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ZEITGESCHICHTE / JUDEN Räche dein Volk

aus DER SPIEGEL 52/1968

Ein seltsam aufgeputzter Militärkonvoi rollte im Mai 1945 durch Oberitalien. An der Spitze flatterten weiß-blaue Fahnen mit dem David-Stern. An den Seiten der Dodge-Lastwagen war zu lesen: »Deutschland kaputt! Kein Volk! Kein Reich! Kein Führer! Die Juden kommen!«

In den folgenden Wochen häuften sich bei den alliierten Kommandanturen in Tirol und Kärnten Vermißten-Anzeigen. Stets hatten britische Soldaten deutsche Nazis zur Vernehmung abgeholt, Sie wurden auf Lastwagen verladen. Die Angehörigen warten seitdem vergebens auf Nachricht.

Warum, das enthüllt der israelische Journalist und Ben-Gurion-Biograph Michel Bar-Zohar, 30, in einem Buch über jüdische Vergeltungsaktionen nach Kriegsende*.

Aus dem Archiv der zionistischen Geheimorganisation Haganah berichtet er zum erstenmal über jüdische Exekutionskommandos, die seinerzeit in Österreich und Süddeutschland NS-Verbrecher jagten. Haganah-Veteranen schilderten ihm Episoden jüdischer Rache, »über die sie bis dahin nicht einmal zu Verwandten und engsten Freunden gesprochen hatten«.

* Michel Bar-Zohar: »Les Bengeurs«; Librairie Arthème Fayard, Paris; 314 Seiten; 20 Franc.

Einige leben heute anonym im Kibbuz, andere erklommen hohe Posten in der israelischen Armee, drei -- Schlomo Schamir, Meir Sorea, Chaim Laskow -- als Generäle. Israel Karmi kommandierte später die Militärpolizei, Oberstleutnant Marcel Tobias wurde Fallschirmheld der Sinai-Kampagne.

Ihre ersten Erfahrungen hatten die jüdischen Freiwilligen, drei Regimenter stark, in der britischen Palästina-Brigade gesammelt -- im Kampf gegen Rommel. Nach der Kapitulation sollten die drei Regimenter über Norditalien nach Großdeutschland einrücken.

Am Abend vor dem Abmarsch war feierlicher Flaggenappell. Ein Korporal verlas die zwölf »Gebote des hebräischen Soldaten auf deutschem Boden": »Erinnere dich deiner sechs Millionen ermordeten Brüder ... Betrage dich als ein Jude, der stolz ist auf sein Volk und seine Fahne. Beflecke nicht deine Ehre und mische dich nicht unter die Deutschen ...«

Nach Fraternisieren war den jüdischen Soldaten ohnehin nicht zumute. »Das Blut klopfte uns in den Adern«, erinnert sich Romancier Hanoch Bartov. »Wir würden unser Volk rächen, ohne Freude oder Geschmack daran zu finden. Aber wir würden es rächen!«

Doch am folgenden Tag kam Gegenbefehl: Das britische Oberkommando fürchtete für die Disziplin der künftigen Besatzungsarmee. Es beorderte die Brigade in ein Camp bei Tarvisio, als Eingreifreserve für einen möglichen Konflikt um das von Tito-Partisanen besetzte Triest.

Es kam zu ersten Ausschreitungen gegen die deutschsprachige Minderheit. Oberst Karmi: » Solche Racheakte ehrten nicht unsere Erziehung als hebräische Kombattanten und verstießen gegen die Tradition der Reinheit der jüdischen Waffen.«

Karmi und andere Haganah-Chefs, die innerhalb der Brigade eine eigene Hierarchie bildeten, versuchten, die Selbstjustiz zu regulieren. Aus zuverlässigen Kombattanten stellten sie ein Kommando zusammen. Nur solche Nazis sollten aufgespürt und bestraft werden, die nachweislich Verbrechen gegen das jüdische Volk begangen hatten.

Als britische Soldaten verkleidet, schwärmten die Rächer aus. Vor der Abfahrt lasen sie Broschüren der Jewish Agency über Himmlers Todesfabriken -- »damit wir uns anheizten« (so ein anonymer Teilnehmer).

»Wir beschäftigten uns hauptsächlich mit höheren SS-Offizieren«, gab Schalom Gil'ad zu Protokoll. »Alles, wonach man uns hätte identifizieren können, das Nummernschild oder andere Insignien, waren sorgfältig verdeckt. Klaus, unser blauäugiger »Arier', dolmetschte.«

Die Namen der Todeskandidaten beschafften sich die Haganah-Chefs durch Verbindungsleute bei den alliierten Geheimdiensten. Um die eigene Haut zu retten, schrieben kleine Amtswalter oder Gestapo-Gehilfen bereitwillig Listen ihrer Vorgesetzten. Die meisten Opfer folgten den vermeintlichen Briten-Soldaten ahnungslos.

»Wenn wir das Dorf oder die Stadt verlassen hatten«, so Gil'ad weiter, »gaben wir uns dem Nazi zu erkennen, verlasen die Liste seiner Verbrechen und das Todesurteil.« Es wurde auf einem abgelegenen Grundstück vollstreckt.

Bald beunruhigten Leichenfunde die Bevölkerung in Österreich. Die britischen Militärbehörden ermittelten erfolglos. »Einige Offiziere«, erklärt Bar-Zohar, »zogen es vor, die Augen zu schließen.«

Wie viele SS-Leute auf diese Weise im Laufe des Sommers exekutiert wurden, konnte der Autor nicht genau feststellen. Die Angaben gehen von 50 bis 300, da jeder seiner Gewährsmänner nur den eigenen Anteil der Operation übersah.

Die anderen jüdischen Soldaten bekamen Feindesland erst zu sehen, als die Brigade von Österreich nach Belgien verlegt wurde. Die Journalistin Ursula von Kardorff erspähte den Konvoi der Brigade auf der Autobahn bei Augsburg. »Wir sahen eine Demonstration der göttlichen Gerechtigkeit«, notierte sie unter dem Datum des 30. Juli 1945 in ihrem später veröffentlichten Tagebuch »Berliner Aufzeichnungen aus den Jahren 1942 bis 1945«.

»Der Anblick eines Deutschen genügte, um unsere Rachegelüste zu wecken«, beschrieb Landwirt Sam Halevi seine Gefühle. »Wenn ein Radfahrer an unserem Dodge vorbeifuhr, öffneten sich ruckartig die Wagentüren. Der Mann stürzte unter die Räder und wurde zermalmt.«

Die Brigade zog ab, die Rache ging weiter. Bis zum Sommer 1946 operierten mehrere Vergeltungskommandos in Europa. Auf ihr Konto gehen laut Bar-Zohar mindestens 1000 geheime Hinrichtungen. Mit gefälschten Papieren holten sie verdächtige SS-Leute aus alliierten Gefangenenlagern. In Kroatien liquidierten sie Ustascha-Faschisten, in Österreich einen falschen Eichmann. In einem Deportierten-Camp bei Turin spürten sie einen polnischen Arzt auf, der untergetauchten SS-Männern die Blutgruppen-Tätowierung entfernte.

Im April 1946 wollte die Geheimgruppe »Nakam« ("Rache") aus Lublin 36 000 SS-Leute in einem Nürnberger Internierungslager durch die Aktion »Todesbrot« vergiften. Das Unternehmen wurde monatelang mit wissenschaftlicher Akribie vorbereitet, scheiterte aber an den Nachtwächtern einer Großbäckerei. Da sie die Eindringlinge jedoch für Diebe hielten, kamen immerhin etwa 2000 mit Arsen präparierte Brotlaibe in die Proviantausgabe. Rund 4300 SS-Leute brachen mit Krämpfen zusammen, zwischen 700 und 800 starben in Krankenhäusern.

Noch abenteuerlichere Haganah-Männer wollten mehrere deutsche Großstädte niederbrennen oder deren Einwohner durch Arsen-Beimischung ins Trinkwasser töten. Die Haganah-Oberen verhinderten derartige Taten, ungehorsame Rächer wurden verhaftet.

Das letzte Kommando-Unternehmen in Deutschland planten die drei Offiziere Oleg Gutman, Emil Brik und Kouba Sheinkmann 1949 in einer Tel Aviver Vorstadtwohnung. Sie wollten in die Spandauer Zitadelle eindringen und die dort einsitzenden NS-Größen niederschießen.

Von den Fenstern des Berliner Filmproduzenten Artur Brauner aus erkundete das Trio wochenlang das Wachsystem im alliierten Kriegsverbrechergefängnis. Doch die israelische Regierung wollte nichts mehr von privaten Vergeltungsaktionen wissen. Sie verbot das Unternehmen und rief die drei Offiziere kraft militärischer Disziplinargewalt in die Heimat zurück.

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