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GESCHICHTE / KRIEG 1870/71 Ratte zum Mittag

aus DER SPIEGEL 16/1968

Mit einem Schnaps und einer Zigarre pro Kopf wollte der Pariser »Figaro« den ins Feld ziehenden Kriegern Mut machen. Unerhörtes stand laut »Figaro« bevor: »Ehe Paris, das durch seinen Genius die Herrschaft über die Welt errang, in die Hände der Barbaren fällt, darf es keinen Gott im Himmel mehr geben.«

Die Barbaren -- in preußischen Pickelhauben -- zogen gleichwohl am 1. März 1871 in Paris ein. Am 28. März, während die Deutschen noch im Land standen, fiel die Stadt schon in die Hände neuer, diesmal französischer Barbaren: der berühmten Pariser Kommune.

Erst nach zweimonatiger Belagerung erstickten die Truppen des bürgerlichen Frankreich den Aufstand in. Blut. »Die Geschichte hat noch kein Beispiel ähnlicher Größe«, schrieb Karl Marx damals. Fast 100 Jahre später ziehen beide Ereignisse -- der Deutsch-Französische Krieg wie der Kommune-Aufstand -- immer noch Historiker und Literaten an**. Denn sie veränderten die Welt des 19. Jahrhunderts.

Der Krieg von 1870/71 beseitigte das seit 1815, dem Ende Napoleons, bestehende Gleichgewicht in Europa und belastete das neugegründete deutsche Kaiserreich mit der Feindschaft Frankreichs. Das Sedan-Feiern diesseits und das Elsaß-Trauern jenseits des Rheins führte weit konsequenter in den Ersten Weltkrieg als dieser in den Zweiten.

Wie in Zieten-Zeiten attackierten farbenfrohe Kavallerieregimenter einander, säbelten sie bei Reichshofen für Frankreich und bei Vionville für Deutschland so todesmutig, daß Geschichtslehrer und Kriegspoeten beider Seiten für Jahrzehnte Stoff hatten.

Gleichzeitig aber verkündigte das Bellen der französischen Mitrailleusen schon ein anderes Waffen-Zeitalter. Gleichzeitig nahm ein vermeintlicher Kabinettskrieg Züge von Massenhysterie an.

»Nach Paris, nach Paris«, jubelte die Menge in Berlin. »Die Straßen der Städte sollen den Feind verschlingen, die Fenster sich wütend öffnen die Gräber schreien«, antwortete Frankreichs wortgewaltiger Victor Hugo.

Es wurde ein Krieg der Superlative -- selbst im Verhältnis zu den späteren Weltkriegen. 1943 in Stalingrad

* Einzug Kaiser Wilhelm 1. in Paris.

** Alistair Horne: »Paris ist tot -- es lebe Paris Der Deutsch-Französische Krieg 1870/ 71 und der Aufstand der Kommune In Paris«; Verlag Scherz, Bern/München/Wien; 416 Seiten; 28 Mark.

Georges-Roux: »La Guerre de 1870«; Verlag Eayard, Paris; 374 Seiten; 16,95 Francs.

Klaus Meschkat: »Die Pariser Kommune von 1871 im Spiegel der sowjetischen Geschichtsschreibung«; Verlag Harrassowitz, Wiesbaden; 288 Selten; 38 Mark.

kapitulierten 90 000 Deutsche, 1870 in Metz 84 000 Franzosen, drei Marschälle von Frankreich und 50 Generäle.

Nicht 1941/43 in Leningrad war erstmals die gesamte Bevölkerung einer modernen Millionenstadt eingeschlossen, sondern 1870/71 in Paris. 132 Tage lang widerstanden die Pariser den Deutschen. Sie verzehrten Katzen, Ratten und Zoo-Elefanten.

Nicht die sowjetische Oktoberrevolution war die blutigste Umwälzung in Europa, sondern die Pariser Kommune. Etwa 25 000 Menschen wurden innerhalb einer einzigen Woche hingerichtet.

Die Deutschen erwarben sich in diesem Feldzug den Ruf, perfekt ausgerüstete Siegkrieger zu sein. Ihre Generalstäbler besaßen Frankreich-Karten mit Straßen, die auf den Karten des französischen Kriegsministeriums noch nicht eingetragen waren. Der Kommandierende Admiral von Brest aber mußte seine Schiffe ohne Karten der Nordsee auslaufen lassen.

Frankreichs Artilleristen zogen mit altmodischen Vorderlader-Kanonen aus Bronze in den Krieg, deren Geschosse geräuschvoll, aber harmlos in der Luft zerplatzten. Die Deutschen feuerten mit gußeisernen Hinterladern von Krupp, deren Schlagzündergeschosse die französische Infanterie demoralisierten. Frankreichs Geheimwaffe aber, die Mitrailleuse, wurde derart geheimgehalten, daß die Armee sie erst wenige Tage vor der Mobilmachung erhielt.

Diese Mobilmachung war ein Chaos. Der -- später in Metz gefangene -- Marschall Canrobert berichtet: »Wir hoben Rekruten in Dünkirchen aus, schickten sie zur Einkleidung nach Perpignan (nahe der spanischen Grenze) oder gar nach Algerien, um sie von dort zu ihren Einheiten nach Straßburg in Marsch zu setzen.«

Beim Kriegsministerium in Paris gingen Notkabel ein. General Michel: »Bin in Belfort eingetroffen. Kann meine Brigade nicht finden, kann den Divisionskommandeur nicht finden, was soll ich tun?«

Über das Armee-Hauptquartier berichtete der Generalstabs-Oberst Fay: »Niemals werde ich diese Unordnung vergessen.« Eine der Ursachen: Überall schnüffelten -- damals schon -- Journalisten herum. Als Preußens Kronprinz den Kontakt zur abmarschierenden Armee des Marschalls Mac-Mahon verlor, fand er ihn durch Lektüre der »Times« wieder. Das Londoner Blatt hatte eine Depesche des Pariser »Temps« zitiert: Mac-Mahon sei durch die Argonnen nach Sedan marschiert. Bei Sedan übergab dann Frankreichs Napoleon III. dem Preußen Wilhelm 1. seinen Degen. Der Neffe des großen Korsen war todkrank: Ein taubeneigroßer Blasenstein hinderte ihn, zu Pferd zu steigen. »Wir steuern auf eine Republik zu, und auf was für eine« ahnte damals der Schriftsteller Mérimée.

Paris rüstete sich unterdessen für die bevorstehende Belagerung. Die Kunstschätze des Louvre wurden nach Brest verfrachtet, die Kokotten zum Uniformnähen in die Arbeitshäuser eingewiesen. Im Bois de Boulogne grasten riesige Fleischvorräte: 250 000 Schafe und 40 000 Ochsen.

Paris war damals von einem neun Meter hohen Festungswall mit 93 Bastionen umgeben, auf denen 3000 Geschütze standen. Im Vorfeld lagen 16 Forts, jedes mit 50 bis 70 Geschützen und jedes in Artillerie-Reichweite des nächsten. Patriotische Pariser bestreuten die Wälle noch mit Nägeln und Scherben -- »als ob die Preußen lauter Katzen wären«, bemerkte Tommy Bowoles, der Kriegskorrespondent der Londoner »Morning Post«.

Patriotische Begeisterung war es auch, die der Stadt später zum Verhängnis wurde: Die Regierung der Nationalen Verteidigung -- die Monarchie war inzwischen gestürzt -- rief die Bürgermiliz, die sogenannte Nationalgarde, zu den Waffen. 360 000 Mann meldeten sich -- zweimal so viele, wie die Regierung erwartet hatte. Jeder wollte dabei sein. In den Arbeitervierteln Belleville und Ménilmontant bildeten sie geschlossene proletarische Bataillone: die späteren Sturmtruppen der Kommune.

Die Nationalgardisten galten als militärisch unzuverlässig und wurden deshalb tunlichst nicht eingesetzt. Das ewige Warten wiederum machte die Patrioten mißvergnügt. Sie vertrieben sich die Zeit beim Kartenspiel und bevölkerten die Bistros. Denn auch als die Pariser -- später -- ihre letzten Ratten verzehrten, floß der Wein noch in Strömen. Rote Klubs debattierten über das beste Mittel, die Preußen zu vernichten. Auf den Boulevards ertönte erstmals der Ruf: »Vive la Commune!«

Unterdessen hatten die Deutschen den Ring um die Stadt enger gezogen. Um mit der Außenwelt in Verbindung zu bleiben, ließen die Pariser insgesamt 65 Luftballons aufsteigen -- die meisten mit Matrosen bemannt, weil die Seeleute nicht so leicht luftkrank wurden. 164 Passagiere und elf Tonnen Post entflogen auf diese Weise über die Köpfe der Preußen.

Jedoch: Etliche Ballons wurden vom Winde verweht, sechs landeten in Belgien, vier in Holland, zwei in Deutschland, zwei weitere entschwanden über See, einer gelangte gar bis Norwegen.

Festungs-Phantasie ließ die Pariser lenkbare Ballons entwerfen: 10 000 Tauben sollten vor das Luftfahrzeug gespannt werden oder vier Adler. Eine schwenkbare Rute mit Frischfleisch würde die Vögel in die richtige Richtung lenken.

Noch schwieriger als auszufliegen war es, Paris per Luft zu erreichen. 302 Brieftauben versuchten es, nur 59 landeten. Der Rest starb vor Kälte oder durch Biß der feindlichen Taubenabwehr: Die Preußen schafften Jagdfalken an die Front -- aber auch die erste, von Krupp gebaute Flak, Sie feuerte dreipfündige Granaten bis in 600 Meter Höhe -- doch Abschußziffern sind unbekannt.

Am wirksamsten war es noch, die Ballons sorgfältig zu beobachten. Das vorzügliche deutsche

Feld-Telegraphennetz meldete ihren Kurs an Ulanen-Patrouillen, diese trabten unter den Ballons über Land und eroberten immerhin fünf Fahrzeuge nach der Landung.

Science-Fiction beflügelte die Belagerten. Patrioten schlugen vor,

* das deutsche Hauptquartier durch einen tonnenschweren, an Ballons befestigten Hammer zu zermalmen,

* die Pariser Brennstoff-Vorräte durch Gas auf zufüllen, das aus Leichen destilliert werden sollte,

* »sympathetische Schnecken« mit mikroskopisch verkleinerten Depeschen durch die Linien der Belagerer zu schicken,

* die Preußen mit auf Flaschen gezogenen Pocken-Erregern zu bombardieren und

* die Zoo-Tiere gegen die Preußen ins Feld zu schicken.

Ein Phantasiegespinst -- der »preußische Finger, -- blieb nicht nur Plan. Es war ein in Blausäure ("preußische Säure') getauchter Stift, mit dem die Pariserinnen ihre Tugend verteidigen sollten. Ein Pariser namens Belly wollte zehn Damen-Bataillone, genannt »Amazonen der Seine«, damit ausrüsten; Meldungen wurden im Haus Rue Turbigo Nr. 36 entgegengenommen. Die Behörden schritten indessen ein -- nicht etwa wegen mangelnder Gefechtsreife der Waffe, sondern weil Belly Immatrikulationsgelder erhoben hatte.

Die Pariser Zootiere wurden bald statt zum Fronteinsatz zum Ersatzdienst herangezogen. Denn seit November 1870 litten die Pariser Hunger. Sie verzehrten zunächst Katzen und Hunde, dann kamen die Ratten an die Reihe. Auf der Rattenjagd zerstreuten sich die Nationalgardisten.

»Morning Post« -- Korrespondent Bowles: »Ich habe jetzt Kamel, Antilope, Hund, Esel, Maultier und Elefant gegessen.« Einem anderen Journalisten bot ein Schlachter ein Lamm an -- doch das Filet entpuppte sich als Wolf.

Der Feind dagegen lebte wie Gott in Frankreich. In seinem Versailler Hauptquartier schlemmte Gourmet Bismarck Truthahn-Pasteten, Wildschwein-Köpfe und Reinfelder Schinken; das Sauerkraut ließ er sich in Champagner kochen. Nur der biedere König Wilhelm sparte auch in Feindesland: Wie daheim markierte er abends auf der Flasche den Stand des Weins.

Seit dem 5. Januar beschossen die Deutschen Paris -- insgesamt fielen 12 000 Granaten in die Stadt, töteten aber nur 97 Menschen. Krupp schenkte der Armee zwar sechs 56-Zentimeter-Mörser, die Granaten von 450 Kilo

* Kaiserproklamation am 18. Januar 1871.

feuern konnten, aber keiner dieser Riesen kam zum Einsatz.

Gleichwohl demoralisierte das Feuer die Städter. Die Disziplin der Nationalgarde nahm weiter ab. Die Preußen erfuhren fast jeden Ausbruchplan so früh wie der örtliche französische Kommandeur. Alle Ausbruchversuche scheiterten. Die Patrioten aus Belleville aber glaubten an Verrat ihrer Oberen. Der Geist der Rebellion ging um.

Nach 132 Tagen Pariser Belagerung, dem Fall wichtiger Außenforts und dem Scheitern aller Entsatz-Versuche schloß die Regierung Waffenstillstand: Am 1. März zogen die Deutschen in Paris ein, rückten aber schon nach zwei Tagen wieder ab. Frankreich mußte fünf Milliarden Franc Kriegsentschädigung zahlen -- damals eine ungeheure Summe -- und verlor Elsaß-Lothringen.

Victor Hugo spürte bereits »das Herannahen der gewaltigen Rache«. Der linke »Rappel« schrieb: »Paris zittert vor Zorn.« Der Schriftsteller Goncourt entdeckte »etwas Düsteres, Unruhiges« in Paris.

Am Tag, da Regierungschef Thiers den Friedensvertrag unterzeichnete, marschierte die Nationalgarde von morgens zehn Uhr bis abends sechs durch Paris. Ein Gardist des 238. Bataillons rief: »Die monopolistischen Ausbeuter glauben, das Volk könne immer gegängelt werden. Sie scheinen zu vergessen, daß es manchmal plötzlich erwacht.«

Gardisten plünderten die Artillerieparks und schleppten 200 Kanonen von Hand auf den Montmartre. Am 18. März erhielt die reguläre Armee Befehl, die Kanonen zurückzuholen. Da alarmierte die »Rote Jungfrau« Louise Michel den Sicherheitsausschuß. Die Generale Lecomte und Thomas wurden vom Mob gefaßt und erschossen.

Frankreichs späterer Weltkriegs-Premier Georges Clemenceau, damals Bürgermeister des Montmartre-Bezirks, sah den Mob in »einer Art kollektiver Besessenheit ... Alle brüllten wie wilde Tiere. Dann beobachtete ich jenes pathologische Phänomen. das man Blutrausch nennt. Ein Hauch von Wahnsinn schien über diesen Mob hinweggegangen zu sein«. Soldaten feuerten auf die längst toten Generäle, Frauen urinierten über den blutigen Kadavern.

Angesichts dieser Taten entschied Regierungschef Thiers, die Regierung solle Paris den Rebellen überlassen und sich nach Versailles zurückziehen. Am 28. März verkündete Kommunarde Assi: »Im Namen des Volkes, die Kommune ist proklamiert!« Die Menge geriet in Ekstase. »Was für ein Tag, o großes Paris«, rief der Schriftsteller Vallès.

Zwar begrüßte Karl Marx die Kommune als »neuen Ausgangspunkt von weithistorischer Wichtigkeit«, doch mit Kommunismus hatten die Kommunarden wenig gemein. Anarchisten und Chauvinisten, mißvergnügte Kleinbürger und Bohemiens vereinigten sich im Protest gegen die nationale Nieder-

* Aufständische erschießen die Generäle Thomas und Lecomte.

lage wie gegen die schlechten Lebensbedingungen in den Pariser Armenvierteln.

Die Bank Rothschild gab den Roten 1,05 Millionen Franc Kredit und wurde dafür nicht gestürmt -- was Marx und Lenin später als einen Hauptfehler der Kommunarden beklagten. Denn in der Bank lagen Werte von zwei Milliarden Franc. Mit diesen Waffen. so Marx, hätte die Kommune die französische Bourgeoisie nötigen können, Druck auf die Versailler Regierung auszuüben, damit sie Frieden mit den Roten schließe.

Paris wurde von den Truppen der Regierung eingeschlossen. Pathetisch verkündete die Kommune, daß »die Welt des Militarismus, Monopolismus und der Privilegien, denen das Proletariat seine Knechtschaft verdankt«, nun zu Ende gehe.

Doch die diversen Gruppen konnten sich nur zu Deklamationen aufraffen: Das Glücksspiel wurde verboten, die Trennung von Staat und Kirche verkündet, das Einkommen der Beamten auf 6000 Franc im Jahr beschränkt. Kommunarde Rigault, Chef der Polizei, empfahl: »Das Konkubinat ist ein soziales Dogma.« Alle von Bürgerlichen verlassenen Betriebe sollten nationalisiert werden -- aber schon dazu kam es nicht mehr.

Am 21. Mai entdeckte der Wege-Inspektor Ducatel, daß die Wälle am Tor Point-du-Jour -- offenbar aus Nachlässigkeit -- nicht besetzt waren. Ducatel kletterte auf eine Bastion und machte den Belagerern Zeichen, die Truppen drangen ein.

Im Straßen- und Barrikadenkampf wurden die Kommunarden langsam gegen ihre Herkunftsquartiere Belleville und Ménilmontant zurückgedrängt. Wie später in Warschau und Leningrad kämpfte die gesamte Bevölkerung gegen den Feind.

Die Kommunarden verabschiedeten sich mit einem gespenstischen Feuerwerk. Rote »Petroleusen« zündeten Paris an. Die Tuilerien, das Palais-Royal, das Hotel de Ville und viele andere Gebäude gingen in Flammen auf. Am nächsten Abend erschossen sie nach den als Geisel verhafteten Erzbischof von Paris Monsigneur Darboy mit vier Geistlichen.

Am 28. Mai fielen die letzten Kommunarden in dem berühmten Gefecht auf dem Friedhof Père-Lachaise. Die Überlebenden wurden an der Friedhofsmauer exekutiert.

Eine Woche lang rächten sich Offizierkorps und Bourgeoisie an der Kommune. »Noch nie hat Paris eine solche Gelegenheit gehabt, sich selber von dem moralischen Aussatz zu heilen«, jubelte der »Figaro«. 350 000 Denunziationen gingen ein.

In langen Sechserreihen mußten Kommunarden und Kommuneverdächtige zur Exekution antreten. Die Zahl der Hingerichteten wird auf 6500 bis 40 000 geschätzt, wahrscheinlich waren es etwa 25 000.

In keiner Schlacht des Deutsch-Französischen Krieges wurden so viele Franzosen getötet wie in der »Blutigen Woche«. »Gestern konnte man auf der Seine einen langen Streifen Blut sehen«, meldete »La Petite Presse«.

Danach mußten noch 40 000 Gefangene abgeurteilt werden. 95 erhielten die Todesstrafe, 4577 wurden in überseeische Strafkolonien verfrachtet. Ähnlichen Schrecken erlebte Frankreich erst wieder nach der Befreiung im Sommer 1944, als schätzungsweise 100 000 Franzosen wegen Kollaboration exekutiert wurden.

Das Drama von 1870/71 prägte die Zeitgenossen. Die französischen Heer-

* Auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise.

führer des Ersten Weltkriegs Joffre, Pétain und Foch erlebten die Niederlage als Jugendliche. Deutschlands Hindenburg schmetterte sein Hurra, als Bismarck aus Preußens König im Spiegelsaal von Versailles Deutschlands Kaiser machte. Französische Bitterkeit und deutscher Siegesstolz bereiteten den Weg ins Jahr 1914.

Und Karl Marx wirkte an der heroischen Sozialisten-Legende von der Kommune: »Das Paris der Arbeiter ... wird ewig gefeiert werden. Seine Märtyrer sind eingeschreint in den grollen Herzen der Arbeiterklasse.«

Rußlands Lenin studierte die Kommune lebenslang. Chinas Mao nahm sie sich als Vorbild für seine Kulturrevolution. Und als 1964 das Sowjet-Raumschiff Woszchot I aufstieg, trug es neben Bildern von Marx und Lenin auch einen Fetzen Kommunarden-Fahne in den Weltraum.

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