HANDEL / VITAMIN-PRÄPARATE Rache der Zunft
Der Besitzer der Höchster Bahnhofs-Apotheke Claus Mohrbutter entfernte von Tresen und Schaufensterauslagen alle Reklamespuren des Darmstädter Vitaminlieferanten Merck (Cebion und Multibionta). Den leer gewordenen Platz sollen bei Mohrbutter und vielen anderen Kollegen die Konkurrenzpräparate Xitix und Xam der Firma M. Woelm in Eschwege einnehmen.
Zum Hoflieferanten der Apotheker avancierten die Eschweger, weil sich die Pillenhändler Anfang des Jahres mit Merck zerstritten hatten. Die Apotheker verübelten den Darmstädtern, daß sie ihre lange Zeit apothekenpflichtigen Produkte Cebion und Multibionta jetzt auch in Drogerien verkaufen (siehe SPIEGEL 8/70).
Für die Woelm-Pharmazeuten (Jahresumsatz 1969: 45 Millionen Mark) war das Vitamingeschäft Neuland. Willig griffen sie deshalb die Anregung der Apotheker auf, sich mit Kampfpräparaten gegen den großen Konkurrenten (Merck-Umsatz 1969: 644,7 Millionen Mark) zu etablieren.
Bisher hatte das Eschweger Unternehmen nur eine Vitamin-C-Lutschtablette auf den Markt gebracht. Durch den Trend zur Vitamin-Brausetablette konnte das Präparat dem bekannten Merck-Produkt Cebion jedoch nie gefährlich werden, Resigniert mußte der Woelmer Wissenschaftsboß Dr. Horst Kranz feststellen: »Lutscher können nicht in Brauser umfunktioniert werden.«
Bevor die Eschweger mit der Exklusiv-Produktion für die Apotheker begannen, ließen die vorsichtigen Firmenchefs ihre Absatzchancen durch ein Marktforschungsinstitut ausloten. Die Prognosen waren günstig: Vitamine, Stärkungsmittel und ähnliche pharmazeutische Produkte werden bei den Deutschen immer beliebter. Allein im vergangenen Jahr wurden in der Bundesrepublik für 100 Millionen Mark Vitaminpräparate geschluckt.
Der Boom wurde vor allem durch die starke Nachfrage nach Multivitamin-Präparaten ausgelöst. Der Umsatz in dieser Gruppe stieg von 24 Millionen Mark (1968) auf 30 Millionen Mark im vergangenen Jahr.
Hauptprofiteur unter den Herstellern von Multivitaminen ist die Merck-Gruppe mit ihrem Spitzenprodukt Multibionta. Im vergangenen Jahr erzielten die Darmstädter mit dem Präparat einen Umsatz von elf Millionen Mark. Noch 1968 verkauften sie nur für 7,5 Millionen Mark.
Damit die Woelm-Pharmazeuten gar nicht erst in die Versuchung gerieten, der Konkurrenz in die Drogerien zu folgen, verlangten die Apotheker, das neue Präparat müsse auch die Vitamine A und D enthalten.
Grund für die Apothekerauflage: Merck hatte bei der Freigabe von Multibionta behauptet, die bisher praktizierte Verkaufsbindung verstoße gegen das Kartellgesetz. In Wirklichkeit, so fanden die Apotheker inzwischen heraus, war der Multibionta-Start in den Drogerien durch eine Änderung des Präparats vorbereitet worden. In den neuen Tabletten fehlte das bisher verwendete Vitamin D3 vollkommen, und die Vitamin-A-Dosis war reduziert worden. Denn nach dem westdeutschen Arzneimittel-Gesetz sind Tagesdosierungen von mehr als 400 Internationalen Einheiten Vitamin D3 apothekenpflichtig.
Was die Merck-Chemiker einsparten, ist in Woelms Multivitamin-Präparat Xam reichlich vorhanden. Die für den Apothekenverkauf reservierten Tabletten und Kapseln enthalten insgesamt »zehn lebenswichtige Vitamine« einschließlich einer kräftigen Dosis A und D2.
Laut Gebrauchsanweisung ist die Mixtur so perfekt, daß sie gegen »Apppetitmangel, nervöse Störungen, Nachtblindheit« und zahlreiche andere Krankheitserscheinungen eingesetzt werden kann. Woelms Slogan: »Mit Kam sind Sie vitaminversichert«.
Damit die Apotheker gegen das in Drogerien verkaufte Multibionta auch preislich konkurrieren können, verlangten sie von Woelm scharf kalkulierte Preise. Die Zehner-Packung Xitix (4,50 Mark) zum Beispiel ist bei Apotheken jetzt um 30 Pfennig billiger als Cebion zu haben.
Dennoch ist sich die Pilienzunft ihres neuen Verbündeten nicht ganz sicher. Einige Apotheker bangen davor, Woelm könnte einer Großofferte von Neckermann erliegen und weitere Vitaminartikel auch über Katalog und Kaufhäuser vertreiben lassen.