3. Fortsetzung
Es waren ihrer drei -- drei Männer in großdeutscher Offiziersuniform, die entschlossen waren, das sinkende Staatsschiff des Nationalsozialismus zu verlassen und sich in die demokratische Zukunft hinüberzuretten.
Am 4. April 1945 setzten sie sich im Kurhotel von Bad Elster in Sachsen zusammen und entwarfen einen Plan, der ihnen eine neue Karriere sichern sollte. Noch tönte die Stimme des Nachrichtensprechers aus den Rundfunkapparaten: »Gegen die Festung Breslau setzte der Gegner seine Angriffe mit starken Kräften fort, in den Straßen von Rheine und Osnabrück wird gekämpft«, da rüsteten sich die drei zu einem neuen Feldzug.
Sie waren die Führer eines Apparates, der die sogenannte Feindlage auf dem östlichen Kriegsschauplatz erkundete und analysierte. Jeder von ihnen stand auf einem Kommandoposten des militärischen Geheimdienstes der Wehrmacht:
Generalmajor Reinhard Gehlen führte seit dem Frühjahr 1942 die Abteilung »Fremde Heere Ost« (FHO) im Generalstab des Heeres. Sein Auftrag: Aus Gefangenen-Aussagen, Erkundungsergebnissen des Geheimen Meldedienstes und Abhörberichten des Funkhorchdienstes ein Bild der strategischen, rüstungstechnischen und politischen Lage in der Sowjet-Union zusammenzustellen.
Oberstleutnant Gerhard Wessel fungierte seit Frühjahr 11143 als Ia (Erster Generalstabsoffizier) und stellvertretender Abteilungsleiter der Fremde Heere Ost. Sein Auftrag: Auswertung der Luftaufklärung, Beobachtung der Feindlage auf den nichtöstlichen Kriegsschauplätzen und Bearbeitung aller Personalfragen der Gehlen-Abteilung.
Oberstleutnant Hermann Baun befehligte seit Juni 1941 die mit der FHO lose verbundene Frontaufklärungsleitstelle I Ost (Tarnname: »Walli I"). Sein Auftrag: Einsatz landeskundiger Agenten hinter den sowjetischen Linien und Ausspähung des gegnerischen Hinterlandes.
An diesem 4. April 1945 gab es freilich nicht mehr viel zu erkunden. Die Lage war auch dem letzten Deutschen nur allzu klar: Der Krieg war verloren, der Traum vom Tausendjährigen Reich neugermanischer Edelmenschen zerronnen. Millionen zerschlagener, desillusionierter Deutscher marschierten in schier endlosen Kolonnen hinter den Stacheldraht alliierter Gefangenenlager.
Doch Gehlen, Wessel und Baun hatten vorgesorgt. Gehlen hatte dank seiner intimen Kenntnis des feindlichen Potentials »frühzeitig erkannt, daß der Krieg mit einer Niederlage Deutschlands enden würde« -- so der ehemalige Bonner Staatssekretär Karl Carstens, Dienstherr des Bundesnachrichtendienstes, in einer Rede auf Gehlen.
Bereits 1942 beschäftigte sich Gehlen mit Amerikas Militärmacht. Generalstabschef Haider notierte sich in jenem Frühjahr in sein Tagebuch: »Oberstleutnant Gehlen: Vortrag über amerikanische Wehrmacht.« Für Gehlen blieb nicht lange unklar, wer den Krieg verlieren werde.
Bald faszinierte ihn die Frage, wie sich Armee und Verwaltung eines Landes retten ließen, das vom Gegner besetzt war. Das Schicksal der national-polnischen Untergrundarmee, der Armia Krajowa (AK), gab ihm ein erstes Exempel.
1943 waren der FHO die Akten des Hauptkommandos der Widerstandsbewegung, in deren Auftrag die AK agierte, in die Hände gefallen, darunter auch die Pläne für einen Aufstand gegen die deutschen Besatzer. Gehlen verfaßte daraufhin im Februar 1944 eine Denkschrift, die eine beträchtliche Kenntnis des polnischen Gegenspielers verriet.
Gehlen formulierte: »Die illegale polnische Armee steht unter Leitung des 'Landeskommandanten' (Oberst Graf Kornorowski, Deckname 'Bor'). Aufgabe der AK: Vorbereitung eines Aufstandes und des Wiederaufbaues der polnischen Wehrmacht.« Nachdem Bor-Komorowski, wie von Gehlen vorausgesagt, im August 1944 in Warschau losgeschlagen hatte und sein Aufstand gescheitert war, ließ der FHO-Chef untersuchen, ob eine Illegale Regierung und Armee überhaupt im Untergrund existieren könne.
Ein Frontaufklärungskommando erhielt Order, die Geschichte des Warschauer Aufstandes zu analysieren. Oberstleutnant Horaczek, ehemaliger Leiter der Abwehrstelle Warschau, wurde im Auftrag Gehlens zu dem gefangenen Bor-Komorowski geschickt, Ergebnis der Untersuchung: Im Untergrund konnten Widerständler auf die Dauer nicht wirksam operieren.
Auf dieses Interesse Gehlens für den polnischen Widerstand gründet die östliche Propaganda noch heute den Vorwurf, Gehlen habe damals begonnen, eine deutsche Untergrundorganisation aufzubauen. Tatsächlich lagen Gehlen solche Pläne fern. Er hatte für sich und seine Spezialisten einen ganz anderen Ausweg erspäht.
Er griff eine Idee auf, die von dem schärfsten NS-Gegner in der FHO, dem später von einem Fliegenden Standgericht erschossenen Gruppenleiter Graf von Rittberg, stammte. Rittberg hatte sie zum erstenmai 1943 seinem Freund, dem Major Schwerdtfeger, anvertraut.
»In einem Gespräch unter vier Augen mit mir«, berichtet Schwerdtfeger, »erwog er die Idee und die Möglichkeiten, den Alliierten sämtliche Unterlagen (der FHO) über das russische Heer, Ausbildung, Rüstungspotential usw. auf irgendeinem Wege in die Hände zu spielen, um ihnen die Gefährlichkeit ihres eigenen Verbündeten vor Augen zu führen und damit eventuellen Versuchen, mit den Alliierten einen Sonderfrieden zu schließen, Vorschub zu leisten.«
Auch für den konservativen Antikommunisten Gehlen stand fest, daß der Westen die Deutschen noch einmal gegen die Sowjets benötigen werde; mithin mußte das Ostmaterial der FHO für Gehlen und seine Mitarbeiter zu einer Freifahrkarte in die Zukunft werden. Mitte 1944, 50 Gehlen-Interpret Carstens, rechnete der General damit, »daß die Allianz zwischen den Westmächten und der Sowjet-Union auseinanderbrechen würde, wenn erst einmal der gemeinsame Gegner besiegt sein würde«,
Auf diese Stunde bereitete Gehlen seine engsten Mitarbeiter bei FHO und Walli 1 vor. Davon hörte Jaschka Jakow vom Forschungsamt, einer Geheimdienstfiliale Hermann Görings, als er Ende 1944 Gehlen in einer Wohnung des Münchner Vororts Pasing begegnete.
Jakow erinnert sich: »Damals befanden sich noch drei Offiziere in seinem Zimmer. Wir Mitarbeiter der Abwehr, die wir uns nur unter einem Decknamen kannten, erhielten an diesem Tage »Arbeitsanweisungen für die Abwehr im Falle einer zeitweiligen Besetzung Deutschlands durch feindliche Truppen.«
Luftwaffen-Abwehrmann Jakow bekam freilich nur das eine Ende des Fadens zu sehen, den Gehlen zu spinnen begann: Er erfuhr lediglich, man wolle den militärischen Nachrichtendienst für die Zeit nach der Niederlage konservieren. In Wahrheit plante Gehlen mehr: die Reaktivierung von Oberkommando und Generalstab des Heeres.
Vor dem mißtrauischen Reichssicherheitshauptamt (RSHA) der SS tarnte Gehlen seine Winkelzüge nicht ohne Geschick. Der Chef des Amtes VI (Ausland-SD) im RSHA, SS-Brigadeführer Walter Schellenberg, dem der Geheime Meldedienst unterstand, bekam zu hören, die FHO müsse sich darauf vorbereiten, daß die Feindmächte Reichsgebiet besetzen würden; dann solle im Untergrund ein Nachrichtendienst funktionieren.
Die FHO begann, alle Berichte und Studien über die Sowjet-Union zu photographieren und eine Auslagerung der Duplikate vorzubereiten. Gehlens Begründung: Fremde Heere Ost müsse auch weiterarbeiten können, wenn die Originalunterlagen durch einen feindlichen Bombenangriff vernichtet würden.
Die Absetzbewegung konnte Gehlen unauffällig einleiten, da ihm im Februar 1945 als stellvertretendem Chef der Führungsgruppe des Heeres-Generalstabs die Aufgabe zugefallen war, den Abtransport der Generalstabs-Abteilungen auf Autos ("Mot-Marsch") zu planen. Unter diesem Deckmantel betrieb Gehlen vor allem die Verlegung der FHO und ihrer Kartei.
Am 4. April erreichte den Leiter der FHO-Kartei unter dem Rubrum »Geheime Kommandosache« die Weisung: Für den Fall der Bildung einer Vorausstaffel und deren Verlegung Im Mol-Marsch vor dem Abtransport der gesamten Abteilung ist beabsichtigt, die Kartei dieser Vorausstaffel anzugliedern. Es wird gebe. ten, dafür Vorsorge zu treffen, daß die Offiziere. Unteroffiziere, Mannschaften und Stabshelferinnen belehrt werden, daß dem Befehl zum Abtransport Innerhalb von spätestens zwei Stunden nachgekommen werden muß und daß innerhalb dieser Zeit das gesamte Karteimaterial verladen sein muß. Das persönliche Gepäck einschließlich Decken hat am Mann zu bleiben und darf nicht auf Lkw verlostet werden.
Derartig für die Absetzbewegung gerüstet, fuhr Gehlen noch am selben Tag mit seinem Stellvertreter Wessel nach Bad Elster, wo Frontaufklärer Baun Quartier bezogen hatte. In der Rückblende erhält diese Zusammenkunft historisches Gewicht: In Bad Elster wurde einen Monat und vier Tage vor der reichsdeutschen Kapitulation das Meßtischblatt für die spätere Allianz Bonn-Washington aufgezogen.
Bauns Frontaufklärungsleitstelle I Ost unterstand zwar »fachlich« (wie es im Amtsdeutsch hieß) dem Reichssicherheitshauptamt, sie arbeitete jedoch mit Gehlens FHO eng zusammen. Und wie Gehlen hatte auch Baun Vorsorge getroffen, daß sich internationale Spionage-Brigaden aus Baltendeutschen, Russen, Ukrainern und Armeniern für den Einsatz hinter den sowjetischen Linien bereit hielten -- für die Zeit nach dem Zusammenbruch des Reiches.
Gehlen eröffnete die Lagebesprechung in Bad Elster mit einer Prognose: Der Krieg werde höchstens noch vier Wochen dauern. Ob es dann sofort zu einer militärischen Konfrontation zwischen dem Westen und dem Osten kommen werde, Risse sich nicht genau voraussagen. Auf jeden Fall müsse sich das deutsche Heer auf die westliche Seite schlagen -- und sei es auch vorerst als eine Armee der Gefangenen --
Offiziere und Mannschaften von Fremde Heere Ost -- so Gehlen -- würden von ihm den Befehl erhalten, sich vom Lager Maybach 1 bei Zossen, dem Hauptquartier des Heeres-Generalstabes, nach Süddeutschland abzusetzen, denn nach den ihm vorliegenden Plänen der Alliierten sei den Amerikanern Süddeutschland all Besatzungsgebiet zugesprochen worden.
Baun erklärte, auch er werde versuchen, sich mit seinen Frontaufklärern in Richtung Südwesten zu bewegen. Der FHO-Chef und der Leiter von Walli I vereinbarten, ihre gemeinsamen Dienste nur den US-Truppen anzubieten. Jeder von ihnen werde ein Gastgeschenk mitbringen: die FHO das komplette Lagebild über Rußlands Streitkräfte und eine Personenkartei der Sowjetarmee, die Frontaufklärungslettstelle 1 Ost ein Agentennetz bis hin nach Moskau.
Für einen neuen Krieg gegen die Sowjetarmee auf deutschem Boden hielt Baun schon einen Operationsplan bereit, der für die Zeit nach dem Zusammenbruch der Wehrmacht vorsah: > Ausbildung und Einsatz von Saboteuren und Diversanten hinter der sowjetischen Kampflinie;
* Militärspionage gegen die Rote Armee;
* Anlage von Waffendepots für eine spätere Untergrundbewegung gegen die Sowjets;
* Bildung von Kampfeinheiten mit maximal je 60 Mann;
* Einrichtung von Funkmeldeköpfen; Verbreitung gedruckter und mündlicher Propaganda gegen den Bolschewismus.
Gehlen zügelte Baun mit dem Hinweis, wichtiger als Pläne für einen Partisaneneinsatz scheine ihm vorerst die Einrichtung eines Nachrichtennetzes, das nach Abruf auch funktioniere. Zu diesem Zweck sollten Offiziere, insbesondere in Fragen der Feindaufklärung geschulte lc-Generalstäbler, in Zivil hinter den sowjetischen Linien untertauchen und sich für eine spätere Ansprache bereit halten.
Dann wandten sich die Zukunftsdenker einer naheliegenden Frage zu: Wie konnte man überhaupt mit den Amerikanern in Verbindung treten? Baun erbot sich, Offiziere seines Verbandes zu US-Stäben im nahen Thüringen zu schicken, um -- wie der Oberstleutnant in seinem Tagebuch notierte -- »mit den Amerikanern in Arbeit zu kommen«.
Gehlen mutmaßte, die US-Soldaten würden jeden deutschen Offizier sofort in ein Kriegsgefangenenlager einweisen. Dennoch beschlossen Gehlen, Wessel und Baun, jeder von ihnen sei befugt, bei erstbester Gelegenheit einem möglichst hohen amerikanischen Offizier die Allianz der Deutschen anzubieten, auch im Namen der beiden anderen Partner, Dagegen dürften die übrigen Angehörigen der beiden Geheimdienstgruppen in Gefangenschaft nur Namen und Rang angeben, nicht aber ihre Einheit und Funktion benennen. Auf jeden Fall sollten Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften nur auf schriftliche Anweisung von Gehlen, Wessel oder Baun präzise Angaben machen.
Schließlich vereinbarten die drei künftigen Alliierten der Amerikaner, wie sie sich gegenseitig kontaktieren könnten, falls sie selbst voneinander getrennt würden:
Als Kennwort für die Operation wählten sie die Buchstaben FHO, als »lebenden Briefkasten« einen Professor für Kirchengeschichte. In den Botschaften, die der Professor weiterleiten sollte, stand für den Namen Gehlen Y, für Baun X und für Wessel
Am 5, April erteilte Gehlen im Hauptquartier bei Zossen dem Stab der Fremde Heere Ost seine vorerst letzten Befehle. Die Kopien der Karteien, Berichte, Luftaufnahmen, Studien, Akten und Karten wurden in 50 Stahlkoffern verpackt. Als Verstecke für dieses komplette geheimdienstliche Archiv über die Sowjet-Union bestimmte der General Plätze am Wendelstein und im Allgäu.
Just in diesem Augenblick drohte Hitler, den Plan Gehlens zunichte zu machen: Am 10. April setzte er den Generalmajor als Chef der FHO ab -- Hitler war empört über Gehlens allzu nüchterne Feindlage-Berichte, die das bevorstehende Ende ankündigten. Doch Gehlen blieb unbesorgt, Nachfolger Wessel führte die Abteilung Im alten Geist weiter.
Neun Tage später war es soweit. Die bevorstehende Einschließung Berlins durch die sowjetischen Angriffsverbände zwang den Heeres -- Generalstab, das Lager Maybach 1 zu räumen und in das noch unbesetzte Rumpfdeutschland zu retirieren. Ein Teil gelangte schließlich nach Flensburg, der Rest marschierte nach Bayern, in die sogenannte Alpenfestung.
Auch die Abteilung Fremde Heere Ost spaltete sich: Eine kleinere Gruppe unter Oberstleutnant Scheibe und Major von Kalckreuth zog sich nach Flensburg zurück, die größere Gruppe unter Abteilungsleiter Wessel tauchte in Bayern unter; Scheibes Leute führten eine Kiste mit photokopiertem FHO-Material mit, in Wessels Troß befanden sich die meisten der 50 Stahlkoffer.
Ein paar Tage später stieß auch Gehlen zu der bayrischen Gruppe und übernahm deren Leitung. Er saß in einem der Wehrmachtskübelwagen, die Ende April in der Nähe des Spitzingsees in Bayern aufkreuzten. Die Fahrzeugkolonne bewegte sich vom See aus auf der etwa 13 Kilometer langen Forststraße nach Valepp. In Gehlens Wagen saßen noch andere Offiziere der FHO.
In Valepp schickte Gehlen die Fahrer zurück nach Miesbach; er und seine Offiziere· kletterten den steilen Hang hinauf zur »Elendsalm«, auf alten Karten auch Odlandsalm genannt, einem Staatsbesitz, den das Forstamt von Fischbachau an Bauern verpachtete.
1945 war der Bauer Ludwig Priller aus Uslaw Pächter. Da er noch bei der Wehrmacht war, führte seine Frau die Landwirtschaft; in ihrem Auftrag sah der Senner Rudi Kreidl in der Elendsalmhütte nach dem Rechten. Gehlen aber fand die Hütte leer, als er sie sich zur Basis seiner neuen Karriere auserwählte.
Ein Vorauskommando hatte zuvor schon am Berg Koffer mit den Mikrofilmen der Fremde Heere Ost vergraben und in der Hütte Lebensmittel für mehrere Monate gelagert. Über dem Feldbett befestigte Gehlen einen Wandspruch mit der Aufschrift: »Laet vaeren nytt!« ("Gib nicht auf!"), Motto der flämischen Adelsfamilie vad Vaernewyck, aus der Gehlens Mutter stammte.
Ein paar Tage später kam Wessel, der noch in dem sogenannten Stab Süd in Bad Reichenhall die Feindlage-Bearbeitung übernommen hatte. Mit drei Generalstabsoffizieren quartierte er sich auf einer weiteren Alm ein, die von Gehlens Versteck 30 Kilometer entfernt war.
Als die amerikanischen Panzer durch Bayern vorstießen, verharrte Gehlen in der soldatischen Erkenntnis, daß ihn Fronttruppen kaum zu einem US-General, dafür aber unverzüglich in ein Kriegsgefangenenlager führen würden. Er wartete die zweite und dritte Welle mit Divisions- und Armeestäben ab.
Jeden Morgen vor Sonnenaufgang kletterte Gehlen mit seinen Offizieren in die Berge, weil er annahm, die Amerikaner würden das Gebirge nicht tiefer durchforschen, als es mit Jeeps befahrbar war. Jeden Abend kehrte er in die Hütte zurück, denn er sah voraus, daß die Jeep-Patrouillen nur am Tage fahren würden.
So blieb zwar den Amerikanern das Ausweichquartier Gehlens verborgen, nicht aber dem Senner Kreidl. Noch heute glaubt Kreidl, in der Hütte hätten sich seinerzeit SS-Männer und ein Zivilist mit Goldenem Parteiabzeichen versteckt. Auf die SS aber hatte Kreidl einen »Mordszorn«.
Er stieg schließlich zu Tale und alarmierte die Amerikaner. Dort, wo die Straße vom Spitzingsee auf die Straße nach Bayrischzell stößt, traf er einen US-Soldaten. Kreidl: »Dem sagte ich, auf der Elendsalm sind SS-Männer; die soll er verhaften.«
Nach dem Alarmruf »SS« rückte alsbald ein amerikanisches Kommando zur Elendsalm vor. Gehlen zeigte sein Soldbuch und verlangte, einem Offizier des Counter Intelligence Corps (CIC), des Abwehrdienstes der US-Armee, vorgeführt zu werden. Das war am 20. Mal 1945, zwölf Tage nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht.
In einem Jeep wurde Gehlen nach Miesbach gebracht, wo ein CIC-Kommando stationiert war. Der General stellte sich dem Vernehmungsoffizier vor: »Ich bin der Chef der Abteilung Fremde Heere Ost im deutschen Oberkommando des Heeres.«
»Sie waren es, General«, antwortete der CIC-Offizier.
Gehlen: »Ich habe Mitteilungen zu machen, die von höchster Wichtigkeit für Ihre Regierung sind. Doch der Amerikaner blieb unbeeindruckt: »Das haben sie alle.« Er ließ den Deutschen in ein Gefangenenlager bringen.
Gehlen hat seine Enttäuschung über diesen Empfang nie überwinden können. Noch 1960 autorisierte er den Journalisten Wolfgang Wehner, Autor des Buches »Geheim«, über den Miesbacher CIC zu urteilen: »Diese Einheit war ein typisches Kriegskind« zu schnell gewachsen, mit den falschen Leuten besetzt und ihrer Aufgabe höchstens einmal aus Zufall gewachsen.«
Auch später blieb das Verhältnis Gehlens zum CIC gestört. Kenner des nicht uneitlen Generals motivieren: »Er hatte sich vorgestellt, die Amerikaner würden ihm vor Freude um den Hals fallen. Das tat das Würstchen in Miesbach nicht, und Gehlen war beleidigt,«
Tatsächlich jagten die Vernehmer des CIC zu jener Zeit nur Nazis und Kriegsverbrecher. Der Miesbacher Einheitsführer hatte mit Sicherheit von Gehlens Abteilung nie gehört und folglich auch seinen Fang nicht zu würdigen vermocht. Amerikas Abwehrdienst verfügte im Mai 1945 in Deutschland lediglich über sieben Ost-Experten, die zudem in Heidelberg und Frankfurt residierten.
Zur selben Zeit hielt sich Baun mit seinen Offizierskameraden in Retten berg (Allgäu) vor französischen Besatzungstruppen verborgen. Er stellte sich erst nachrückenden US-Einheiten, die auch ihn in ein Lager einwiesen.
Wer schließlich als erster den in Bad Elster abgesprochenen Kontakt zu verständnisvolleren Amerikanern hat anknüpfen können -- ob Gehlen oder Baun -, läßt sich heute mit letzter Gewißheit nicht mehr rekonstruieren. Freunde Bauns behaupten, der Ruhm gebühre ihrem Oberstleutnant: Mit amerikanischer Förderung habe er seine Leute schon in den PoW-Lagern unter besseren Lebensbedingungen hei Weißbrot und Bohnenkaffee sammeln können, als sich Gehlen noch erfolglos bemüht habe, hinter Stacheldraht untere CIC-Chargen auf sich aufmerksam zu machen.
Sollte Baun einen Zeitvorsprung gewonnen und ihn nicht dazu genutzt haben, sich für Gehlen einzusetzen, so dürfte hier ein Grund ·für die spätere Feindschaft zwischen den beiden Männern zu suchen sein. Er würde zu einem Teil die Abneigung erklären, die Gehlen gegen ehemalige Abwehr-Offiziere (Baun kam aus der Abwehr) hegte.
In der Tat sagen Gehlen-Anhänger Baun nach, er habe versucht, mit den Amerikanern allein ins Geschäft zu kommen« um sich die Chef-Position in dem geheimdienstlichen Hilfswilligen-Verband der Deutschen zu sichern. Wenn er so spekuliert hatte, war er einem Irrtum erlegen: Gehlen fand doch noch rechtzeitig den Anschluß an die »richtigen« Amerikaner.
Schon auf der nächsten Station seiner Gefangenschaft, in einem Lager bei Augsburg, konnte er hoffen, die Amerikaner für sich zu gewinnen. Sein alter Rußland-Berater Struk-Strikfeldt traf ihn dort und notierte sich: »Gehlen war zuversichtlich und ungebrochen. Er hatte Pläne, die weit in eine neue Zukunft wiesen, während die meisten anderen nur in die Vergangenheit zurückblickten.«
Die Amerikaner wurden nach langen Umwegen auf ihn aufmerksam. In Flensburg hatte der dort gestrandete Teil des Oberkommandos der Wehrmacht ("OKW Nord") nach der Kapitulation eine Demobilmachungs-Abteilung aufgestellt, die zusammen mit alliierten Militärs die Entwaffnung und Auflösung der deutschen Streitkräfte vorbereiten sollte.
Vor den Deutschen in Flensburg aber spielte sich bald ein Wettstreit zwischen Angelsachsen und Sowjets um Hitlers ehemalige Nachrichtenoffiziere ab: Eine westalliierte Überwachungskommission unter US-General Lowell W. Rooks und eine sowjetische Kommission (Chef: Generalmajor Trussow) fahndeten nach Material und Personal des deutschen Geheimdienstes.
Schon am 13. Mai verlangte Rooks die Auslieferung einer »Liste der deutschen Nachrichtenoffiziere, Handbücher einschließlich Arbeitsanweisung, Diagramme sowie alle Feldhandbücher über militärische Nachrichtenverbindungen«. Die Russen fragten noch gezielter: Sie wollten wissen, wo das Material der Fremde Heere Ost und deren Chef geblieben seien.
Am 19. Mai lud die russische Vier-Mann-Kommission den Major Borchers von der Demobilmachungs-Abteilung für 18.15 Uhr vor und unterwarf ihn einem strengen Verhör. Borchers sollte sagen, wer über das Rote-Armee-Material der FHO Auskunft geben könne. Borchers: »Wahrscheinlich nur der im Südraum befindliche General Gehlen.«
Die sowjetischen Offiziere horchten auf, der Name Gehlen schien ihnen unbekannt zu sein. Nächste Frage: »Hat General Gehlen einen Vertreter in Flensburg?« Darauf Borchers: »Offiziere der Abteilung Fremde Heere Ost sind noch hier.« Die Russen verlangten, Borchers solle mit einem FHO-Mann am nächsten Tag pünktlich um zehn Uhr antreten.
Die Amerikaner erfuhren von dem sowjetischen Interesse an der FHO und reagierten schnell. Noch am 19. Mai wurde Gehlens Vertreter in Flensburg, der Oberstleutnant Scheibe, von den Amerikanern verhaftet, die von Scheibe betreute Kiste mit dem photographierten FHO-Material hatte der amerikanische Oberstleutnant Austin bereits zwei Tage vorher beschlagnahmen lassen.
Russen und Amerikaner aber stellten sich immer dringlicher die Frage: »Wo ist General Gehlen?« Die Offiziere des amerikanischen Generalstabsdienstes G-2* begannen, nach dem
* G-2: Abkürzung für Generalstab, 2. Abteilung. Der Generalstabsdienst des US-Heeres gliedert sich in: G-1 (Personal), G-2 (Feindaufklärung), G-3 (Organisation), G-4 (Versorgung). Das System wurde später auch von der Bundeswehr übernommen.
ehemaligen Leiter der Fremde Heere Ost zu fahnden, der sich irgendwo (so viel hatten sie in Flensburg erfahren) in der US-Besatzungszone aufhalten sollte.
Ein G-2-Oberst namens William R. Philip war es schließlich, der den FHO-General entdeckte. Philip war Kommandant des Sondergefangenen-Lagers Oberursel, in das Gehlen anderthalb Monate nach seiner Arretlerung vom CIC abgeschoben worden war.
Der Colonel las Anfang Juli 1945 in einer CIC-Akte, daß sich der vielgesuchte Gehlen in Oberursel befinde und wiederholt gefordert habe, einem US-General vorgeführt zu werden. Sofort erstattete Philip Meldung bei seinem Vorgesetzten, dem in Kronberg residierenden Brigadegeneral Edwin L. Sibert, obersten Nachrichtenchef der amerikanischen Besatzungszone.
Mit ihm trat der Mann in Gehlens Leben, der wie kein zweiter die Nachkriegskarriere des einstigen Wehrmacht-Generals fördern sollte. Edwin Luther Sibert, Jahrgang 1897, gelernter Artillerist, ehemaliger Militärattaché und Professor der Militärwissenschaft, war ebenso wie Gehlen erst spät zum Geheimdienst gestoßen.
Seit März 1944 Nachrichtenchef der später durch Frankreich vorstoßenden 12. US-Heeresgruppe« hatte sich Sibert mit dem Denken deutscher Militärs vertraut gemacht. Noch während der Kämpfe in Frankreich war er bereit gewesen, die Offiziere Adolf Hitlers für die amerikanische Kriegführung zu nutzen.
Die Idee kam von dem Deutschland-Berater des in Bern residierenden US-Geheimdienstlers Alten W. Dulles, dem Deutschamerikaner Gero von Gaevernitz. Er schlug Sibert im November 1944 vor, durch Mittelsleute Kontakt zu kriegsmüden deutschen Front-Befehlshabern aufzunehmen und sie zur Kapitulation zu bewegen.
Sibert ließ in alliierten Kriegsgefangenenlagern nach deutschen Offizieren fahnden, die willens waren, den Kontakt zu ihren Frontkameraden herzustellen. Rasch hatte Sibert genügend deutsche Offiziere zusammen, die helfen wollten, im Auftrag der Alliierten den Krieg zu beenden.
Der G-2-General funkte daraufhin an das Kriegsministerium in Washington, man möge ihm erlauben, ein Komitee deutscher Kriegsgefangener unter Leitung des Luftwaffen-Generalmajors Gerhard Bassenge, eines ehemaligen Abwehroffiziers« aufzustellen und es dem alliierten Hauptquartier als Beratungsausschuß zu attachieren,
Doch Washington lehnte den Sibert-Vorschlag ab und verbot jedes Fraternisieren mit ehemaligen NS-Offizieren. Sibert geriet in die Schußlinie offizieller Kritiker, zumal die kurze Zeit später losbrechende Überraschungsoffensive der Deutschen in den Ardennen enthüllte, wie falsch Sibert die Kampfmoral des Gegners eingeschätzt hatte.
Washington leitete eine Untersuchung gegen Sibert ein, er galt als der eigentliche Sündenbock für den anfänglichen Ardennen-Rückschlag. Zwar wurde er vom Kriegsministerium rehabilitiert, dennoch blieb in Sibert die Frage zurück, ob ein Feindlage-Offizier über den Gegner hätte mehr in Erfahrung bringen können als er über die Deutschen.
So blickte er gespannt dem Deutschen entgegen, der mit dem Anspruch auftrat, nahezu alles über den sowjetischen Gegner zu wissen. Der Kriegsgefangene Gehlen demonstrierte dem Sieger Sibert, wie man den Gegner ausforschen kann. Sibert war überrascht. Er erinnert sich: »Ich hatte sogleich einen hervorragenden Eindruck von ihm.«
Anfänglich gab es zwischen dem Amerikaner und dem Deutschen Verständigungsschwierigkeiten. Sibert: »Gehlens Englisch war nicht sehr gut, mein Deutsch ebenfalls nicht. Wir haben damals einen amerikanischen Offizier als Dolmetscher geholt.«
Gehlen berichtete Sibert über Auftrag und Funktion der Fremde Heere Ost. Dann aber belehrte er ihn über »die tatsächlichen Ziele der Sowjet-Union und deren Machtentfaltung« (Carstens). Sibert ließ sich Gehlens Vortrag Satz für Satz übersetzen, ohne den Deutschen zu unterbrechen -- ein Vorgang ohne Beispiel. Die USA standen mit der Sowjet-Union in einem Bündnis, das nach interner Dienstanweisung der US-Armee jeden Amerikaner verpflichtete, selbst verbale Negativurteile von Deutschen über die Sowjets zu unterbinden.
Gehlen prophezeite, Stalin werde Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien und Rumänien keine Selbständigkeit gewähren, Finnland der Kontrolle des Kreml unterwerfen; er wolle voraussichtlich dem ganzen Deutschland, also auch der US-Zone, den Kommunismus aufzwingen. Mit seinem Kräftepotential könne Rußland einen Krieg mit dem Westen wagen Ziel eines solchen Krieges sei die Besetzung Westdeutschlands.
Sibert beschränkte sich vorerst auf einen einzigen Kommentar: »Sie wissen viel über die Russen, General.«
Gehlen beteuerte daraufhin, er könne seine Thesen beweisen, und dies mit Materialien, die ihm zur Verfügung stünden. Sibert erzählt: »Er hatte irgendwo einige Dokumente und Unterlagen, und er allein wußte, wo die Papiere waren.« Auch die Sachkenner dieses Materials, so fuhr Gehlen fort, seien verfügbar, man brauche nur die in PoW-Camps einsitzenden Offiziere von Fremde Heere Ost zu holen. Schließlich lasse sich das deutsche Agentennetz in der Sowjet-Union reaktivieren, diesmal zum Nutzen der USA.
Sibert zu Gehlen: »Ich will sehen, was ich für Sie tun kann.« Die Herren verabschiedeten sich mit Handschlag; der Deutsche wurde ins Lager Oberursel zurückgebracht.
In den nächsten Tagen verstieß US-General Sibert gegen ein strenges Reglement der amerikanischen Streitkräfte: nur auf Befehl zu handeln. Er informierte weder den Nachrichtenchef der amerikanischen Streitkräfte in Europa noch den Generalstabschef im alliierten Hauptquartier, General Bedell Smith. Sibert: »Über Gehlens Wert für uns habe ich meine Vorgesetzten erst später informiert, dann nämlich, als wir sicher waren.«
Die Bestätigung holten sich US-Vernehmer von den gefangenen Generalstablern, die Gehlen mittlerweile von ihrer Schweigepflicht entbunden hatte. In Speziallagern bereiteten die Offiziere das Rußland-Material aus den 50 Stahlkoffern auf, die Gehlen aus den Verstecken holen ließ.
Anfang August legte Gehlen dem Amerikaner das erste Ergebnis deutscher Generalstabsarbeit nach dem Kriege vor: Standorte, Stärke und Zusammensetzung sowjetischer Divisionen, Produktionszahlen aus Rüstungs-Kombinaten der UdSSR, Luftaufnahmen russischer Eisenbahn-Knotenpunkte, Berichte über Stimmung in Armee und Bevölkerung der Sowjet-Union.
Jetzt war Sibert vom Wert Gehlens überzeugt. Er erläuterte Generalstabschef Bedell Smith, »was wir mit Gehlen machen wollten": Der ehemalige FHO-Chef solle einen deutschen, von den USA finanzierten Aufklärungsdienst gegen die Sowjet-Union schaffen. Bedell Smith hat dieses Vorhaben -- so Sibert -- »okayed«, doch sahen Generalstabschef wie G-2-Chef davon ab, den Oberbefehlshaber Eisenhower ins Bild zu setzen.
Eisenhower hatte jedes Fraternisieren mit Deutschen verboten. Zudem wollte Bedell Smith den Oberkommandierenden, der im politischen Auftrag Washingtons auch Verhandlungen mit dem Sowjet-Befehlshaber Marschall Schukow führen mußte, vor einer Kompromittierung bewahren, falls die nachrichtendienstliche Zusammenarbeit zwischen Amerikanern und Deutschen ruchbar werden sollte.
Über Eisenhowers Kopf hinweg informierten Smith und Sibert das Kriegsministerium in Washington. Dort hatten inzwischen einige Offiziere Argwohn gegen den sowjetischen Bundesgenossen geschöpft. Hohe US-Generalstäbler stellten sich die Frage, was eigentlich der amerikanische Aufklärungsdienst über die Sowjet-Union wisse.
Die Antwort fiel dürftig aus. Amerikas Geheimdienste besaßen nur geringe Kenntnisse von der Sowjet-Union. Weder das Joint Intelligence Committee des Generalstabs, das die Arbeit der militärischen Nachrichtendienste koordinierte, noch das zivile Office of Strategic Services (OSS), das Spionage, Sabotage und Propaganda zugleich betrieb, verfügte über ausreichendes Sowjet-Material.
Der US-Militärattaché in Moskau hatte bis 1941 die sowjetische Propaganda über die Unbesiegbarkeit der Roten Armee für bare Münze gehalten, sein Nachfolger war ins entgegengesetzte Extrem gefallen: Er hatte nicht geglaubt, daß sich die sowjetische Armee jemals von den Schlägen der deutschen Wehrmacht erholen könne. Die Entsendung einer amerikanischen Militärmission unter General Deane nach Moskau hatte das Wissen über Rußland auch nicht verbessern können. Deane hielt nur Kontakt zu einigen wenigen sowjetischen Offizieren, die überdies aus der Polit-Verwaltung der Roten Armee kamen. Fazit: Washington wußte kaum, was in der Sowjet-Union vorging.
Da bot Sibert einen Ausweg an und sah zugleich eine Chance, mit dem Hinweis auf Gehlen und dessen Apparat sich selber zu rehabilitieren. Das US-Kriegsministerium zeigte sich interessiert; im August 1945 setzte Sibert seinen Favoriten Gehlen und vier weitere FHO-Offiziere nach Washington in Marsch:
* den Major Albert Schoeller, ehedem stellvertretender Leiter der Gruppe I (Tägliche Feindlage-Bearbeitung), > den Major Horst Hiemenz, ehedem Leiter der Gruppe II (Gesamtlage Sowjet-Rußland),
* den Oberst Heinz Herre, bis 1943 Erster Generalstabsoffizier der Fremde Heere Ost und als ehemaliger Chef des Ausbildungsstabes der russischen 1. Division (Wlassow-Armee) ein eminenter Kenner antikommunistischer Stimmungen in der Sowjet-Union,
* den Feindlage-Bearbeiter Stephanus.
Die fünf Deutschen setzten sich in der US-Hauptstadt zu den ersten deutsch-amerikanischen Verhandlungen nach dem Krieg zusammen und fanden in ihren Gesprächspartnern aufmerksame Zuhörer. Vor allem General George V. Strong, Chef der Feindaufklärung der US-Armee, stimmte nahezu allem zu, was ihm Gehlen vortrug.
Inzwischen hatte Gehlen seinem in Deutschland zurückgelassenen la, Gerhard Wessel, den Auftrag erteilt, nach dem dritten Partner von Bad Elster, dem Frontaufklärer Baun, Ausschau zu halten. Gehlen wußte nicht, daß Sibert auch Bann bereits beschäftigte; Baun experimentierte an der Vorbereitung einer deutschen Aufklärungsorganisation in US- Diensten. Beide Fäden liefen bei Sibert zusammen.
Wessel entdeckte Baun in der Nähe des Camps Oberursel, in dem sogenannten Bluehnuse im Taunus. Bann notierte, was ihm Wessel ausrichtete: Ich soll Ihnen im Auftrage von Gehlen sagen, daß er mit (Hitler-Nachfolger) Dönitz und Haider über eine Weiterarbeit mit den Amerikanern gesprochen hat. Beide waren einverstanden.« Da Gehlen in Washington keineswegs sicher sein konnte, daß ihn die Amerikaner auch akzeptieren würden, ließ er Baun durch Wessel wissen: »Gehlen wäre auch bereit, falls Sie zum Zuge kämen, unter ihnen zu arbeiten.«
Damit erweist sich als Legende, was die Männer der Fremde Heere Ost gerne verbreiten: Das Verdienst, den deutschen Nachkriegs-Geheimdienst gegründet zu haben, gebühre allein Gehlen. Tatsächlich bereitete zur selben Zeit, da Gehlen in Washington seine Auswertungsergehnisse vortrug, Baun den Aufbau der Abteilung II (Aufklärung) und der Abteilung III (Gegenspionage) vor, die eine geheime Nachrichtenorganisation gegen die Sowjet-Union steuern sollten.
Den ersten Plan über die Aufstellung einer Organisation für Spionage und Gegenspionage legte Baun dem General Sibert am 10. Oktober 1945 vor, Ein detailliertes Programm forderte Sibert von Baun vier Tage später.
Auf Befehl Siberts reiste G-2-Oberst Comstok mit Baun vom 10. bis zum 28. November durch die amerikanische Besatzungszone, um die von dem Deutschen vorgeschlagenen Mitarbeiter -- zumeist Offiziere aus der einstigen Abwehr des Admirals Canaris -- zu testen und ihnen zugleich den Schutz der US-Besatzungsmacht zu garantieren.
Indes blieb das offizielle Washington vorerst noch auf Distanz. Am 10, Dezember 1945 teilte das War Department Sibert in einem Fernschreiben mit, es könne die Genehmigung zur Aufnahme der Spionage-Aktivität der Gruppe Baun gegen die Sowjet-Union nicht erteilen. Freilich: Sibert dürfe auf dem europäischen Kriegsschauplatz von sich aus tun, was er für richtig halte -- jedoch in eigener Verantwortung.
Am selben Tag erbat Sibert von Baun Aufklärung darüber, wann dessen Organisation mit der Spionagearbeit beginnen könne; einen Monat später wollte der General wissen, zu welchem Zeitpunkt Baun auch die 111-Arbeit aufnehmen, das heißt: mit eigenen Leuten in die Nachrichtendienste des Gegners eindringen könne.
Unter dem Datum »Ende März 1946« registrierte Baun in seinem Tagebuch lakonisch: »Arbeitsaufnahme auf dem I-(Aufklärung) und 111- (Gegenspionage)Gebiet wird von General Sibert genehmigt.« Das war in Wahrheit der Operationsbeginn des westdeutschen Geheimdienstes. Im Bluebouse bedienten Bauns Experten bereits das erste von den Amerikanern gestellte Gerät für den Funkabbördienst gegen die Sowjet-Armee in Deutschland, als Gehlen noch immer in Washington Lagevorträge hielt.
Die Gehlen-Legende will glauben machen, die Amerikaner hätten den Deutschen alsbald nach seiner Ankunft in den USA mit der Frage bedrängt: »Was halten Sie davon, für uns in Europa so etwas aufzuziehen wie ihre alte Abteilung Fremde Heere Ost?« Dieses Zitat ist offenbar von Gehlen selbst dem Chronisten Wehner zugesteckt worden, und dazu auch die Antwort des Deutschen: »Wenn ich einen Geheimdienst in amerikanischen Diensten aufziehen soll, dann muß diese Organisation rein deutsch sein. Ich muß mir meine Mitarbeiter selbst auswählen können.«
Wehner malte sich die Szene so aus: »Gehlens Bedingungen knallten auf den Tisch seiner Verhandlungspartner wie Peitschenhiebe. Es war das Diktat eines Besiegten, eines kleinen Mannes mit schwacher Stimme, aber eines Mannes, der wußte, was er wert war.«
Tatsächlich aber hatten es die Amerikaner gar nicht so eilig, den ehemaligen FHO-Chef in ihre Dienste zu nehmen. Und ob Gehlen seine »Bedingungen wie Peitschenhiebe auf den Tisch seiner Verhandlungspartner« hat knallen können, wird schon zweifelhaft durch die Dauer seines Amerika-Aufenthaltes: Er blieb dort fast ein Jahr, bis zum 7. Juli 1946.
Die Amerikaner interessierten sich vordringlich für Gehlens Reisegepäck mit den Rußland-Studien. Da sich Gehlen auch noch heute über seine eigene und die Historie des später nach ihm benannten Geheimdienstes ausschweigt, bleibt als einzige Quelle über jene Gründerjahre das Tagebuch von Baun.
Ende Juni 1946 notierte Baun, die Rückkehr der Gruppe Gehlen aus den USA stehe bevor. Baun: »General Sibert läßt durch Colonel Dean anfragen, ob ich für Gruppe Gehlen, die aus Amerika zurückkommt, Verwendung hätte (diese wäre sonst in ein Lager gekommen). Ich erklärte, daß es selbstverständlich wäre, daß die Gruppe Gehlen zu uns tritt, um mit uns zusammen die neue Aufgabe zu lösen.«
Am 9. Juli traf Gehlen mit seinen Begleitern im Taunus ein, drei Tage später führten Baun und Gehlen »eingehende Aussprache über das von mir bisher Aufgebaute und meine Pläne für die Zukunft« -- so Baun. Der Oberstleutnant registrierte, beide Gesprächspartner -- Baun für die Aufklärung, Gehlen für die Auswertung -- hätten vereinbart:
* »Die Organisation der Aufklärung besteht parallel zur Organisation der Auswertung. Jeder von uns führt seine Organisation, und die Absichten in der großen Linie werden gemeinsam festgelegt.
* »Die laufenden Angelegenheiten verhandelt jeder einzeln mit den Amerikanern. Grundsätzliche Dinge werden gemeinsam besprochen.« Baun verstand diese Vereinbarung offenbar als getreue Fortsetzung nachrichtendienstlicher Tradition der Deutschen: Die Beschaffung einer Nachricht und ihre Auswertung sollten scharf getrennt und durch zwei voneinander unabhängig operierende Organisationen gesichert werden.
Doch unter dieser Zersplitterung hatte schon vor und während des Krieges die Effektivität der politischmilitärischen Nachrichtenarbeit in Deutschland gelitten. So gab die Abwehr das von einem Agenten herangeschaffte Informationsmaterial unbewertet an die zuständigen Generalstabs-Abteilungen der drei Wehrmachtsteile ab. Die Generalstäbler bewerteten dann die Nachrichten, ohne daß sie beurteilen konnten, wie seriös die Quelle von der Abwehr eingestuft wurde.
Gehlen hatte nach seiner Berufung an die Spitze der Abteilung Fremde Heere Ost erstmals Beschaffung und Analyse vereinigt: durch enge Zusammenarbeit von Fremde Heere Ost und Frontaufklärungsleitstelle I Ost. Baun allerdings hatte nie begriffen, daß er keineswegs selbständig operierte, sondern in Wahrheit als Zulieferer an Gehlens FHO fungierte.
Mithin konnte Gehlen auch den Amerikanern nur empfehlen, Beschaffung und Auswertung unter einem Dach zu vereinigen. Die Geheimdienstier und Militärs in Washington stimmten zu, denn die USA selbst hatten einmal einen hohen Preis für eigenen Mangel an Koordinierung zahlen müssen: Pearl Harbor.
Im späten Herbst 1941 gaben die Geheimdienste von Amerikas Armee und Marine rechtzeitig Signale eines bevorstehenden Angriffs der Japaner auf den Hafen der amerikanischen Pazifik-Flotte nach Washington. Aber diese Warnungen liefen ins Leere, weil die Geheimdienste ihre Meldungen nicht selber auswerten durften. Die zuständigen Beamten aber nahmen sie kaum zur Kenntnis.
Gehlens Schulmodell einer Organisation, die Informationen beschafft und gleichermaßen analysiert, studierten die Experten in Washington anhand der Lageberichte, die Fremde Heere Ost an die Operations-Abteilung des Generalstabes geschickt hatte. Amerikas Geheimdienstier fanden Gehlens Modell derart überzeugend, daß sie danach 1947 die Organisation eines eigenen Geheimdienstes, der »Central Intelligence Agency« (CIA), planten.
Vorerst indes fragten sie Gehlen nach dem Preis, für den er der US-Regierung ein ständiges Lagebild über die Sowjet-Union und den übrigen Ostblock liefern würde. Die Details der Vereinbarung, die vermutlich im Juni 1946 schriftlich fixiert wurden, sind noch heute geheim.
Lediglich den Inhalt des Rahmenvertrages umschrieb der Bundesnachrichtendienst ein einziges Mal offiziell, als er anläßlich der Pensionierung des Präsidenten Gehlen 1968 eine »Orientierungshilfe« herausgab. Danach enthielt die Vereinbarung zwischen Gehlen und den Amerikanern folgende Grundsätze:
* »Keine Hilfsarbeit für den amerikanischen Geheimdienst, sondern rein deutsche Organisation unter ausschließlicher Leitung Gehlens, Kontakt lediglich über einen Verbindungsstab.
* »Einsatz der Organisation nur zur Beschaffung von Nachrichten, die sich mit den Ostblockstaaten befassen,
* »Die Organisation ist im Augenblick der Bildung einer souveränen deutschen Regierung unter Aufhebung aller bisherigen Vereinbarungen sofort nur noch dieser verantwortlich.
* »Keinerlei Auftrag und Beschaffung von Material, das sich gegen die deutschen Interessen richtet.
Das US-Kriegsministerium akzeptierte Gehlens Bedingungen, Der Abschluß des Vertrages mit dem Kriegsministerium hätte sich freilich noch lange hinausgezögert, wäre Gehlen nicht von dem amerikanischen Geheimdienst-Captain Eric Waldmann energisch unterstützt worden, der von Gehlens Leistungsfähigkeit überzeugt war. Waldmann, heute Professor für Politologie, Verfasser eines Buches über die Bundeswehr, bewog die mißtrauischen Miliäroberen Amerikas, auf den deutschen General zu setzen.
Ende Juni 1946 reiste der Captain nach Deutschland und meldete seinem Vorgesetzten, dem G-2-General Sibert, daß Washington nunmehr offiziell die Bildung eines westdeutschen Geheimdienstes genehmigt habe. Voraussetzung; Aufklärung und Auswertung müßten unter einem Chef vereint werden. Sein Name; Reinhard Gehlen.
Dem Partner Baun wurde freilich verschwiegen, daß Gehlen Chef sein sollte. Von dieser Entscheidung erfuhr Baun erst auf einer zweiten Zusammenkunft im August, bei der es um die Stellenbesetzung ging. Gehlen verlas einen Plan, in dem Baun als Leiter der Aufklärungs-, Wessel als Leiter der Auswertungs-Abteilung erschienen. Als Chef der gesamten Organisation aber bezeichnete sich Gehlen selber. Baun war ungehalten: »Diesen Plan hatte er mit mir nicht durchgesprochen, sondern ich wurde vor die vollendete Tatsache gestellt.«
In Gegenwart der amerikanischen Offiziere mochte Baun keinen Widerspruch einlegen, zumal er den zutreffenden Eindruck gewinnen mußte, daß Gehlen aus Amerika Handlungsvoll -- macht mitgebracht habe. Aber als er später Gehlen allein gegenüberstand, fragte Baun den Mitverschwörer von Bad Elster: »Warum haben Sie diese Form gewählt? Das weicht doch völlig von unserer Vereinbarung ab!«
Gehlen: »General Sibert hat mich zum obersten Chef bestimmt.« Baun klagte: »Warum haben Sie mich davon nicht gleich in Kenntnis gesetzt?« In sein Tagebuch aber schrieb Baum »Auf meine Frage konnte er keine Antwort geben.«
Gehlen ging über die Klagen des Kameraden Baun hinweg. Er kannte nur noch ein Ziel: den Aufbau eines neuen Spionageapparates. In zwei Häusern im Taunus, darunter im Schloß Kransberg, nahm der deutsche Nachkriegs-Geheimdienst seine Arbeit auf. Ein Name stellte sich rasch ein, inoffiziell und doch einprägsam: »Organisation Gehlen«.
IM NÄCHSTEN HEFT
Amerikas CIC behindert den Aufbau des westdeutschen Geheimdienstes -- Gehlen schaltet Baun aus -- Erster Erfolg der Organisation Gehlen: »Aktion Hermes« -- Umzug nach Pullach