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BERLIN-ABKOMMEN Puzzle bei Nacht

Erst in der letzten Verhandlungsnacht rang Bonns Staatssekretär Egon Bahr der DDR das größte Berlin-Zugeständnis ab.
aus DER SPIEGEL 52/1971

Egon Bahr und sein DDR-Pendant Michael Kohl waren sich einig, ihre Einigkeit zu kaschieren: Die brisanteste Vorschrift des Berlin-Abkommens erhielt den Stempel »Geheim«.

Versteckt als Punkt sechs der »vertraulichen Protokollvermerke«, sichert Kohl allen Republik-Flüchtigen -- selbst den künftigen -- freie Durchfahrt auf den Transitwegen zu.

Die beiden Unterhändler hatten gute Gründe, die Flüchtlingsklausel unter anderem vertraulichem Protokollkram -- der BRD-Zusicherung eines Zollgesetzes, dem DDR-Versprechen einer großzügigen Abschlepp-Regelung auf den Interzonen-Straßen und einer kulanten Berechnung der pauschalen Visa-Gebühren -- zu verbergen. Kohl wollte nicht öffentlich zugeben, daß die DDR darauf verzichtet, ihr Republikfluchtgesetz auf den Transitwegen -- ihrem eigenen Territorium -- anzuwenden.

Bis zum letzten Tag der Verhandlungen am 3. Dezember hatte sich diese Klausel als schwierigste Hürde für die Berlin-Regelung erwiesen. Bahr hatte darauf bestanden, daß alle DDR-Flüchtlinge in den Genuß der freien Fahrt von und nach West-Berlin kommen müßten, Kohl darauf beharrt, sie nach DDR-Recht verfolgen oder doch zumindest zurückweisen zu dürfen.

Nach massiven FDP-Interventionen und komplizierten Text-Operationen einigten sich die Emissäre von BRD und DDR auf den Wortlaut einer einseitigen Kohl-Erklärung, die Bahrs Wünsche vom unbehelligten Transit befriedigte.

Danach sollte der Leiter der DDR-Delegation bei Paraphierung des Abkommens schriftlich erklären:

a) Bürgern der DDR, die die DDR unter Verletzung ihrer Rechtsordnung verlassen haben, wird die Benutzung der Transitstrecken nicht versagt, es sei denn, daß sie außer dem Verlassen der DDR durch eine auf dem Gebiet der DDR ausgeübte Tätigkeit eine schwere Straftat begangen haben.

b) Auf andere Personen, die außerhalb der Transitwege schwere Straftaten gegen das Leben oder vorsätzliche Straftaten gegen die Gesundheit des Menschen oder schwere Straftaten gegen das Eigentum begangen haben, findet Artikel 16, Ziffer 3c Anwendung.

Nach Artikel 16, Ziffer 3c kann die DDR unter anderem in diesen Fällen »Personen zurückweisen oder zeitweilig von der Benutzung der Transitwege ausschließen«.

Doch auch dieser in zähen Verhandlungen erreichte Kompromiß war den Freidemokraten zu zweideutig. Sie bezweifelten, daß der vieldeutige Text eindeutig jedes Zugriffsrecht der DDR auf Republikflüchtlinge ausschloß.

Zwar hatte Bahr dem Kollegen Kohl ein Zurückweisungsrecht nur für den Fall zugestanden, daß DDR-Flüchtlinge bei ihrer Flucht »schwere Straftaten« begangen hatten. Doch war dieser Begriff nicht exakt definiert worden.

Noch immer war fraglich, ob nicht beispielsweise politische Straftaten nach DDR-Recht von DDR-Grenzern als Grund für die Verweigerung eines Visums angeführt werden durften.

Die Berliner FDP-Führer Hermann Oxfort und Wolfgang Lüder intervenierten in Bonn bei Bundeskanzler Brandt -- zunächst vergebens. Am 3. Dezember schließlich, als das Abkommen eigentlich schon paraphiert werden sollte und nur wegen der Verzögerung der Berlin-Berlin-Verhandlungen liegengeblieben war, drängten die beiden -- telephonisch ermuntert von Außenminister Walter Scheel -- in einem Gespräch beim Regierenden Bürgermeister Schütz darauf, Bahr müsse mit Kohl noch einmal verhandeln.

In der Nacht zum 4. Dezember, als Kohl vorgab, mit seinem Partner Bahr bis spät in die Nacht Schach gespielt zu haben, widmeten sich die beiden Staatssekretäre erneut dem Text-Puzzle. Sie fügten acht Wörter und einen Buchstaben ein:

a) Bürgern der DDR, die die DDR unter Verletzung ihrer Rechtsordnung verlassen haben, wird die Benutzung der Transitstrecken nicht versagt, es sei denn, daß sie außer dem Verlassen der DDR durch eine auf dem Gebiet der DDR ausgeübte Tätigkeit (Tun oder Unterlassen) eine schwere Straftat im Sinne von Absatz b begangen haben.

b) Auf andere Personen, die außerhalb der Transitwege schwere Straftaten -- Straftaten gegen das Leben oder vorsätzliche Straftaten gegen die Gesundheit des Menschen oder schwere Straftaten gegen das Eigentum begangen haben, findet Artikel 16, Ziffer 3c Anwendung.

Mit der Retusche gelang endlich eine eindeutige Definition der »schweren Straftaten«, die zuvor nach Geschmack zu interpretieren waren.

Beruhigt, aber noch immer nicht voll befriedigt, ließ sich die Berliner FDP von einem Experten des Bonner Justizministeriums am letzten Mittwoch eine Text-Interpretation geben.

Ergebnis: Nach dem Text der geheimen Klausel könnten die DDR-Grenzer zwar den Volksarmee-Deserteur, der seine Uniform mitgenommen, oder den Studenten, der mit seiner Flucht den Staat um das Stipendium geschädigt hatte, wegen »schwerer Straftaten gegen das Eigentum« zurückweisen. Doch, so wurden die Freidemokraten belehrt, über die »vertraulichen Protokollvermerke« hinausgehende Verhandlungsnotizen schließen speziell auch diese Fälle aus.

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