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Rauschgift Pudding von Sigi

70 000 Pilger auf der Traumstraße der Hippies nach Indien und Nepal machen jährlich in Kabul Rast. Drogenhandel und Verbrechen florieren, die Stadt ist für Jugendliche aus Europa und Amerika Himmel und Hölle.
aus DER SPIEGEL 36/1972

Er ist 1,72 Meter groß, sein Kopf ist kahlgeschoren. Irgendwann kam er aus Europa ins afghanische Kabul, irgendwann schluckte er da 114 Pillen LSD und fand vom großen Trip nicht mehr zurück. Geld, Paß und Gedächtnis hat er verloren. Die Gefängniswärter in Kabul, die den Unbekannten bewachen, schätzen ihn auf 19.

Aus Amerika kam William Joseph Jahrmarkt zum Fixen nach Kabul, die Frau und drei kleine Jahrmarkt-Kinder brachte er mit. Eines Nachts, nach einem guten Schuß Morphin, schoß sich Bill aus Versehen mit seiner Pistole in den Unterleib. Er verblutete, denn auch Mrs. Jahrmarkt war high.

In Erlangen lernte Ex-Hilfsschüler Siegfried Zuern, 29, genannt Sigi, das Fixen. Nach Apothekeneinbrüchen verspielte er mit immer neuem Ampullenklau die richterliche Bewährungschance; 1967 setzte er sich ab ins Königreich Afghanistan, nach Kabul.

Im feinen Stadtteil Schahr-e-Nou mietete Sigi eine Villa, taufte sie »Sigis Hotel« und machte Geld mit Wiener Schnitzel und vorzüglichem Kartoffelsalat für 1,40 Mark, Geld auch mit Betten für 90 Pfennig (im Saal) bis 2,50 Mark (im Doppelzimmer) für all jene, die wie er mit Angst oder Träumen durch die persische Wüste oder über den Khaiber-Paß gekommen waren.

Der Unbekannte, Herr Jahrmarkt, Sigi – das sind drei Akteure in Storys von Strandgut, Tod und Erfolg in Kabul, typischen Storys für die jährlich 70 000 »Travellers« aus Amerika und Europa am Knotenpunkt des »Hippie-Highway«.

Kabul ist die erste Station der Sehnsucht auf der Traumstraße der Hippie-Generation. Hier ruhen die Reisenden nach der strapaziösen Tour durch die Wüste von Herat aus – Hascher und Ausgeflippte, Träumer und Abenteurer –, bevor sie zu Fuß, in klapprigen Afghanenbussen, in ausrangierten Londoner Doppeldeckern, verramschten Bussen der Bundespost oder in komfortablen Camping-VW den Rest der Reise antreten: ins bergumschlossene Nepal nach Katmandu im Sommer, zum milden Märchenbuchstrand von Goa an Indiens Westküste im Winter.

Mindestens 10 000 dieser Reisenden befinden sich – auf der Hin- oder Rücktour – immer in Kabul. Verkleidet als Lawrence von Arabien, als Haremsschöne, als einfache Sadhus oder Nomaden des wilden Kurdistan gehören sie längst zum Panorama der Steppensiedlung. Ihre Visa gelten einen Monat, aber gegen 50 Afghanis, zwei Mark, verlängert jeder Ausländerpolizist in Kabul gern die Aufenthaltsgenehmigung.

Es gab Zeiten, da wollten die Afghanen von den Fremden kein Geld. Mitte der Sechzigerjahre, als die ersten Blumenkinder und Friedensjünger über den damals noch schlecht ausgebauten Asian Highway fernen Erleuchtungen entgegen pilgerten, wurden sie von den Einheimischen beherbergt und bestaunt.

Waren sie auch oft ohne Geld über die Grenze gekommen, so konnten sie meist nach wenigen Tagen in Kabul im »Khyber«-Restaurant (Bauherr und Eigner: das Königliche Finanzministerium) bei Hasch und Hammel Dichterlesungen beiwohnen: Afghanen, deren Durchschnittseinkommen im Monat bei 18 Mark liegt, hatten den Gästen Münzen zugesteckt. »Wer keine Schuhe trägt«, meinte ein Tagelöhner, »ist noch ärmer als wir.«

Bloße Füße rühren heute keinen Afghanen mehr, er weiß die Hippies und Pseudohippies unterdessen beim auch anderweitig geläufigen Namen zu nennen – »freaks«, Irre.

Für den Einfall nicht mehr so friedlicher, motorisierter Freak-Horden rüstete sich Kabul mit 400 Hotels der billigsten Klasse. Apotheker, Zigarettenhändler und Basarkaufleute deckten sich ein mit Drogen. Sie und Dealer aus dem Ausland profitieren, korrupte Staatsbeamte halten die Hand auf, die Augen zu, der Handel mit gestohlenen Pässen und gefälschten Stempeln blüht, die Kriminalität steigt steil nach oben.

»Früher war die afghanische Gastfreundschaft unter den Touristen Legende«, klagte eine Reisende, »heute herrscht in Kabul nur noch eine Stimmung: die Stimmung gegenseitiger Ausbeutung.« Kabul, weiland Zwischenhimmel, birgt mehr und mehr höllische Gefahren fürs fahrende Jungvolk.

So krepierte ein 29-jähriger Kybernetiker von der Universität London im dreckigen Schah-Faladi-Hotel, nachdem er wochenlang von Morphium und alten Brotkrumen gelebt hatte. Ein Landsmann stürzte sich im Rausch aus einem Hotelfenster, nachdem er sich auf der Suche nach seiner Pulsader vergeblich den Arm aufgeschlitzt hatte. Afghanische Ärzte diagnostizierten Vollrausch und ließen den Engländer vor dem Hotel ablegen, wo er an den Folgen eines mehrfachen Schädelbasisbruchs starb.

Vier französische Teenager fielen in der südafghanischen Provinzhauptstadt Kandahar religiösem Wahn zum Opfer. Der örtliche Mullah wollte, nach einem gemeinsamen Joint, ein vom Koran gepriesener »ghasi«, ein Heidentöter werden und wurde es auch. Mit seinem Dolch schachtete er die schlafenden Jugendlichen.

Der Mullah konnte sich seiner Heiligkeit nicht lange freuen. König Sahir ließ ihn hängen. Denn bringen die Hasch-Jünger auch kaum Reichtümer mit – den kranken Staatshaushalt des Unter-Entwicklungslandes helfen sie allemal zu polieren. 150 Dollar im Schnitt, errechneten Kabuls Touristikexperten, läßt jeder Hippie im Land, das macht immerhin über zehn Millionen Dollar pro Jahr.

Den größten Anteil dieses Geldsegens sahnt die Billig-Hotellerie ab, einheimische Kollegen von Sigi aus Erlangen. Sigi begann seine Karriere als Herbergsvater mit Drogenabstinenz und Pudding kochen für hungrige Blumenkinder. Jetzt kontrolliert er sein honettes Hotel von Pakistan aus – ein deutsches Auslieferungsersuchen trieb ihn in den Nachbarstaat.

»Sigis Hotel«, in dem auch deutsche Diplomaten gern für wenig Geld »good food and rice pudding« (Sigi-Reklame) verzehren, ist allerdings in einer Hinsicht eine Rarität: Es darf nicht gefixt werden. In den anderen Hotels sind Kiffer wie Fixer sicher. Jeder tüchtige Wirt schmiert bei der Polizei einen Informanten, der die höchst seltenen Razzien rechtzeitig ankündigt. Letztlich lebt Kabul gut vom Drogenmarkt.

Rauschmittel, harte wie weiche, sind reichlich, preiswert und gefahrlos zu erwerben. Ein Kilo Haschisch der Marke »schwarzer Afghan« etwa kostet knapp 123 Mark (Grammpreis in bundesdeutschen Diskotheken letzte Woche: zwischen neun und elf Mark), Heroin pro Gramm 40 Mark, und das gereicht einem gestandenen Fixer zu drei guten »main trips«.

Hasch, Opium und Heroin stammen aus der Landesproduktion, die zwar illegal ist, aber geduldet wird, da sie auch ärmsten Untertanen das tägliche Fladenbrot beschert.

Vergebens versuchten bislang deutsche und amerikanische Landwirtschaftsexperten die Kirgisen zwischen Pamir und Hindukusch für Ersatzanbauten zu erwärmen. Auf deren zimmergroßen Feldchen, die obendrein noch sieben Monate lang von Schnee bedeckt sind, ist Mohn- und Hanfkultur immer noch lukrativer als die Zucht von Tomaten und Sonnenblumen.

Morphin in Röhrchen auf dem Markt von Kabul stammt von der Firma E. Merck, Darmstadt. Deutsches Spendengut vom November 1970, verladen für schmerzgepeinigte Flutopfer in Bengalen, beseelt jetzt Weltschmerzgepeinigte zwischen Marx und Buddha.

Vom westpakistanischen Karatschi aus, wo die Spende festgelaufen war, gelangt sie über die Pharmedo Pakistan Ltd. und den Apotheker Mohammed Kussain and Sons in Peschawar nach Afghanistan – und nicht nur dahin: Im Mail-order-Verfahren können auch Deutsche – gegen 40 Dollar Luftpostbrief-Einlage – 100 Pillen des Präparats aus Deutschland über 20 000 Kilometer Umweg von Hussain erwerben.

In Kabul »fixen 90 Prozent der Franzosen, die Tommies haschen auch, Österreicher und Deutsche verdienen sich den Trip mit Prostitution«, weiß ein Hotelier zu klarifizieren.

Eine 19-jährige Helma aus Linz an der Donau, seit zwei Jahren auf Wanderschaft im Orient, bedient in der Tat zwischen ihren Trips frustrierte Muselmänner, die für eine Einheimische einen Monatslohn ausgeben müßten, gegen ein Sechstel der Summe. Sie nimmt 80 Afghanis, rund drei Mark pro Mann. Joe, ein 15-jähriger Strichjunge aus Alabama, kassiert mehr – acht Mark –, weil er jüngst für sich und sein Hündchen ein Apartment gemietet hat. Ist die Not am größten, treibt es die Hippies zum Establishment. Den Herren des Establishments, den Diplomaten westlicher Länder, macht die Freizügigkeit der Drogenhölle Kabul schwer zu schaffen.

Nicht allein, daß in den sauberen Botschaftsstuben durch häufigen Kontakt mit abgebrannten oder ausgeraubten Süchtigen Hepatitis grassiert (den Konsul Hollands warf das verbreitete Fixer-Leiden drei Monate lang aufs Krankenlager). Die häufig erforderliche Amtshilfe reicht von Bargeldspenden, da Kabuls Banken die von Eltern verschollener Freaks überwiesenen Gelder gern zum zinstrachtigen Spekulieren nutzen, über Paßverteilung, Paßdiebstahl und -verkauf gehören zu den fettesten Schwarzmarktgeschäften – bis hin zur Last mit Leichen.

Im ersten Halbjahr 1972 registrierte die britische Botschaft in Kabul neun tote Landsleute, die sie entweder auf dem Ausländerfriedhof beisetzte oder in Zinksärgen per Luftfracht nach England schickte. Wenn Angehörige die teure Todesfracht nicht zahlen konnten oder wollten, kauften die Briten für 1200 Afghanis Holz, verbrannten die Drogenopfer auf dem Scheiterhaufen und schickten nur die Asche heim.

Den Deutschen blieb das im selben Zeitraum erspart, sie hatten nur »OD« (Überdosis)-Fälle und unheilbar Süchtige zurückzutransportieren. »Immerhin«, fand Paul Günther, bayrischer Kripo-Experte am Landeskriminalamt Kabul, »die Freaks, die hier sind, machen uns zu Hause keine Schwierigkeiten.«

Wie Günther suchen Fahnder vieler Nationen in Kabul zumindest Schmugglerkanäle auszuloten. Regierung wie Staatsbeamte Afghanistans unterstützen diese Mühen allenfalls mit sporadischen Schein-Aktionen, ansonsten verdienen sie am Drogenmarkt.

Zwar enteignete König Sahir seinen Sohn und Prinzen Nadir, der den Kabuler Nachtklub »Chinchilla« als Treff von Haschern, Fixern und Dealern mit orientalischem Fingerspitzengefühl für den Zeitgeist betrieb, dafür entging es Beamten des Königs, daß amerikanische und kanadische Profis Druckkessel und Schweißgeräte ins Reich schafften und damit konzentriertes Hasch auf Schnüffelhund-feste Plastiktuben ziehen.

Wohl schnappten afghanische Zöllner unlängst eine Gespielin des in Kabul wegen Richterbeleidigung einsitzenden Frankfurter LSD-Königs Don Quentin Wilson. Die junge Dame hatte einen Gummipenis im Wert von 20 000 Mark bei sich – er war vollgestopft mit Heroin. Drei der ausgehöhlten Damenspielzeuge wurden dann noch im Hotel gefunden, ungestopft.

Ausländische Rauschgiftkommissare ziehen es jedoch vor, ausgespähte Konterbande per Absprache mit Zöllnern erst in Persien, der Türkei oder am besten durch Scotland Yard hochgehen zu lassen wie etwa beim schwedischen Spediteur Asbach, dessen mit 700 Kilo Haschisch veredelter Lkw ungehindert bis in Londons City rollen durfte.

Zu lasch erscheint den westlichen Drogenfahndern die Amtshilfe der afghanischen Kollegen. Kein Wunder: Im Königreich gibt es weder ein kodifiziertes Strafrecht noch Arzneimittel- oder Apothekengesetz. Leitfaden der Legislative ist noch immer das kanonische Recht des Islam.

Schwer wie die Spurensicherung der Täter ist somit auch die Hilfe für Hippies im Drogensumpf. Einer ihrer Helfer war der Amerikaner Floyd McLung, der Drop-outs eine »Freaks' Clinic« für medizinischen Rat und ein Teehaus für Bibelstunden eingerichtet hatte.

»Die Drogenszenerie wird hier eher schlimmer als besser«, klagte er noch im Juli. Anfang August war das Teehaus geschlossen, an der Klinik hing ein Schild, »auf Anordnung unserer höchsten Autoritäten« bleibe das Haus zu für den Rest des Sommers.

Ob die höchste Autorität Afghanistans Regierung oder Jesus war, wie manche Hippies meinen, ist bisher ungeklärt.

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