PARTEIEN Ran an die Ureinwohner
Das Duell findet diesmal in der Pappelallee statt, einer wenig restaurierten Wohnstraße im Prenzlauer Berg. Die »Kaufhalle« heißt heute zwar »Kaiser's«, aber sonst hat der Westen einen großen Bogen um das alte Arbeiterquartier im Osten Berlins gemacht.
Die schicken Viertel wie der Kollwitzplatz mit seinen sanierten Hausfassaden und gehobenen Restaurants, die abends die Wessis anlocken, liegen ein paar Straßenblöcke entfernt. Bei Kaiser's in der Pappelallee kaufen Ureinwohner ein.
Wolfgang Thierse verteilt vor dem Laden Erfrischungstücher und Lollipops, Petra Pau verschenkt Brillenputztücher und Gummibärchen. Vorher haben sich beide freundlich begrüßt, denn Frau Pau, 35, und Herr Thierse, 54, verbringen im Moment viel Zeit miteinander. Die stets brav gekleidete ehemalige FDJlerin und der mittlerweile ordentlich frisierte studierte Germanist wollen das Direktmandat im Wahlkreis 249 Berlin-Mitte/Prenzlauer Berg gewinnen.
Die Kunden von Kaisers entscheiden womöglich nicht nur über das weitere Schicksal Petra Paus, sondern auch über das der PDS. Ihr gelang vor vier Jahren dank einer Sonderregelung im Wahlgesetz mit 4,4 Prozent der Einzug in den Bundestag, weil sie in Ost-Berlin vier Direktmandate gewonnen hatte. Drei würden für den Wiedereinzug der Gysi-Truppe schon genügen - aber die müssen es unbedingt sein.
»Scheitern wäre eine Katastrophe«, glaubt André Brie und zieht seine Mundwinkel noch weiter nach unten als gewöhnlich. Der Wahlkampfleiter der PDS hält die Wiederkehr in den Bundestag für eine »Existenzfrage« seiner Partei.
Die PDS-Abgeordneten im Parlament dokumentierten, meint Brie, mit ihrer Anwesenheit den Anspruch der Partei, »nicht eine ostdeutsche, sondern eine gesamtdeutsche sozialistische Partei zu sein«. Geht die Sache diesmal schief, »läuft uns der Laden auseinander«.
Tatsächlich war Gregor Gysi im Bundestag für die PDS-Mitglieder und -Sympathisanten der Fixstern auf dem unbekannten Weg in die neue, ungeliebte Republik. Hört er auf zu leuchten, könnten --- S.35 sich die vielen Landesverbände, Interessengruppen, Partei-Plattformen und altsozialistischen Zirkel verlaufen, befürchtet Brie. Ideologische Grabenkämpfe wären wohl die Folge, selbst eine Spaltung hält er dann für möglich.
Mit einem Etat von fast zehn Millionen Mark, sechs Mitarbeitern in der Wahlkampfzentrale im Karl-Liebknecht-Haus und unzähligen freiwilligen Helfern in den Basisorganisationen zieht die PDS in den Wahlkampf. In den Meinungsumfragen wird die SED-Nachfolgeorganisation zwischen vier und fünf Prozent gehandelt.
Über die Zukunft der PDS wird auf dem Territorium der Ex-DDR entschieden, in acht Wahlkreisen rechnet sie sich gute bis mittelmäßige Chancen aus. Allein fünf davon liegen in Berlin.
Im Osten können die großen Parteien CDU, SPD und PDS, im Gegensatz zum Westen mit seinem dualen System aus SPD und CDU/CSU, einen Wahlkreis schon mit 35 Prozent der Erststimmen gewinnen. Oft liefern sich die Kandidaten ein Kopf-an- Kopf-Rennen, manchmal entscheiden ein paar hundert Wähler übers Mandat. In Rostock beispielsweise gewann die SPD vor vier Jahren mit einem Vorsprung von 1,6 Prozentpunkten vor der PDS.
In Berlin hat die PDS mit Gregor Gysi und Lothar Bisky fast die gesamte Parteispitze aufgeboten. Vier Wahlkreise gilt es zu verteidigen, doch nur zwei sind sicher.
Gysi führt bislang in seinem alten Wahlkreis Hellersdorf-Marzahn mit komfortablen 33 Prozent. Bisky, der erstmals in Köpenick-Treptow antritt, wird in einer von der PDS in Auftrag gegebenen Umfrage ein Vorsprung von drei Prozentpunkten gegenüber dem Konkurrenten Siegfried W. Scheffler von der SPD bescheinigt.
Im Wahlkreis Hohenschönhausen-Pankow-Weißensee aber führt der SPD-Kandidat Ralf Hillenberg vor dem parteilosen Bundestagsabgeordneten Manfred Müller, der den Wahlkreis 261 im Jahre 1994 für die Gysi-Partei erobert hatte. Auch in den Innenstadtbezirken Mitte/Prenzlauer Berg und Friedrichshain-Lichtenberg bröckelt die PDS-Front.
Am Prenzlauer Berg errang die PDS 1994 dank dem Schriftsteller Stefan Heym, der gar nicht der PDS angehört, ein Direktmandat. Diesen »PDS + x-Effekt« trauen die Genossen der Kandidatin Pau nicht zu. Die Berliner Landesvorsitzende der PDS gilt als freundliche, aber glanzlose Parteisoldatin.
So führt SPD-Parteivize Wolfgang Thierse denn auch deutlich in den Umfragen. Und der Sozialdemokrat Helios Mendiburu liegt im Wahlkreis Friedrichshain-Lichtenberg gleichauf mit der Altkommunistin Christa Luft, die vor vier Jahren noch unbedrängt direkt in den Bundestag einziehen konnte.
Der Stimmungswechsel zugunsten der SPD hat wenig mit Gerhard Schröder und viel mit Möbelwagen zu tun. In keiner anderen Stadt in Deutschland wird soviel umgezogen wie in Berlin. Der Drang der Hauptstädter in den grünen Gürtel Berlins schlägt sich im Osten politisch nieder. Jeder Ostler, der wegzieht, ist ein potentieller PDS-Wähler weniger, jeder Westler, der zuzieht, für die PDS nur schwer zu gewinnen.
Vakante Altbauwohnungen sind vor allem bei jungen Westdeutschen und West-Berlinern beliebt; in Mitte zu wohnen ist schick. Allein im Prenzlauer Berg hat seit der Wende fast die Hälfte der 140 000 Einwohner ihren Kiez verlassen. Auch in Friedrichshain und Mitte beklagen PDS-Strategen den Schwund, der sie um ihre unerläßlichen Direktmandate bringen könnte.
Gysi, Bisky und Brie setzen deshalb nicht nur auf die Hauptstadt. Auch in Leipzig, Rostock und Schwerin kämpft die PDS um Direktmandate. Die größte Aufmerksamkeit zieht dabei der ehemalige DDR-Radweltmeister Gustav-Adolf »Täve« Schur, 67, auf sich. Er wird nicht nur von PDS-Anhängern verehrt wie ein Heiliger.
Schur, der in Leipzig gegen den Sozialdemokraten Gunter Weißgerber antritt, verkörpert für viele Ostdeutsche das Gute der DDR. Er ist so etwas wie ein Fabelwesen aus den Zeiten des realen Sozialismus, wurde im Arbeiter-und-Bauern-Staat angehimmelt wie im Westen Fritz Walter.
Schur habe in den fünfziger Jahren für den »Eintritt seines Landes in den Weltsport« gesorgt, meint ein junger PDS-Mitarbeiter stolz. Noch heute ist der aktive Radler, der seinen Wahlkampf meist vom Sattel aus bestreitet, im Osten überaus beliebt. Wenn der Radsportler das hypermoderne Velodrom in Ost-Berlin betritt, gibt es Szenenapplaus.
Das Leben im neuen Deutschland, klagt Schur, sei jetzt »hart wie ein Radrennen«, jeder müsse ackern, um Arbeit zu bekommen. Über die DDR will er nicht klagen: »Wir hatten doch alles.« Ob diese Ostalgie-Anflüge sich 1998 politisch auszahlen werden, bezweifeln allerdings sogar PDS-Strategen.
Um so mehr hält es der radelnde Altkommunist für »Herausforderung und Verpflichtung, die Genossen in Berlin zu entlasten«. Vor der Arbeit im Bundestag hat er aber »schon Fracksausen« - Schur rechnet mit beleidigenden Zwischenrufen aus der rechten Hälfte des Parlaments.
Als Arbeitsfeld schwebt ihm irgendwas mit »Sport und Jugend« vor. So wie früher, als Täve Schur noch in der Volkskammer saß, 32 Jahre lang.