BENZIN Rechnung folgt
Um Deutschlands Tankstellen pfeift seit Ende August ein eisiger Wind. Erstmals nach der Währungsreform brachen die großen Mineralöl-Konzerne Shell und Esso mit einem Branchen-Tabu: Sie riefen zum offenen Kampf und bieten Benzin zu Preisen, die weder ihre Kosten noch die der Konkurrenz decken. Der Düsseldorfer »Industriekurier« nannte das Vorgehen »kalkulatorischen Selbstmord«.
Binnen eines halben Jahres sank der Literpreis für Normalbenzin im Ruhrgebiet um acht auf 48,5 Pfennig - den niedrigsten Stand seit Kriegsende. Noch vor zehn Jahren kostete der Treibstoff 65 Pfennig.
Der Sommerschlußverkauf der Konzerne, die schon im vergangenen Jahr nur winzige Gewinne gemacht hatten, ist ein gezielter Schlag gegen die etwa 4300 konzernfreien Stationäre. Die
Freien setzten 1965, obwohl sie am Tankstellennetz nur einen Anteil von zehn Prozent haben, 20 Prozent des in Deutschland verbrauchten Benzins um, über zwei Millionen Tonnen. Aus Essens freier Tankstelle Moll, die dem Versandhaus Schwab gehört, fließen monatlich eine Million Liter Benzin. Die Markenzapfer sind schon froh, wenn sie im Monat 35 000 Liter absetzen.
Die führenden Marken-Gesellschaften- Esso, Aral, Shell und BP hatten jahrelang untätig zugesehen, wie dynamische Unternehmen, etwa die Frisia AG; eine Gründung des Schweizers Gottlieb Duttweiler, »VK« (Volkskraftstoff) des Frankfurter Zoobesitzers Georg von Opel, aber auch quirlige Tankstellen-Inhaber wie der Kölner Klaus Salm, ihren Treibstoff um sechs bis zehn Pfennig unter den Konzernpreisen anboten. Selbst der Kaufhauskonzern Horten und die Versandhaus-Unternehmen Neckermann und Quelle halten preiswert Benzin bereit.
Schimpfte Dea-Vorstandsmitglied Erich Grages: »In Deutschland wird immer so furchtbar übertrieben. Der Horten schleudert mit Benzin, um den Leuten Schlüpfer zu verkaufen.«
Trotzdem mochten sich die Konzerne jahrelang nicht zu eigener Preis-Aktivität entschließen. Für sie galt der Erfahrungssatz, daß Preiskämpfe auf Märkten, in denen wenige große Anbieter mit etwa gleicher Kapitalkraft herrschen, allen Verluste, aber keinem zusätzlichen Marktanteil bescheren.
Statt die Preisdifferenz zu den Freien in Grenzen zu halten, bedachten die Konzerne ihre Kunden mit mehr Service, mehr Werbung und vor allem mit mehr Tankstellen. Binnen zehn Jahren wuchs die Zahl der Zapfplätze in Westdeutschland von 20 500 auf rund 43 000. Auf die Dauer vermochten freilich weder die bunt angemalten Benzintempel noch der Tiger im Tank das Preisgefälle zu kaschieren. Zudem wuchs mit steigender Raffinerie-Kapazität, mit der sich die Konzerne und Ruhrkohlen-Unternehmen rechtzeitig einen hohen Anteil am wachsenden Heizöl-Geschäft sichern wollten, auch das Benzin-Angebot. Da beim Aufspalten des Rohöls etwa 20 Prozent Benzin anfallen, drückten die Raffinerien immer mehr Kraftstoff in den Markt.
Raffinerien ohne eigenes Tankstellennetz wie die Union Rheinische Braunkohlen Kraftstoff AG in Wesseling bei Köln oder die Kleinholz & Co. in Essen, aber auch Konzern-Unternehmen wie die Caltex-Raffinerie in Raunheim (Taunus) und Dea-Scholven belieferten über den Großhandel die freien Tankstellen - allen Dementis der Vorstände zum Trotz. Sogar aus Tanklagern der Shell, Esso und BP sprudelten hin und wieder auf dunklen Wegen Partien in die Säulen der Preisbrecher.
Schon vor Jahresfrist kostete das Normalbenzin am Abholgroßmarkt in Hamburg, bei dem Düsseldorfer Kaufhaus-Nabob Horten und bei Neckermann in Frankfurt 45 Pfennig, als die Marken-Tankstellen ihren Kunden noch 56,5 Pfennig berechneten.
Zu Beginn dieses Jahres wurde den Propagandisten des Tigers endgültig deutlich, daß deutsche Markentreue eine Preisfrage ist. Während der Mineralöl-Absatz 1965 insgesamt um rund 15 Prozent stieg, verbuchten die Konzerne weit geringere Zuwachsraten:
- BP 10,2 Prozent;
- Esso neun Prozent;
- Dea 8,3 Prozent;
- Shell 6,4 Prozent;
- Aral fünf Prozent.
Im gleichen Zeitraum setzten die Unterpreis-Tankstellen etwa 18 Prozent mehr Benzin ab als 1964. In vielen westdeutschen Großstädten, etwa in Münster und Essen, haben die Freien mehr als die Hälfte des Marktes annektiert. Wo immer sich eine weiße Tankstelle auftat, schrumpften die Umsätze der benachbarten Konzern-Anbieter bis um 70 Prozent. Die Shell sah sich genötigt, vielen ihrer Stationäre die Pacht zu stunden,die Esso mußte eine Anzahl Pächter-Tankstellen schließen.
Anfang März führte die Esso den ersten Gegenschlag. Sie senkte in jenen Großstädten, in denen die billigen Zapfer am stärksten sind, die Preise um bis zu vier Pfennig je Liter. Gleichzeitig erhöhten sich die Abgabepreise an den Großhandel um sieben Prozent. Seither pendelten die Konzernpreise je Liter Normalbenzin zwischen 53,5 Pfennig in
den Verbraucherzentren und 57,5 Pfennig in entfernten Zonen.
Um mittelständischer Panik vorzubeugen, erklärte Esso-Verkaufschef Berthold Harneit damals: »Wer behauptet, die großen Mineralölgesellschaften wollten den markenfreien Tankstellen den Hahn zudrehen, der tut das gegen besseres Wissen oder verkennt die Lage am Kraftstoffmarkt.«
Doch die Lage am Kraftstoffmarkt war anders, als Harneit sie sich vorgestellt hatte. Nachdem die Esso am 23. August eine weitere Preissenkung so vorsichtig dosiert hatte, daß in Bonn keine Mittelstands-Migräne aufkommen konnte, schlug die Shell ohne Rücksicht auf Verluste zu.
Gereizt durch Einbußen in Westdeutschland sowie durch eine Preissenkung der Esso im Shell-Stammgebiet Holland, setzte der Konzern die Preise im Ruhrgebiet auf 48,5 Pfennig fest. Schimpfend, doch unverzüglich folgte die Konkurrenz, und die Freien sahen sich genötigt, den Kurs auf 45 bis 48 Pfennig je Liter Normalbenzin zurückzunehmen. Die Tankstelle »Tramin« in Duisburg ging sogar auf 43 Pfennig herunter.
Da die Raffinerien ihren Abnehmern je Liter allein schon 39 bis 40 Pfennig berechnen, die Marken-Stationäre zudem zwischen fünf und neun Pfennig Provision (freie Tankstellen die Hälfte) kassieren, bleiben den Konzernen sowie den marktfreien Großhändlern für Transport, Abschreibungen und Verwaltungskosten nur noch etwa zwei Pfennig übrig. Esso und Shell rechnen denn auch in diesem Jahr mit jeweils 100 Millionen Mark Verlust allein im Benzin-Geschäft. Insgesamt dürfte der Preiskampf die Branche 1966 etwa 600 Millionen Mark kosten.
Der Vorsitzende des Bundesverbandes Freier Tankstellen, Gerhard Schneider, fürchtet, daß es dabei nicht bleiben wird: »Nach Vernichtung der freien deutschen Tankstellen werden die ausländischen Mineralölgesellschaften den Verbrauchern die Rechnung präsentieren.«
Einem anderen Verdacht spürt das Berliner Bundeskartellamt nach: 40 Prozent der Konzerntankstellen drehten die Zählwerke ihrer Zapfsäulen zurück, 60 Prozent forderten von den Autofahrern den alten Preis. Insbesondere an den Autobahnen, wo es praktisch keine Konkurrenz gibt, kostete der Liter Normalbenzin nach wie vor 57,5 Pfennig.
Da jedoch nach dem Wettbewerbsrecht gleichartige Abnehmer nicht ohne Grund unterschiedlich behandelt werden dürfen (Diskriminierungs-Verbot), forderte die Kartellbehörde die Mineralölfirmen schriftlich auf, ihre Preispolitik zu rechtfertigen. Letzter Termin: 15. September.
Aber an jenem Tag lagen in Berlin nur die Auskünfte kleinerer Gesellschaften vor. Die großen Konzerne erbaten Bedenkzeit - und paßten ihre Autobahn-Preise vorsorglich den regional geltenden Staffeln an.
Freie Tankstelle des Versandhauses Schwab in Essen: »Kalkulatorischer Selbstmord«?