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NEW YORK Qual der Entwöhnung

Präsident Ford weigerte sich, der bankrotten Stadt New York zu helfen. Denn nichts ist so populär in den USA wie Anklagen gegen New York.
aus DER SPIEGEL 45/1975

Der Schwerkranke verlangte nach einem »freundlichen Arzt«. Statt dessen erbot sich Präsident Ford (so der Kommentar des früheren Vizepräsidenten Hubert Humphrey), »einen Leichenbestatter vorbeizuschicken«.

Wie ein zürnender Zeus hatte Ford vorigen Mittwoch in Washington sein endgültiges Urteil über das Schicksal der schwerkranken Stadt New York verkündet: Gegen jeden Versuch, der bankrotten Metropole mit Bundesmitteln zu helfen, werde er sein Veto einlegen, weil so den Stadtvätern die »Verantwortung für ihre früheren Torheiten genommen würde«. Dagegen sei er bereit, für einen glimpflichen Ablauf des Konkursverfahrens zu sorgen.

Demnach soll ein Bundesrichter als Konkursverwalter eingesetzt werden, um die Funktion der »wesentlichen Dienste« durch die Ausgabe von Vorzugsanleihen sicherzustellen -- also von Polizei, Feuerwehr und Krankenhäusern, die New York nicht mehr bezahlen kann; Schulunterricht und Fürsorgeunterstützung blieben unerwähnt.

»Er will erst das Haus zusammenkrachen lassen, um hinterher ein Darlehen für Reparaturen anzubieten«, klagte die »New York Post« über diese Haltung des Präsidenten gegenüber der größten Stadt der USA, und Bürgermeister Beame schimpfte, Ford habe »einen Kalten Krieg an der Heimatfront eröffnet«.

Aus der häuslichen Szene ist der dramatische Schritt des amerikanischen Präsidenten zu verstehen. Denn mit keinem anderen innenpolitischen Thema kann ein amerikanischer Politiker derzeit leichter Beifall bei seinem Publikum finden als mit möglichst donnernder Verurteilung New Yorks.

Selbst im fernen Texas biedern sich Kandidaten bei ihren Wählern mit dem Slogan an: »New York ist auch nicht über Nacht pleite gegangen« und schwören, daß »Houston kein zweites New York werden« dürfe.

In Charleston, South Carolina, fragte eine Lokalzeitung 7867 Leser, ob New York aus Bundesmitteln geholfen werden sollte. 7604 stimmten mit Nein. Und als der Kongreßabgeordnete Charles Thone an eine Besuchergruppe aus seinem Heimatstaat Nebraska die Frage stellte, wer dafür sei, New York mit Bundesmitteln »rauszuhauen«, rührte sich keine einzige Hand: Die Stadt gilt allen rechten Amerikanern als liberal, schlampig, dekadent. Ford konnte also sicher sein, daß er mit seinem Auftritt Punkte sammeln würde -- und das hat er nötig: Erst vorigen Montag hatte eine Meinungsumfrage einen beachtlichen Abfall in seiner Popularitätskurve aufgezeigt; am Mittwoch mußte die Regierung einräumen, daß die Erholung der Wirtschaft doch nicht so schnell vor sich gehen werde wie angenommen.

Noch am gleichen Tag, an dem er seine Rede gegen New York hielt, begab sich Ford nach Kalifornien, ins Territorium seines gefährlichsten Gegners auf der republikanischen Rechten -- wo Gouverneur Ronald Reagan ihm Konkurrenz um die Präsidentschaftskandidatur macht. Eine Tirade gegen New York bot sich als passendes Entree für Kalifornien an.

Denn Fords Auftritt als strenger Zuchtmeister entspricht der forschen Auffassung vieler Amerikaner von politischer Moral. Unentgeltlicher Universitätsbesuch oder subventionierte Krankenhäuser, wie New York sie seinen Bewohnern bietet, sind für die Mehrheit des »Middle America« »unverantwortlicher Luxus«.

Ganz in diesem Sinn verglich Pressesprecher Ron Nessen New York mit »einer heroinsüchtigen Tochter": »Man gibt ihr nicht noch 100 Dollar am Tag, um ihre Sucht zu nähren. Man läßt sie die Qualen der Entwöhnung durchstehen.«

Darunter werden nicht nur die New Yorker zu leiden haben. Wenn die Stadt beim nächsten Fälligkeitstermin ihrer Gehaltszahlungen ihre Schalter schließen muß, ist auch der Staat New York vom Bankrott bedroht. Firmen überall in den Vereinigten Staaten könnten pleite gehen, wenn die Aufträge aus New York gestrichen werden.

Unmittelbar betroffen von einem Bankrott New Yorks aber werden zahllose kleine Leute: der größte Teil der acht Milliarden Dollar New Yorker Schuldverschreibungen sind von rund 160 000 Einzelkäufern erworben worden.

Für alle, die möglicherweise ihre gesamten Ersparnisse loswerden, dürfte es ein schwacher Trost sein, daß Ford die »wesentlichsten Dienstleistungen« in der Stadt aufrechterhalten will -- dafür hätte, so Barry Feinstein von der Transportarbeiter-Gewerkschaft, »selbst Attila der Hunne in den Gebieten gesorgt, die er erobert hatte«.

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