Der Horchposten Brüssel, Herzstück in Leopold Treppers sowjetischer Spionageorganisation, hat der Roten Armee die ersten wichtigen Informationen über die deutsche Kriegsmaschine geliefert, Brüssel muß auch aushelfen, wo das Nachrichtensystem des Grand Chef empfindliche Lücken aufweist: im Berliner Netz des deutschen Oberleutnants Harro Schulze-Boysen.
Das im Reich gespannte Netz ist zu schnell gewachsen. Die sowjetischen Diplomaten sind bei Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges nach Rußland abgeschoben und gegen das Personal der deutschen Botschaft in Moskau ausgetauscht worden. Vor ihrer Abreise haben sie in aller Eile noch einige Saatkörner auf deutschem Boden ausgestreut, wahllos, wie man gegen den Wind sät, wenn die Zeit drängt.
Das ist keine Methode beim Nachrichtenwesen; auf diesem Gebiet rächt sich die Hast noch mehr als anderswo.
Die zeitweilige Funkstille des Berliner Senders? Die Unerfahrenheit des Funkers ist daran schuld. Er hat irrtümlich das für Wechselstrom eingerichtete Gerät -- es war ihm von einem Beamten der Sowjetbotschaft ausgehändigt worden -- an das Gleichstromnetz angeschlossen; der Sender schmorte durch. Als er wieder repariert ist, findet sich der Pianist, wie man im Spionage-Jargon einen Funker nennt, nicht mehr in den kompli-
© 1968 Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg.
* In der Sendestation einer Agentengruppe im besetzten Frankreich, 1942.
zierten Instruktionen zurecht, mit denen man ihn überschüttet.
Es sind ausgezeichnete Angaben für einen erfahrenen Techniker, aber sie überfordern die Kenntnisse eines Anfängers. Der russische Beamte hatte ihm befohlen, sein Rufzeichen und seine Wellenlänge nach einer bestimmten Anzahl von durchgeführten Sendungen einem festgelegten System folgend zu ändern.
Mit diesem System konnte man die Jäger der gegnerischen Funkabwehr auf Distanz halten. Eine »durchgeführte Sendung« ist für Moskau eine Funkverbindung, in deren Verlauf Nachrichten übermittelt wurden. Der Funker hatte das mißverstanden: Er hielt jede Verbindung für eine »durchgeführte Sendung«, selbst wenn er eine bereits durchgegebene Meldung nur wiederholt oder irgendwelche technischen Einzelheiten geklärt hatte.
Unvermeidliche Folge dieses Mißverständnisses: Die Zentrale erwartet den Funkspruch auf einer bestimmten Wellenlänge, während der Funker vergeblich auf seiner Welle Moskau ruft.
So kann das nicht weitergehen. Die Zentrale der sowjetischen Spionage in Moskau beschließt, erfahrene Funker über Deutschland mit Fallschirmen abzusetzen. Außerdem wird am 10. Oktober 1941 Kent, der zweite Mann des Spionageapparates in Belgien, zu Hilfe gerufen.
Merken wir uns diesen von der Zentrale in den Äther geschickten Funkspruch. Durch. ihn wird später ein Mann in Zylinder, Gehrock und weißen Handschuhen auf den Plan gerufen -- der deutsche Henker. Denn aufgrund dieser wenigen, gleichgültig durchgegebehen Sätze werden Dutzende von Männern und Frauen geköpft und gehenkt werden: KLS von RTX. 1010. 1725. 99wds. qbt. An Kent von Direktor. Persönlich. Begeben Sie sich sofort zu den drei angegebenen Adressen in Berlin und stellen Sie fest, weshalb Funkverbindung ständig versagt. Falls Unterbrechungen sich wiederholen, Obernehmen Sie Funkübermittlung. Arbeit der drei Berliner Gruppen und Nachrichtenübermittlung von größter Wichtigkeit. Adressen: Neu-Westend, Altenburger Allee 19. Drei Treppen rechts. Choro. -- Charlottenburg. Fredericiastrase 260. Zwei Treppen links. Wolf. -- Friedenau. Kaiserallee 18. Vier Treppen links. Bauer. Erinnern Ste hier an Ulenspiegel. -- Kennwort Überall: Direktor, Geben Sie Nachricht bis 20. Oktober. An allen drei Stellen mit Funkplan am 15. vormittags neu (wiederhole: neu) beginnen. qbt, ar. KLS von RTX.
Kent fährt nach Berlin mit dem Auftrag, dort auszuhelfen. Er hat schon im April 1941 mit dem deutschen Netz Verbindung aufgenommen. Diesmal trifft er die beiden Verantwortlichen des Berliner Kreises im Zoologischen Garten. In wenigen Tagen verschafft er dem Berliner Pianisten ein Zusatzgerät und bringt ihn mit einem alten kommunistischen Kämpfer zusammen, der dem Funker Nachhilfeunterricht geben soll.
Anfang November kommt Kent, zufrieden mit seiner erfüllten Mission, nach Brüssel zurück. Aber eine schlechte Nachricht erwartet ihn: Der Berliner Pianist kann nicht mehr musizieren. Kurz nach Kents Abreise haben die Peiltrupps der deutschen Funkabwehr ihre Jagd begonnen. Berlin muß schweigen.
Gemäß den Befehlen aus Moskau sollen nun alle in Berlin gesammelten Nachrichten von Brüssel aus übermittelt werden. Der umsichtige Kent hat im voraus Dispositionen getroffen: Ein Kuriersystem zwischen Deutschland und Belgien steht für diesen Fall bereit.
Doch sind diese Nachrichten, die das Berliner Netz zwar zusammentragen, aber nicht selbst nach Moskau funken kann, wirklich so wichtig? Man urteile selber:
An Direktor von Choro. Quelle: Maria. Aus der Festung Königsberg ist schwere Artillerie in Richtung Moskau unterwegs. In Pillau wird schwere Küstenartillerie in gleicher Richtung verladen.
In einer anderen Meldung heult es: An Direktor von Choro. Quelle: Gustav.
Die Verluste der deutschen Panzerwaffe an der Ostfront betragen bis heute mengenmäßig den Materialbestand von elf Divisionen.
Und wieder funkt der Pianist in Brüssel nach Moskau:
An Direktor von Choro. Quelle: Arwid. Hitlers Befehl lautet auf Einnahme Odessas bis 15. September. Verzögerung störte erheblich Dispositionen für deutschen Vormarsch am Südflügel. Information stammt von einem Offizier des OKW.
Die Berliner Agentengruppe kann in ihren Meldungen sogar die Auffassungen der sowjetischen Militärführung korrigieren:
An Direktor von Choro. Quelle: Moritz. Dortige Ansicht unzutreffend, Plan lt ist bereits vor drei Wochen in Kraft getreten. Voraussichtlich Erreichung der Linie Archangelsk-Moskau-Astrachan bis Ende November. Aller Nachschub wird seither nach diesem Plan geregelt.
Schier pausenlos tickt das Brüsseler Funkgerät
An Direktor von Charo. Quelle: OKW über Arwid.
An der Ostfront haben die meisten deutschen Divisionen infolge der erlittenen schweren Verluste ihre normale Zusammensetzung eingebüßt. Sie bestehen nur noch zu einem Bruchteil aus Leuten mit voller Ausbildung und setzen sich im übrigen aus Leuten mit einer Ausbildung van vier bis sechs Monaten zusammen, ferner Mannschaften mit einem Sechstel der notwendigen Ausbildungszeit.
Diese Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen, denn es gibt Hunderte solcher Funksprüche. Die Berliner haben genaue Informationen über die deutsche Produktion an Treibstoff und chemischen Erzeugnissen; sie kennen die Zahl der Flugzeuge, die jeden Monat im Reich und in den deutschbesetzten Gebieten fertiggestellt werden.
Dem Berliner Kreis sind manche Angriffspläne der Wehrmacht, die Verteilung der Streitkräfte und der Umfang des Nachschubs bekannt. Er unterrichtet Moskau über die deutschen Verluste an Truppen und Material.
Auch Brüssel wird von der Zentrale mit Anfragen überschwemmt. Einige betreffen deutsche Truppenbewegungen in Belgien und in Holland, andere die Leistungsfähigkeit dort ansässiger Fabriken, die für die Besatzungsmacht arbeiten, und natürlich die Haltung der Zivilbevölkerung.
Aber die meisten Anfragen gehen weit über den belgischen oder holländischen Rahmen hinaus. Wenn die Zentrale über die Stärke der Schweizer Armee, über die Kriegsproduktion der deutschen chemischen Industrie oder über die genauen Verluste der Wehrmacht Einzelheiten wissen will, dann wendet sie sich an Brüssel, wie hier: An Kent van Direktor.
Benötigen Bericht über Schweizer Armee, die In Verbindung mit möglicher deut. scher Invasion interessiert. Stärke der Armee im Falle allgemeiner Mobilmachung. Art der Befestigungen. Qualität der Bewaffnung. Einzelheiten über Luftwaffe, Panzerwaffe und Artillerie. Technische Mittel nach Waffengattungen. Zudem gehen über Brüssel auch die vom Grand Chef in Frankreich gesammelten Informationen aus den verschiedensten Sachgebieten. Auch diese Meldungen sind präzise. Sie zeugen von einer Unterwanderung der deutschen Organisationen, wie sie Im Verlauf des letzten Weltkriegs keinem anderen Spionagesystem der Alliierten auch nur annähernd gelungen ist: Quelle: Suzanne.
Linie, die als Winterstellung der deutschen Armee von Generalstab vorgeschlagen wurde und Anfang November bezogen sein sollte, verläuft von Rostaw über Isjum -- Kursk -- Orel -- Brjansk -- Dorogobusch -- Nowgorod -- Leningrad. Hitler lehnte auch diesen Vorschlag ab und befahl sechsten Angriff auf Moskau, wobei sämtliches verfügbare Material In den Kampf geworfen wird. Mißlingt dieser Vorstoß, so stehen den deutschen Truppen bei einem Rückzug keinerlei Materialreserven im Augenblick zur Verfügung. Meldung auf Meldung beleuchtet den Lesern im sowjetischen Generalstab Stimmung und Maßnahmen der deutschen Militärs: Quelle: Jacques.
Deutsche haben Elite ihres Heeres an Ostfront verloren. Russische Kampfwagen machen überlegenen Eindruck. Deutsche Generalstäbler entmutigt wegen ständiger Änderungen der strategischen Pläne und Angriffsziele durch Hitler. Quelle: Pierre.
Gesamtstärke des deutschen Heeres 412 Divisionen. Davon in Frankreich zur Zelt 21, zumeist Divisionen zweiter Linie; Ihr Bestand schwankt Infolge dauernder Abgänge. Truppen. die bei uns südlich Bordeaux am Atlantikwall in Stellung waren, befinden sich auf dem Wege nach Osten, es sind etwa drei Divisionen. Gesamt
* In der Altenburger Allee 19 (l.) wohnte Schulze-Boysen, in der Fredericiastraße 26a (r.) lebte sein Partner Arvid Harnack. stärke der Luftwaffe etwa eine Million Mann, einschließlich des Bodenpersonals. Quelle: José.
Bei Madrid, 10 km westlich der Stadt, befindet sich deutsche Horchstelle zum Abhören britischen, amerikanischen und französischen (kolonialen) Funkverkehrs. Getarnt als Handelsorganisation mit Decknamen »Stürmer«. Spanische Regierung ist unterrichtet und unterstützt die Stelle. Besatzung ein Offizier und 15 Mann in Zivil. Nebenstelle in Sevilla. Von Madrid direkte Fernschreibleitung nach Berlin Ober Bordeaux und Paris geschaltet.
Inzwischen geht Trepper daran, in Frankreich einen neuen Nachrichtenapparat aufzubauen. Doch woher die Mitarbeiter nehmen, die Sender, die Funker? Der Grand Chef kennt nur noch ein Reservoir: die französische Kommunistische Partei.
Trepper darf eigentlich keinen Kontakt mit ihr aufnehmen. Eine der Grundregeln der sowjetischen Spionage verlangt eine scharfe Trennung ihrer Nachrichten-Netze von der kommunistischen Partei des jeweiligen Landes. Aber jede Regel hat ihre Ausnahme.
Einmal im Jahr findet ein Routinetreffen zwischen dem verantwortlichen Leiter der russischen Spionage-Apparate und einem Delegierten der französischen KP statt. Dieses Treffen wird immer von der Zentrale anberaumt. Trepper besitzt eine Liste von verschiedenen Treffpunkten.
Erhält er zum Beispiel eine Ansichtskarte vom Montblanc, weiß er, an welchem entsprechenden Ort er den Parteidelegierten treffen soll; eine Karte vom Alten Hafen in Marseille signalisiert einen anderen Treffpunkt. Der Tag? Eine bestimmte Zahl ist dem Datum des Poststempels hinzuzufügen; die Uhrzeit ist immer die gleiche. Sollten es die Umstände erfordern, können beide Partner sich auch häufiger treffen -- monatlich zum Beispiel. Aber dazu bedarf es der Zustimmung Moskaus.
Der Vertrauensmann der Partei kommt im Februar 1942 zu dem vereinbarten Treffen mit Trepper: ein dunkler Typ, verhältnismäßig jung, mittelgroß, sehr elegant. Sein Deckname: Michel. Als Erkennungszeichen hält er eine wenig gelesene Pariser Zeitung in der Hand.
Trepper erklärt ihm, worum es geht. Die Partei soll zunächst die seit zwei Monaten angesammelten Informationen nach Moskau weiterleiten. Ein ungewöhnliches Vorgehen, aber die Notlage rechtfertigt es. Damit aber keine Gewohnheit daraus entsteht und die Trennung zwischen Geheimdienst-Apparat und Partei nicht aufgehoben wird, muß für Trepper ein Sendegerät beschafft werden.
Wenige Tage später kommt die Antwort aus Moskau. Der Direktor billigt Trepper zu, dem kommunistischen Sender wöchentlich 200 bis 300 Kodegruppen zur Übermittlung von Nachrichten anzuvertrauen -- das ist nicht viel, doch die Funkverbindung der Partei ist schon überlastet. Um das angeforderte Funkgerät werden sich kommunistische Techniker kümmern.
Ferdinand Pauriol tritt in Erscheinung. Er Ist gewissermaßen der Funkvirtuose der Partei, ein ausgezeichneter Fachmann für »Spieluhren«, ein Meister der Funkverbindungen. Pauriol ist Journalist, ehemaliger Leiter des Parteiblattes »Rouge-Midi«, der Marseiller Ausgabe von »L'Humanité«. Er bringt Trepper ein Sendegerät eigener Bauart.
Jetzt fehlt nur noch ein Funker. General Susloparow, der Militärattaché an der Sowjetbotschaft in Vichy, hatte schon Anfang 1941 dem Grand Chef wenn auch keine Geräte, so doch wenigstens die Adresse von zwei möglichen Pianisten gegeben: vom Ehepaar Sokol. Als Kommunisten russisch-polnischer Abstammung hatten sie beim sowjetischen Konsulat ihre Rücksiedlung beantragt. Beruf: Radiotechniker. Das klang vielversprechend.
Der Grand Chef holte über seinen V-Mann zur Partei eingehende Auskünfte über das Ehepaar ein. Ergebnis: Die Sokols kommen aus Belgien, sie sind in französisch-kommunistischen Kreisen unbekannt. Daraufhin werden bei der belgischen Parteileitung Erkundigungen eingezogen. Trepper erfährt, die Sokols seien zuverlässige Aktivisten, wegen politischer Agitation aus Belgien ausgewiesen.
Aber wie sind sie auf die kuriose Idee gekommen, sich als Radiotechniker auszugeben? Nach den Auskünften der belgischen Partei ist Hersch Sokol Arzt, und seine Frau Myra hat ihren sozialwissenschaftlichen Doktor. Ein Spleen? Nein, eine List, die dem Vertriebenendasein ein Ende bereiten und die Rückkehr in das Vaterland möglich machen sollte.
Was kann man im besetzten Frankreich tun, wenn man Jude und Kommunist, ohne Geld und ohne Beruf ist? Versuchen, wegzukommen! Hersch und Myra haben 1941 ein Rücksiedlungsgesuch bei der sowjetischen Botschaft in Paris eingereicht. Da es um Leben oder Tod geht, schreibt Hersch als Beruf auf den Fragebogen: Radiotechniker. Es fehlt Rußland an technisch ausgebildeten Leuten; Radiotechniker werden vielleicht schneller eine Wohnung finden als ein Arzt und eine Sozialwissenschaftlerin.
Trepper sucht schon vor Ausbruch des Rußlandkrieges Verbindung mit den Sokols, Er trifft nur Myra an; Hersch hat man gerade in das Lager für jüdische Ausländer nach Pithiviers gebracht. Der Grand Chef könnte auf die Sokols verzichten, aber er gibt nicht nach. Man wird sie zu Funkern ausbilden. Myra beginnt sofort ihre Lehre.
Aber wie kann man Hersch Sokol aus dem Lager befreien? Einer weiß Rat: der in Frankreich lebende Schriftsteller Claude Spaak, Bruder des belgischen Ministerpräsidenten Paul-Henri Spaak.
»Belgische Freunde hatten uns die Sokols geschickt«, erzählt Claude Spaak. »Sie waren gerade wegen ihrer kommunistischen Tätigkeit aus Belgien ausgewiesen worden. Das war natürlich vor dem Krieg. Meine Frau und ich gehörten zu einer Gruppe von Linksintellektuellen« darum sollten wir sie unterstützen. Sie haben ziemlich lange bei uns gewohnt.
»Eines Tages -- es muß Anfang 1941 gewesen sein -- benachrichtigte uns Myra, daß ihr Mann als ausländischer Jude verhaftet und in das Lager von Pithiviers gebracht worden war. Aber es gab eine Hoffnung, ihn freizubekommen, denn Harry -- so nannten wir ihn -- war in einer polnischen Stadt geboren, die im russisch besetzten Teil Polens lag. Aufgrund des deutsch-sowjetischen Paktes ließen die Deutschen polnische Juden in Ruhe, wenn sie aus dieser Zone stammten.
»Myra erlangte vom sowjetischen Konsulat in Paris die Bestätigung, daß ihr Mann dieser Kategorie angehörte. Wie sollten wir Harry diese Bestätigung zukommen lassen, damit er sie der Lagerführung vorlegen konnte? Myra bat mich, nach Pithiviers zu fahren.
»Ich erinnere mich noch, daß ich ihr schwören mußte, dieses Dokument nur Harry persönlich zu übergeben, das Konsulat hatte Myra wissen lassen, daß man unmöglich eine zweite Bestätigung ausstellen könne. Dieses Stück Papier bedeutete also Harrys letzte Chance. Es verlieren oder verlegen, hieß ihn zum Tode verurteilen.
»Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg ins Lager, ungefähr tausend Besucher -- überwiegend Frauen. Wir wurden, von Gendarmen begleitet, auf ein verlassenes Vorstadtgelände geführt, das von drei Meter hohen Stacheldrahtzäunen umgeben war. Uns gegenüber -- durch ein etwa 50 Meter breites Niemandsland getrennt -- befand sich ein zweiter, von Stacheldraht umgebener Käfig mit ungefähr 500 zusammengepferchten Gefangenen.
»Zwischen den Käfigen patrouillierten gleichgültige Gendarmen. Ich rief einen heran und setzte Ihm auseinander, um was es ging; er erklärte sich bereit, Harry die Bescheinigung zu bringen. Ich wartete eine halbe Stunde lang, und diese 30 Minuten inmitten der hysterischen Menge werde ich nie im Leben vergessen. Dann kam mein Gendarm zurück und reichte mir einen Fetzen Papier, auf dem stand: »Danke. Harry.« Ich hatte das Gefühl, es sei ein Wunder geschehen.«
Mit den Sokols beginnt nun auch in Paris der unentwegte Strom geheimer Nachrichten nach Moskau. Trepper hat seinen Apparat gegen jeden Gegner gut abgeschirmt. Die Pariser Zitadelle scheint unbezwingbar. Von Warnposten gesichert, durch drakonische Abschottungsmaßnahmen geschützt, ist sie auf den Ansturm der deutschen Gegenspionage vorbereitet.
Treppers wichtigster Gefolgsmann, Leon Grossvogel, hat für Ausweichquartiere gesorgt. Etwa zehn Wohnungen und leere Zimmer können die zur Organisation gehörenden Leute aufnehmen: Rue Edmond-Roger Nr. 6; Quai Samt-Michel Nr. 13; Rue de Varenne Nr. 94; Rue Fortuny Nr. 6; Avenue de Wagram Nr. 78; und so weiter. Es gibt auch noch ein Haus in Le Vésinet und eine Villa in Verviers. Darüber hinaus verfügt man sogar über einen auswärtigen Stützpunkt: das Schloß in Billeron. wo kranke und erschöpfte Agenten neue Kräfte sammeln können.
Dort erholen sich in der guten französischen Landluft zu gleicher Zeit verfolgte Kommunisten und deutsche Offiziersfrauen. Billeron, nur einige Kilometer von der Demarkationslinie entfernt, ist für bedrohte Agenten auch ein Notausgang zum unbesetzten Frankreich: Ortsansässige bringen sie sicher hinüber. Im übrigen liefert der Bauernhof der Corbins reichlich Lebensmittel, und Thevenet, ein Mitinhaber der belgischen Simexco und Zigarettenfabrikant, versorgt seine Pariser Freunde weiterhin mit Tabak.
Geld ist kein Problem: Das Geschäft blüht. Der Reingewinn von Treppers Tarnfirmen Simex und Simexco beläuft sich im Jahre 1941 auf 1 616 000 Franc; im Jahre 1942 sind es 1 641 000 Franc. Daß die laufenden Unkosten für die belgischen, holländischen und französischen Gruppen vorher abgesetzt wurden, versteht sich von selbst. Über diese Unkosten führt Trepper Buch, denn er weiß wie jeder Chef eines sowjetischen Apparates, daß er Moskau eines Tages seine Bilanz vorlegen muß.
Er selbst und seine Leute werden in Dollar bezahlt (der Dollar ist von jeher die Währung der Zentrale). 1939 erhielt der Grand Chef 350 Dollar monatlich. Als seine Frau und seine Kinder über Marseille nach Moskau zurückfuhren, wurde diese Summe auf 275 Dollar herabgesetzt.
Kent, Alamo und Grossvogel bekamen anfangs 75 Dollar, dann 225 Dollar. Seit dem 22. Juni 1941 erhalten alle Agenten, vom wichtigsten bis zum unbedeutendsten, ein einheitliches Gehalt von 100 Dollar: Es ist Krieg, und sie werden als mobilisierte Soldaten eingestuft. Die Ausgaben für dienstliche Zwecke werden nicht begrenzt.
Auf den ersten Blick erscheinen die Unkosten niedrig. Vom 1. Juni bis zum 31. Dezember 1941 kostet Brüssel 5650 Dollar und Paris 9421 Dollar. Vom 1. Januar bis zum 10. April 1942 sind es für Paris 2414 und 2042 Dollar für die belgische Gruppe. Vom 1. Mai bis 30. September 1942 wird alles in Franc gerechnet; für Paris werden 593 000 Franc ausgegeben.
Es handelt sich hierbei nur um die festen Ausgaben (Gehälter, Wohnungsmieten und so weiter). Um sich einen Überblick über die Gesamtlage der Finanzen zu verschaffen, müßte man die Summen hinzufügen, die für die Bestechung deutscher Offiziere, für den Unterhalt von Billeron erforderlich waren. Der Grand Chef kann beliebig viel ausgeben, denn das Geld, das er für Deutsche verwendet, ist über die Simex und Simexco den deutschen Organisationen aus der Tasche geholt worden.
Das Dritte Reich kommt für die Kosten der Roten Kapelle auf, wie ein Organismus den Krebs ernährt, der ihn vernichtet. Und dieses System funktioniert so ausgezeichnet, daß die Zentrale einen Augenblick erwägt, den Grand Chef zum Finanzchef aller sowjetischen Gruppen in Westeuropa zu ernennen.
Trepper hat seine Abrechnungen in der Standuhr des Hauses in Verviers versteckt, und in der Wohnung von Trepper-Mitarbeiter Katz sind 1000 Golddollar für den Fall einer finan-. ziehen Katastrophe in Marmeladengläsern verborgen. Claude Spaak bewahrt immer noch die Goldrolle auf, die ihm die Sokols anvertraut haben. Selbst wenn Simex und Simexco auffliegen, wird es an Geld nicht fehlen.
Dank dieser soliden Finanzbasis bewältigt die Gruppe ein beispielloses Arbeitspensum. Da ist die Rolle der Simex: Unterwanderung der deutschen Organisation Todt und Beschaffung von Unterlagen über die großen Bauvorhaben, die von der Wehrmacht im besetzten Europa ausgeführt werden. Und da ist die Rolle von Wassilij Maximowitsch: Er verschafft sich Zugang zum Pariser Hauptquartier, sammelt Informationen über Truppenbewegungen, über Versetzungen von Offizieren, die Moral der Wehrmacht, die Pläne der Hitlergegner in ihren Reihen und die Beziehungen zur Vichy-Regierung.
Wassilij und seine Schwester Anna Maximowitsch: das sind zwei russische Emigranten adeliger Abstammung, durch den Kommunismus ruiniert; es wimmelt davon in Paris. Aber die Maximowitschs haben nichts gemein mit dem aristokratischen Plebs der Taxichauffeure und der Balalaika-Kratzer, die in heimweh schwelgen. Sie gehören zur zweiten Generation, die der Vergangenheit den Rücken kehrt und nach Vdm schaut.
Der alte General Pawel Maximowitsch war verarmt gestorben, seine Kinder kamen in die Obhut des Monseigneur Chaptal, der sich um Emigranten aller Rassen und aller Staatsangehörigkeiten kümmerte. Er sorgte dafür, daß Wassilij auf die Ecole Centrale kam und Bauingenieur wurde; Anna studierte Medizin und spezialisierte sich auf Neurologie.
1936 umwerben zahlreiche politische Organisationen in Paris die Weißrussen. Es sind seltsame Gruppen und Grüppchen, die keine Bedeutung haben. Von je drei Mitgliedern ist mindestens eines als Spitzel tätig, sei es für die französische Polizei, sei es für die Nazis, sei es für den sowjetischen Nachrichtendienst.
Eine der russischen Emigrantenorganisationen ist die »Union des Defensistes«. Der Historiker Dallin schreibt: »Im Jahre 1936 mietete die Union in der Rue Dupleix einen kleinen Saal für Versammlungen, Tanzabende und dergleichen, konnte aber kaum die geringen Kosten aus eigenen Mitteln bestreiten. Eines Abends fuhr eine hochgewachsene, ziemlich kräftige, gut angezogene Vierzigerin in einem eleganten Wagen vor und erklärte den Mitgliedern der Union, sie interessiere sich für den Verband und sei als Leiterin eines Sanatoriums für Nervenkranke in der Lage, die Union finanziell zu unterstützen.
»Von Zelt zu Zelt erhielten einzelne Mitglieder der Union Geldüberweisungen von 10 bis 15 Dollar. Die Ausgaben des Verbandes stiegen. Von 1937 bis 1939 wurden sie aus den Erträgen des Sanatoriums gedeckt. Im Jahre 1939 ging unter den Mitgliedern ein Gerücht, daß Annas Geld faul sei und Unannehmlichkeiten bevorstünden. Aber niemand wollte den Klatsch glauben.«
Die »Defensisten« sollten niemals erfahren, ob Annas Geld faul war, denn fast alle wurden von der französischen Polizei am Tage der Kriegserklärung verhaftet und als verdächtige Ausländer im Lager von Vernet interniert. Wassilij Maximowitseh wurde einige Monate später aufgegriffen, aber seine Schwester Anna, Vizepräsidentin der Defensisten, entging aufgrund ihres Berufs der Internierung: Ihre Kranken brauchten sie.
Das Lager von Vernet lag in der Nähe von Toulouse und diente ab September 1939 als Sammelplatz für russische Emigranten, französische Kommunisten, Strafgefangene und sOgar für Hunderte von deutschen Emigranten, die wie durch ein Wunder der Gestapo oder sogar Hitlers Konzentrationslagern entronnen waren.
Der Baron Wassilij Maximowitsch lernte Hunger, Kälte und Schmach kennen. Er erlebte das Unglaubliche: Die fanatischsten Feinde Hitlers waren hier eingeschlossen und zum Hungern verurteilt von einem Frankreich, das sich im Krieg mit Hitler befand; er erlebte den Tag, an dem die Gestapo im Gefolge der siegreichen Wehrmacht nach Vernet kam, um die hier angesammelten Menschen zu sortieren.
Auf die Gestapo folgte in Vernet eine deutsche Kommission, die den Auftrag hatte, unter den vertrauenswürdigen Gefangenen Arbeiter für das Dritte Reich zu rekrutieren. Die Kommission stand unter dem Befehl von Oberst Hans Kuprian. Er suchte für die Arbeit im Lager einen Dolmetscher; Maximowitseh meldete sich und wurde angenommen, mehr noch: Er schloß Freundschaft mit Kuprian.
Der Oberst war ein altgedienter, streng monarchistischer Offizier. Er meinte, daß Deutschland in den Händen schlecht erzogener Thronräuber sei, und nach seiner Auffassung war Baron Maximowitsch aus Rußland von ungehobelten Banditen verjagt werden.
Kuprian ließ den Russen befreien und versprach, ihm In Paris eine seinen Fähigkeiten entsprechende Stellung zu verschaffen. Maximowitsch kehrte im August 1940 zu seiner Schwester in das noch menschenleere Paris zurück. Er wird dem Grand Chef durch Michel, den V-Mann zur französischen kommunistischen Partei, zugeführt.
Doch Trepper ist mißtrauisch. Wäre Maximowitsch ein langjähriger Mitarbeiter der Zentrale gewesen, hätte er * An der Kanalküste, 1942.
sorgfältig Abstand zu den kommunistischen Kreisen gehalten. Es muß sich also um eine neue Anwerbung handeln: Vorsicht!
Trepper verlangt dringend Anweisungen von der Zentrale. Antwort: Maximowitsch einsetzen, falls er über interessante Verbindungen verfügt, aber größte Vorsicht walten lassen. Eine unklare, jedoch klassische Antwort; wer anders als der Chef der Gruppe kann tatsächlich das Für und Wider abwägen? Die Rolle der Zentrale, besonders in Kriegszeiten, beschränkt sich darauf, in der riesigen Kartei der Komintern nachzusuchen, pb irgendeine Akte über den Kandidaten vorliegt; ist das nicht der Fall oder gibt es nur unzureichende Auskünfte, dann bleibt die Entscheidung dem Chef der Gruppe überlassen.
Der Grand Chef prüft Maximowitsch und entscheidet sich für ihn. So beginnt, mit Mißtrauen und gegenseitigem Zögern, eine Zusammenarbeit, die sich als fruchtbar erweisen und der Geschichte der Gruppe eine der erheitendsten Episoden hinzufügen wird. Denn der Baron Wassilij Maximowitsch, 39 Jahre alt, ist trotz seiner geschwollenen Beine und seiner rundlichen Gestalt dazu bestimmt, der Casanova der Roten Kapelle zu werden.
Anna-Margaret Hoffmann-Scholtz ist Deutsche, 44 Jahre alt und gewiß nicht allzu hübsch. Sie stammt aus einer sehr guten Hannoveraner Familie. Ein Onkel, der Oberstleutnant Hartog, dient in Paris im Stab des Generals von Stülpnagel, des Militärbefehlshabers in Frankreich. Margarete Vater hat diesen Onkel gebeten, sich um seine Tochter zu kümmern, als sie im nahmen des Wehrmachtshilfsdienstes, zu dem sie sich gemeldet hatte, nach Paris geschickt wurde.
Sie wird die Sekretärin von Oberst Hans Kuprian und begleitet ihn bei seiner Mission ins hager von Vernet. Sie sieht dort weder das Elend noch Leid und Schmutz, sie sieht nur Wassilij Maximowitsch und ist von ihm geblendet. Als sie das Lager von Vernet verläßt, ist sie verliebt.
Maximowitsch zeigt zunächst wenig Begeisterung für die Angebote der deutschen Arbeitsvermittler. Dann aber bietet ihm Kuprian einen sehr guten Posten als Ingenieur bei den Henschel-Werken in Kassel an. Der Russe lehnt ab. Margaret, fassungslos vor Glück, zweifelt nicht einen Augenblick, daß er es nur getan hat, um in ihrer Nähe zu bleiben. Wie enttäuscht wäre sie, wenn sie erführe, daß ihr Liebhaber nur den Anweisungen des Grand Chef gefolgt ist.
Trepper hatte Maximowitsch erklärt, daß er in Paris nützlicher sei als in Kassel: »Bauen Sie ein eigenes Nachrichten-Netz auf. Verkehren Sie in den weißrussischen Kreisen, beim französischen Adel, im katholischen Milieu, knüpfen Sie Verbindungen an zu den deutschen Offizieren, aber meiden Sie vor allen Dingen Leute von der französischen Linken wie die Pest«
Es ist wirklich die beste »Tarnung« für Maximowitsch, wenn er seinem Image als emigrierter Aristokrat treu bleibt, so wie es Treppers Tarnung verlangt, daß er den Schwarzmarkthändler spielt, ein großes Leben führt und die Leute von der Organisation Todt in den Pariser Schwarzmarkt-Restaurants zu Festgelagen einlädt.
Maximowitsch bekommt einen Dauerausweis für das Hotel Majestic, den Sitz des deutschen Hauptquartiere. Jeden Abend holt er hier Margaret ab. Sie berichtet über ihren Tagesablauf. Da sie sich nicht immer an alles erinnern kann, findet sie es einfacher, dem geliebten Mann Kopien der Dokumente zu zeigen, die. durch ihre Hände gehen. Sie bekommt auch Kopien von ihren Kolleginnen. Alle streng geheimen Berichte über die Lage in Frankreich gelangen auf diese Weise zum Grand Chef.
Als das Thema erschöpft ist, drängt Trepper darauf, Maximowitsch solle seine Freundin auf ein neues Betätigungsfeld lenken. Sie läßt sich zum Quartieramt der Wehrmacht in Frankreich versetzen. Als Trepper auch über dieses Amt genügend Informationen besitzt, stellt Maximowitsch geschickt die Weiche zu einem dritten Bereich: Anna-Margaret Hoffmann-Scholtz kommt in das Sekretariat des deutschen Botschafters Abetz.
Ihr Eifer trägt ihr das Vertrauen aller Mitarbeiter ein und öffnet ihr den Zugang zu geheimen Dokumenten. Durch Margaret bekommt Moskau Berichte über die politischen Verhandlungen mit Vichy, über die Stimmung des französischen Volkes, über deutsche Projekte und die dabei auftauchenden Schwierigkeiten.
In ihrer Umgebung werden einige Leute unruhig. Ihr Onkel zUm Beispiel sieht ihre Liebschaft mit Maximawitsch nicht gern. Sie schlägt seine Bedenken in den Wind. Auch Margarets Kolleginnen schwärmen für Maximowitsch: Er ist so vornehm, man spürt seine feine Art, er überreicht bald der einen, bald der anderen ein Blumensträußchen oder eine Bonbonniere -- und außerdem ist er ein Baron.
Kann man einem Baron mißtrauen? Die Offiziere im Stab des Militärbefehlshabers Frankreich kommen nicht eine Sekunde lang auf diesen Gedanken. Die meisten von ihnen entstammen angesehenen Kreisen, haben eine erstklassige Erziehung genossen und sind vornehme Nazigegner. Sie halten Maximowitsch für einen der ihren, nehmen seine Einladungen an, empfangen ihn bei sich und sprechen unverblümt und offen vor ihm.
Anna Maximowitsch ist oft nahe daran, Porzellan zu zerschlagen. Sie ist kaum zu zügeln. Eines Tages schlägt sie dem Grand Chef vor, sie wolle sich genügend Kurare verschaffen, uni tausend Menschen zu vergiften, und erklärt leuchtenden Auges, daß es eine einmalige Gelegenheit wäre, den gesamten Stab des deutschen Militärbefehlshabers in Paris auf einen Schlag zu beseitigen. Trepper ermahnt sie streng, solche dramatischen Traumvorstellungen zu vergessen.
Er muß auch all seine Überredungskünste aufwenden, um Wassilij Maximowitsch von seinem Plan abzubringen, Brandbomben herzustellen: Es wäre heller Wahnsinn, so wertvolle Agenten mit so unwichtigen Dingen zu beschäftigen.
Durch Maximowitsch hat er eine direkte Verbindung zum Stab des Militärbefehlshabers. Über Anna Maximowitsch weiß er, welche politischen Schritte der Vatikan unternehmen wird: Sie ist mit Monseigneur Chaptal befreundet und auch mit dem Jesuitenpater Valensin, der bei allen geheimen Machenschaften die Hand im Spiel hat.
Später verkauft Anna Maximowitsch ihre Klinik; die Patienten haben darunter nicht zu leiden. Sie werden im Schloß von Billeron untergebracht, im Departement Cher, in der Nähe von Groize. Bis 1940 war es ein katholisches Stift gewesen, aber die Nonnen hatten es beim deutschen Einmarsch fluchtartig verlassen und waren nicht mehr zurückgekommen. Anna hat dieses Schloß gemietet.
Es ist eigentlich kein Schloß, sondern eher ein Landsitz, elegant in seiner Schlichtheit, ohne Türme und Söller, weitläufig, umgeben von hohem, dichtem Wald. Der Parkwärter und seine Frau erinnern sich lebhaft an Wassilij Maximowitsch und seine Schwester, die gute, dicke Anna, wie sie mit Riesenschritten durch den Park stapfte in einem langen, dunkelvioletten Spitzenkleid, das die Leute glauben macht, sie gehöre einem religiösen Orden an.
Sie erinnern sich auch noch an die Nervenkranken, die sich in der ländlichen Stille beruhigen sollten, und auch an die Frauen deutscher Offiziere, die sich hier von den Anstrengungen des Pariser Lebens erholen wollten. Unter ihnen befand sich auch Käthe Voelkner. Aber als sie an einem Sommertag 1941 die lange, prächtige Allee zum Schloß hinaufging, kam sie nicht zur Erholung; sie sollte hier auf Herz und Nieren geprüft werden.
Käthe Voelkner ist deutsche Staatsangehörige, am 12. April 1906 in Danzig geboren; der Vater war Zeichenlehrer und Sozialist. Sie trägt üppiges aschblondes Haar, ihr Körper ist muskulös und ungewöhnlich geschmeidig: Sie wird akrobatische Tänzerin.
Armselige Tourneen durch Europa unternimmt sie gemeinsam mit ihrem aus Italien stammenden Liebhaber, dem Manager Johann Podsialdo, dem sie unterwegs zwei Kinder schenkt. Eines Tages landet die kleine Familie in Leningrad, ohne einen Pfennig in der Tasche. Man nimmt sich ihrer an, und Käthe erhält sogar die Möglichkeit zum Studieren. Sie wird eine überzeugte Kommunistin.
Von dieser Zeit an gehört sie wahrscheinlich zum sowjetischen Geheimdienst. Sie zieht wieder auf Reisen durch Europa, aber diesmal. nach einem genau festgelegten Plan der Zentrale. Sorgfältig vermeidet sie das nazistische Deutschland. 1937 erhält sie den Befehl, nach Paris zu gehen, wo sie ein Engagement in einem Kabarett erhält und zwei Jahre lang auftritt.
Nach der Kriegserklärung im Jahr 1939 versteckt sie sich mit Podsialdo und den Kindern in einem Haus im XX. Arrondissement, um nicht als feindliche Ausländerin interniert zu werden. Die lange Zeit des Sitzkrieges 1939/40 benutzten Podsialdo und sie zum Lernen von Stenographie und Maschineschreiben. 1940 kommt Käthe Voelkner aus ihrem Versteck hervor und offeriert ihre Dienste den siegreichen Landsleuten.
Sie wird von der Dienststelle für den Arbeitseinsatz in Frankreich (Amt Sauckel) eingestellt, die ihren Sitz in der Chambre des Deputes hat. Podsialdo bekommt dort einen untergeordneten Posten, seine Frau aber wird die Sekretärin des Pariser Chefs der Organisation, Dr. Kleefeld. Sie genießt sein volles Vertrauen.
Maximowitsch erkundigt sich nach seiner Rückkehr aus dem Lager in Vernet bei der Dienststelle Sauckel nach einer Arbeitsmöglichkeit. Er trifft dort Käthe Voelkner, spricht mit ihr, ahnt ihre unausgesprochenen Gedanken und hält es für möglich, sie anzuwerben. Wenn er sich aber täuschen sollte?
Er läßt sie nach Billeron einladen. Tag für Tag gehen Anna Maximowitsch und Käthe Voelkner im Park spazieren und unterhalten sich. Als die Voelkner nach 14 Tagen abreist, sagt Anna zu ihrem Bruder: »Meiner Ansicht nach ist sie in Ordnung.«
Wassilij Maximowitsch bleibt mißtrauisch. Er trifft Käthe Voelkner in Paris wieder und schickt sie noch einmal nach Billeron. Inzwischen ist es Herbst geworden. Anna Maximowitsch bestätigt wiederum ihr günstiges Urteil, und Wassilij Maximowitsch beschließt, mit dem Grand Chef über Käthe Voelkner zu sprechen.
Der Grand Chef trifft bei ihrer Anwerbung bemerkenswerte Vorsichtsmaßnahmen. Erst will er die Voelkner auf die Probe stellen, ohne selbst gesehen zu werden. Er läßt sie von Anna Maximowitsch in ein Restaurant einladen, an dessen Wänden große Spiegel hängen. Er setzt sich an einen Nebentisch und beobachtet mit Hilfe der Spiegel aufmerksam den Raum, um zu sehen, ob Käthe Voelkner überwacht wird. Kein verdächtiges Zeichen.
Der zweite Schritt kann getan werden: ein Treffen mit der Artistin. Es findet auf dem Bahnsteig einer Metro-station statt, die zahlreiche Ausgänge hat. Käthe Voelkner bittet Maximowitsch um eine Beschreibung ihres Gesprächspartners und um das Erkennungswort. Zu ihrer Überraschung gibt Maximowitsch ihr weder das eine noch andere: Ihr Partner kenne sie bereits. Wenn sie ein Spitzel sein sollte, könnte sie ihr Opfer den Leuten der Gestapo nicht verraten sie muß warten, bis Trepper sie anspricht, nachdem er sich genügend Zeit gelassen hat, an Ort und Stelle nach Verfolgern Ausschau zu halten.
Katz muß der Voelkner von der Wohnung bis auf den Bahnsteig folgen. Sollte er irgend etwas Verdächtiges bemerken, wird er seinen Chef diskret alarmieren. In der Metro-Station geben an den verschiedenen Eingängen Helfershelfer acht auf das Erscheinen von Männern in etwas zu langen Regenmänteln und Tirolerhüten. Das Treffen verläuft reibungslos; Käthe Voelkner wiederholt ihren Wunsch mitzuarbeiten.
Dritter Schritt: die Probe. Man verlangt von der ehemaligen Artistin, sie solle Stempel, Siegel und Schriftstücke verschaffen. Sie tut es. Nun betrachtet man sie als dazugehörig und gibt ihr wichtigere Aufträge: Käthe Voelkner verschafft Dokumente, bringt sie aber nicht zu Trepper persönlich. Eine von Katz abgesicherte Mittelsperson, Madame Giraud, trifft Käthe in der Metro und erhält von ihr, in Zeitungen versteckt, die von Dr. Kleefeld aufgesetzten Berichte.
Madame Giraud hat den Auftrag, mindestens sechs Stunden lang in den Straßen spazierenzugehen, stets gefolgt von Katz, bevor sie nach Hause zurückkehrt. Danach muß sie drei Tage lang die Dokumente bei sich aufbewahren, dann erst wird nicht sie selbst, sondern ihr Mann die Papiere dem Grand Chef aushändigen.
Durch Käthe Voelkners Material wird Moskau bis ins einzelne über den Mangel an Arbeitskräften informiert, der sich allen Planungen Hitlers erschwerend entgegenstellt, und über die vorgesehenen Gegenmaßnahmen. Kleefeld weiß alles: die Zahl der in jedem Besatzungsgebiet rekrutierten Fremdarbeiter, und die deutschen Industrien, in denen sie vordringlich eingesetzt werden sollen, ihre Verwendung in Deutschland und -- wichtigste Auskunft -- die als vordringlich angeführten Industrien.
Immer engmaschiger wird das Frankreich-Netz Leopold Treppers. Käthe Voelkner befaßt sich mit dem Problem der Arbeitskräfte, Anna Maximowitsch mit der Politik des Vatikans und innerfranzösischen Angelegenheiten. Der vor der deutschen Abwehr aus Belgien geflohene Trepper-Mitarbeiter Isidor Springer hat in Lyon Kontakt mit einem ehemaligen belgischen Minister und dem amerikanischen Konsul aufgenommen.
Das ist noch nicht alles. Die Gruppe hat zusätzlich zwei Agenten in der deutschen Telephonzentrale von Paris für sich gewonnen. Sie hören die Telephongespräche ab, die zwischen Paris und Berlin geführt werden, und geben das Wesentlichste an den Grand Chef weiter.
Auch über den Apparat der Komintern kann Trepper verfügen. An seiner Spitze steht ein Jude, 44 Jahre alt, groß und schlank, mit dunklen Augen und intelligentem Blick: Henri Robinson.
Später trägt die Gestapo über Robinson folgende Details zusammen: Deutscher Jude, spricht fließend Deutsch, Englisch, Russisch, Französisch und Italienisch. Tritt unter den verschiedensten Namen auf, aber man weiß nicht, welcher der richtige ist. Gründer der kommunistischen Jugendinternationale, zusammen mit seinem Freund Humbert-Droz. Vertreter der französischen kommunistischen Jugendliga im Jahr 1922 bei der Komintern. 1923 Führer der politischmilitärischen Arbeiterorganisation im Rheinland während der französischen Besetzung. 1924 technischer Leiter der politisch-militärischen Arbeiterorganisation für Mittel- und Westeuropa. 1929 Mitarbeiter des »Generals Muraille« in der Leitung des sowjetischen ND-(Nachrichtendienst-)Apparates in Frankreich. 1930 Chef der IV. Sektion des Nachrichtendienstes der Roten Armee für Europa. Und 1940 Leiter der aktivistischen und militärischen Abteilung für Westeuropa.
Ein aufschlußreicher Lebenslauf, ein Veteran des illegalen Kampfes. Kaum älter als der Grand Chef, war Robinson bereits Mitarbeiter des Generals Muraille und Leiter des sowjetischen ND-Apparates in Frankreich, drei Jahre bevor Trepper im gleichen Land bei Phantomas in die Lehre ging. Während Lepold Trepper in Rußland und Belgien lebte, hat Robinson immer fester Fuß gefaßt, seine Verbindungen zu den verschiedensten Kreisen unentwegt ausgebaut.
Und trotzdem wird Robinson dem Grand Chef unterstellt und nicht umgekehrt. Trepper gehört dem zentralen Nachrichtendienst der Roten Armee an, der durch den Krieg an die vorderste Stelle rückt, Robinson hingegen ist Mitglied der Komintern, deren Ansehen sinkt. In Stalins Augen haben sich die Leute von der Komintern als Abweichler verdächtig gemacht, von den jungen Technokraten der Zentrale werden sie für untauglich und altmodisch gehalten.
Zwar befiehlt man Trepper, die Leute von der Komintern einzugliedern, aber zugleich warnt der Direktor eindringlich: Robinson hat ideologische Differenzen mit Moskau gehabt, er ist politisch unzuverlässig; er steht unter dem Verdacht, Spitzel für das Deuxieme Bureau (Frankreichs militärischen Geheimdienst) gewesen zu sein. Die Anweisung lautet: nur mit größter Vorsicht einsetzen.
Der General Susloparow organisiert am Tag des deutschen Einmarsches in Rußland ein Treffen zwischen den beiden Männern. Robinson läßt seine zweifellos vorhandene Verbitterung nicht durchblicken und stellt Trepper unverzüglich seine belgischen und französischen Mitarbeiter sowie sein persönliches Informanten-Netz zur Verfügung. Er hat Zugang zu führenden französischen Kreisen und verfügt über mehrere direkte »Quellen« im deutschen Hauptquartier.
Die Gruppe um Wassilij und Anna Maximowitsch, Käthe Voelkner, Isidor Springer und Robinson: jede dieser Arbeitszellen liefert mit maschineller Regelmäßigkeit Informationen, Der Vollständigkeit halber müßte man auch noch die persönlichen Kontakte erwähnen, die der eine oder andere Agent mit ahnungslosen Informanten anknüpft.
Moskau kann zufrieden sein. Der Grand Chef hat mit Geschick und Zähigkeit das höchste Ziel erreicht, das jedem Nachrichtendienst gestellt wird: Er hat den feindlieben Führungsappa-
* Symbol der 23. Panzerdivision; sowjetische Propagandisten mit Lautsprechern an der Ostfront, 1942.
rat mit seinen Leuten unterwandert. Der Generalstab der Roten Armee erhält selbstverständlich seinen Teil der Ausbeute an Informationen. Außer den Nachrichten über die Vorhaben der Wehrmacht und die langfristigen strategischen Planungen weiß man in Moskau über die Verlegung jeder Division von West nach Ost Bescheid, noch bevor die Soldaten ihre Sachen gepackt haben -- ja, manchmal noch bevor der Divisionskommandeur oder der Kommandierende General die Weisung in Händen hält.
Sobald ein Lkw der Wehrmacht oder ein feindlicher Wachtposten in einen Hinterhalt gerät, werden die Soldbücher der Soldaten und die Dokumente, die man bei den Offizieren findet, kontrolliert, ausgewertet und die Informationen, wenn sie wichtig sind, dem Grand Chef übermittelt. Die Zentrale bekommt nur eine sorgfältig gesicherte Auslese aus allem Material -- und natürlich den »Steckbrief« für jede Einheit, die nach Rußland verlegt wird.
So konnte es geschehen, daß die im Osten eingesetzten Soldaten der 23. Panzerdivision, die einen Pfeil im Wappen führte, aus den Lautsprechern der Roten Armee zu hören bekamen, daß sie zu dem schönen Leben in Paris nie wieder zurückkehren würden. Man muß sich einmal in die Lage eines Soldaten dieser von Frankreich an die Ostfront verlegten Division versetzen.
Selten gab es in der Geschichte der Nachrichtendienste einen Chef, der auf seinen Apparat und dessen Leistungen so stolz sein konnte wie Trepper auf die französische Gruppe der Roten Kapelle. Und doch bricht jetzt für Leopold Trepper die Zeit der Ängste und Sorgen an. IM NÄCHSTEN HEFT
Die deutsche Abwehr spürt Sender der Roten Kapelle auf -- Der Überfall in der Brüsseler Rue des Atrébates -- Die Entschlüsseler des OKW brechen in den sowjetischen Spionagekode ein