckhoff tat den ersten Schritt, sie nahm Kontakt zu dem Ehepaar Schulze-Boysen auf. Noch im Sommer 1939 machte ein gemeinsamer Bekannter, der Berliner Rechtsanwalt Dr. Engelsingk, in seinem im Grunewald gelegenen Haus die Kuckhoffs und die Schulze-Boysens miteinander bekannt.

Kurz darauf stellte Harnack den neuen Partnern seinen Auftraggeber Erdberg vor. Ehe Hitlers Divisionen in Polen einfielen, setzten sich Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen zu einer gemeinsamen Arbeit zusammen, die erst der Henker in Plötzensee beenden sollte.

Der Regierungsrat war freilich nicht sonderlich angetan von dem jungenhaften Leutnant, der sofort die Führung der beiden Gruppen an sich zu reißen versuchte. Dem unsentimentalen, gleichwohl auf gutbürgerliche Ordnung bedachten Marxisten Harnack mochte der national-revolutionäre Romantiker Schulze-Boysen mit seinen allzu flotten Segel- und Wohnungspartys wie ein unreifer Revoluzzer vorkommen, dem man schwerlich eine so gefahrvolle Arbeit wie die Leitung einer Widerstandsorganisation anvertrauen könne.

Greta Kuckhoff bestätigt denn auch, Ehemann Kuckhoff habe sofort erkannt, »daß Schu-Boy Zucht brauchte« -- eine kleine Anspielung auf Schulze-Boysens exotisches Privatleben und die Sorglosigkeit, mit der sich Harro und Libertas, beide auf der Flucht aus ihrer rasch brüchig gewordenen Ehe, durch die Betten weiblicher und männlicher Mitglieder der Gruppe arbeiteten. Das dünkte die Kuckhoffs nicht als Bruch einer Spießermoral, wohl aber als Vergehen gegen die Moskauer Konspirationsregeln.

Diese Regeln sahen auch andere KP-Funktionäre aus dem Lager Harnacks durch Schulze-Boysen gefährdet. So wollte sich der Linguist Wilhelm Guddorf, Professoren-Sohn und Zögling sowjetischer Schulen, just aus dem KZ entlassen und in das Kuriersystem John Siegs eingebaut, nur nach beharrlichstem Zureden zur Zusammenarbeit mit dem Salonkommunisten« Schulze-Boysen verstehen, zumal er wußte, daß die Partei Schu-Boys Partnerschaft mit dem Ex-Redakteur Küchenmeister mißbilligte, der wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten aus der KP ausgeschlossen worden war.

Erdberg zeigte wenig Verständnis für solche Querelen; er hielt Harnack und Schulze-Boysen immer wieder zur Zusammenarbeit an und drängte, die Organisation schnell auszubauen. Die beiden Gruppenführer dehnten das Netz ihrer Beziehungen und Kontakte aus.

Nicht ohne diskrete Assistenz Erdbergs konnte Schulze-Boysen Überlebende des deutschen Komintern-Apparates seiner Organisation anschließen.

Da war die Altkommunistin Klara Schabbel, Spartakus-Kämpferin, Sekretärin der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin und Lebensgefährtin des in Paris als Komintern-Chefagent arbeitenden Henry Robinson. Da war Kurt Schulze, in der Sowjet-Union als Funker ausgebildet, 1927 auf Befehl der Partei aus der KPD ausgetreten und in den illegalen Apparat übernommen. Und da war das wunderlichste Produkt geheimer Kominternarbeit: die Agentenfamilie Hübner! Wesolek.

Der Bäcker Emil Hübner, der schon 1919 in die KPD eingetreten war, arbeitete seit Ende der zwanziger Jahre für den sowjetischen Geheimdienst. Einer seiner Söhne emigrierte nach 1933 in die Sowjet-Union, ein anderer Sohn, Max Hübner, ebenfalls seit 1919 KP-Mitglied, half seinem Vater bei der Weiterleitung anreisender Sowjetagenten.

Rußlands Geheimdienst richtete den Hübners in Berlin ein Rundfunk- und Photogeschäft ein, in dessen Hinterzimmern eine Paßfälscherwerkstatt angelegt wurde. Bei Kriegsbeginn war das Hübner-Geschäft bereits das zentrale Berliner Absteigequartier für sowjetische Geheimdienstier, und je häufiger Sendboten aus Moskau eintrafen, desto mehr Familienmitglieder stellte Opa Hübner an: zunächst seine Tochter Frida, dann deren Ehemann Stanislaus Wesolek, schließlich auch die Enkel Johannes und Walter Wesolek.

Neben den Komintern-Überlebenden trat eine neue Gruppe kommunistischer Hitler-Gegner in Schulze-Boysens Organisation ein. Auch hier spielte wieder der Zufall: Kurz nach dem Kriegsausbruch suchte die Bibliothekarin Lotte Schleif bei Freunden Schulze-Boysens Hilfe; sie wurde von der Angst gepeinigt, die Gestapo könne ihr jeden Augenblick auf die Spur kommen.

Lotte Schleif hielt in ihrer Wohnung einen Freund, den Sozialisten Rudolf Bergtel, versteckt, der wenige Tage zuvor aus einem Arbeitslager entflohen war; 1935 hatte man ihn wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Bibliothekarin aber kannte nur einen Gedanken: Rudolf muß weg.

Sie wandte sich in ihrer Bedrängnis an die ihr bekannte Kommunistin Ilse Schaeffer, deren Mann -- der Stadtbibliothekar Dr. Philip Schaeffer -- ebenfalls aus politischen Gründen im Zuchthaus saß. Lotte Schleif wußte, daß die Frau ihres Kollegen zu Widerstandskreisen Kontakt unterhielt, die verfolgte Antifaschisten ins Ausland brachten.

Frau Schaeffer half. Sie brachte Lotte Schleif zu ihrer Freundin Elfriede Paul, die Küchenmeister-Gefährtin empfahl sie weiter an Elisabeth Schumacher, und bald war der Flüchtling Bergtel in Sicherheit. Kurt Schumacher brachte ihn über die Grenze, in die Schweiz. Von nun an zählte auch die Bibliothekarin vom Prenzlauer Berg zu den Mitgliedern des Schu-Boy-Kreises.

Sie eröffnete den antifaschistischen Verschwörern Verbindungen zu anderen Gegnern der NS-Herrschaft. Lotte Schleif kannte den Philologie-Studenten Heinrich Scheel, der zu einem Schülerkreis gehörte, in dem Jungkommunisten den Ton angaben. Neue Namen tauchten auf: Hans Coppi, zukünftiger Funker der Roten Kapelle, und Hans Lautenschläger, in Zukunft Flugblattverteiler der Gruppe Schulze-Boysen. Scheel, Coppi und Lautenschläger hatten die gleiche Schule besucht, die als Experimentieranstalt gegründete Schulfarm auf der Insel Scharfenberg bei Tegel am Stadtrand Berlins.

1941 trat eine zweite und noch größere Schülergruppe in Schulze-Boysens Gesichtsfeld. Ihr Wortführer war der Berliner Nervenarzt Dr. John Rittmeister, ein Linkssozialist und Pazifist mit philosophischen Neigungen, der 1938 wegen kommunistischer Umtriebe aus der Schweiz ausgewiesen worden war.

Er sammelte um sich einen Kreis junger Menschen, die eher durch intensive Diskussionen und Lektüreabende als durch spektakuläre Plakat-Aktionen die Bevölkerung für einen Umsturz der politischen Verhältnisse gewinnen wollten. Die Masse der Rittmeister-Anhänger kam von den Schulbänken des Dr. Heil'schen Abendgymnasiums in Berlin, das auch die spätere Schauspielerin Eva Knieper besuchte.

Eva Knieper war die Freundin Rittmeisters, im Juli 1939 heirateten sie Frau Rittmeister aber hielt weiterhin Kontakt zu ihren ehemaligen Schulkameraden und gewann einen nach dem anderen für die Sache ihres Mannes: die Hoteliers-Tochter Ursula Goetze, den HJ-Führer Otto Gollnow, den Justierer Fritz Rehmer und seine Freundin Liane Berkowitz, den Dreher Fritz Thiel und seine Braut Hannelore Hoffmann.

Später kamen noch andere NS-Gegner in den Rittmeister-Kreis, so Rittmeisters Studienfreund Werner Kraus, der als Angehöriger einer Dolmetscher-Kompanie nach Berlin verschlagen worden war und bei Ursula Goetze in Untermiete wohnte, so der Zahnarzt Bruno Himpel, den die antisemitischen Gesetze des Regimes -- er durfte seine jüdische Freundin Rosemarie Terwiel nicht heiraten -- zum Gegner des Nationalsozialismus hatten werden lassen.

Auch diesen Kreis wußte Harro Schulze-Boysen seiner Schattenarmee einzugliedern. Von Monat zu Monat erweiterte sich das Netz seiner Kontaktleute, scherten immer mehr rote Antifaschisten in das Lager Schu-Boys ein. Auch Harnack warb neue Mitkämpfer, unter ihnen den AEG-Ingenieur Karl Behrens und die Stenotypistin Rose Schlösinger.

Den prominentesten unter den Neulingen hatte ihm Kuckhoff zugeführt: Es war Dr. Adolf Grimme, ehemaliger Kultusminister Preußens, religiöser Sozialist und alter Studienfreund Kuckhoffs. Der Ex-Minister zeigte sich freilich nur an staatspolitischen Theorien interessiert; gern diskutierte er mit Harnack und Kuckhoff über die Zukunft von Religion, Sozialismus und Reich.

Doch noch ehe Schulze-Boysen und Harnack ihre Widerstandsorganisation bis zum letzten Mann ordnen konnten, brach der Tag der Entscheidung heran. Adolf Hitlers Panzerarmeen rüsteten sich zum Überfall auf die Sowjet-Union.

Agentenchef Alexander Erdberg gab das Zeichen zum Einsatz. Sowjetrußlands Geheimdienst verlangte seinen Agenten im Reich ab, was selbst deutschen Kommunisten leises Unbehagen bereitete: Spionage für die Sowjet-Union -- Spionage gegen das eigene Land.

IM NÄCHSTEN HEFT

Schulze-Boysen informiert Moskau über deutsche Angriffsziele -- Eine Wahrsagerin horcht für die Rote Kapelle Offiziere der Wehrmacht aus -- Sowjetische Fallschirmagenten tauchen in Berlin auf

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