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VIETNAM / BOMBENSTOPP Recht und beten

aus DER SPIEGEL 45/1968

Fast einhundertzwanzigtausendmal in dreieinhalb Jahren flogen die »Gion Son« (Johnsons) -- wie Nordvietnams Bauern die amerikanischen Kampfflugzeuge nennen -- gegen die Republik Ho Tsch-minhs.

Über anderthalb Millionen Tonnen Spreng- und Brandbomben, Schrap -- neu- und Napalmkanister, Luftminen und Raketen zerpflügten nahezu jeden Quadratmeter eines Waldlandes von der Größe der Bundesrepublik ohne Bayern -- mehr Bomben, als während des Zweiten Weltkrieges auf ganz Europa fielen.

Über 900 Flugzeuge, darunter modernste Maschinen der Typen »Phantom« und »F-111«, büßten die USA im gewaltigsten Luftkrieg der Geschichte ein; allein der materielle Verlust überstieg acht Milliarden Mark -- mehr. als die gesamte kostspielige »Starfighter«-Armada der Bundeswehr verschlungen hat.

Über 600 Piloten starben oder gerieten in rote Gefangenschaft -- die Ausbildung jedes einzelnen hatte -über eine Million Mark gekostet.

Der Einsatz lohnte nicht: Nach optimistischen Schätzungen der US-Militärs verminderten die Bombenangriffe Nordvietnams Kampf- und Nachschubkapazität auf dem Dschungelkriegsschauplatz in Südvietnam nur um 15 bis 20 Prozent. Auf der anderen Seite aber drängte der Bombenkrieg die Sowjet-Union enger an die Seite Nordvietnams und hätte sich zu einem Atomkrieg ausweiten können. Er zerstörte den Anspruch der USA, verantwortungsbewußte Weltmacht zu sein, und er zerrieb Amerikas Vertrauen auf die eigene Kraft.

In der Nacht zum letzten Freitag, 1363 Tage nach dem ersten Startbefehl, nahm der scheidende US-Präsident den Befehl zum Bombenkrieg, »die umstrittenste und folgenschwerste Entscheidung seiner fünfjährigen Amtszeit, zurück. In einer Fernsehansprache an die Nation verkündete er den totalen Stopp aller Bombenangriffe auf Nordvietnam und tat damit den ersten Schritt »auf dem Weg, der zu einer politischen Lösung in Südostasien führen kann« ("New York Times").

Fünf Tage vor der Präsidentenwahl in Amerika versuchte Lyndon Johnson damit auch, seinem in zweiter Position liegenden Vize und Günstling Hubert Humphrey zu helfen. Vor allem aber: Drei Monate vor seinem offiziellen Abschied suchte er, sein eigenes Bild für die Geschichte zurechtzurücken.

Ob es ihm gelingt, scheint zweifelhaft. Die Entscheidung kam wahrscheinlich zu spät. Wozu Johnson sich jetzt entschloß, das hätte er -- mit mehr Aussicht auf Erfolg -- schon vor Monaten tun können, vielleicht vor Jahren. Er hätte damit Zehntausenden Menschen das Lehen bewahrt und den USA die wahrscheinlich größte Blamage ihrer Geschichte erspart.

Eine Blamage war die Bomben-Offensive für die stärkste Militärmacht der Welt von Anfang an. Binnen sechs Wochen, so versicherte am 7. Februar 1965, dem Tag der ersten Bomber-Starts, ein Oberst im US-Oberkommando in Saigon dem SPIEGEL, würden die Nordvietnamesen zu Kreuze kriechen, würde Hanoi »an den Verhandlungstisch gebombt« sein.

In sechs Wochen, so wähnte damals auch noch der Senator Fulbright, später erbittertster Gegner der Bomben-Diplomatie, werde Hanoi genug haben und nachgeben.

Doch als die ersten amerikanischen Jets Häfen und Bahnknotenpunkte in Nordvietnam angriffen, hatte Ho Tschi-minh gerade Besuch in Hanoi: Sowjet-Premier Kossygin.

Der Russe war empört, weil die kapitalistische Weltmacht einen kommunistischen Staat gerade in dem Augenblick bombte, als dort der Regierungschef der kommunistischen Weltmacht weilte. Moskau, von den Chinesen der Komplizenschaft mit Washington bezichtigt, konnte das Bruderland nicht zerbomben lassen, ohne sich in der kommunistischen Weitmeinung zu diskreditieren. Daher versprach die Sowjet-Union den Nordvietnamesen jede notwendige Hilfe.

Die Sowjet-Union hielt ihr Versprechen. Sie rüstete Nordvietnam mit der modernsten Luftabwehr der Kriegsgeschichte auf, die immer mehr »Gion Son« abschoß. Für einen zerstörten Lastwagen lieferten die Russen zwei neue; als der Bombenkrieg einen Höhepunkt erreichte -- Anfang dieses Jahres -, waren auch die Kommunisten militärisch am stärksten.

Den Nachschubstrom zu unterbinden, wagten die Amerikaner nicht. Dazu hätten sie den Hafen von Haiphong zerstören müssen -- in dem stets sowjetische Schiffe ankerten: Die Versenkung eines Russenfrachters hätte das Risiko eines Weltkriegs heraufbeschworen.

Ohne Total-Bombardement aber blieb die Wirkung beschränkt. Schon drei Monate nach Beginn der Offensive versuchte Johnson, diesen Teufelskreis zu sprengen. Im Mai 1965 -- und später insgesamt noch achtmal -- befahl der US-Präsident eine Bomben-Pause, um Nordvietnam an den Verhandlungstisch zu bringen -- vergebens. Von den radikalen »Falken« bedrängt, die jede Bombenpause als Geschenk an Hanoi und Gefahr für das Leben der GIs werteten, gab Johnson jeweils wieder Befehl zu neuen Feindflügen.

»Wir wissen«, verteidigte er seinen Kurs, »daß wir mit Luftangriffen allein unsere Ziele nicht erreichen können. Aber nach unserem besten Wissen und Gewissen sind sie eine notwendige Etappe auf dem sichersten Weg zum Frieden. Wir hoffen, daß der Friede schnell kommen wird.«

Ho Tschi-minh deutete Johnsons Taktik als Schwäche. Er baute auf Amerikas zunehmende Kriegsmüdigkeit (und überschätzte wahrscheinlich die Bedeutung der Kriegsgegner in den USA), auf die Weitmeinung gegen den Bombenkrieg und auf seine eigene militärische Stärke.

Das Unfaßbare geschah, die Rechnung des Herrschers über 20 Millionen asiatischer Bauern gegen die Weltmacht Amerika ging auf. Im Februar berannten die Roten in einer gewaltigen Offensive jede bedeutende Stadt Südvietnams und hielten die einstige Hauptstadt Hué vier Wochen lang. Jetzt erst begriff Johnson, daß er den Kampf nicht gewinnen konnte, falls er nicht zum totalen Krieg und damit möglicherweise zum atomaren Weltkonflikt bereit war.

Am 31. März 1968 zog Johnson die Konsequenzen: Er erklärte sich zu Friedensgesprächen mit Hanoi bereit, befahl einen partiellen Bombenstopp (der für drei Viertel Nordvietnams galt) und gab seinen Entschluß bekannt, nicht noch für eine weitere Amtsperiode als Präsident zu kandidieren.

Sechs Wochen später begannen in Paris erste Gespräche zwischen Washington und Hanoi. Amerika hatte nicht die Nordvietnamesen, sondern sich selbst an den Verhandlungstisch gebracht. Für Amerika waren es Friedensgespräche, während Hand nur über die »bedingungslose Einstellung des Bombardierens und aller anderen Kampfhandlungen gegen Nordvietnam« sprechen wollte und über sonst nichts.

28 Sitzungen lang erschöpften die Verhandlungspartner einander mit dem Vortrag der unvereinbaren Standpunkte. Der Krieg, der in acht Jahren eine halbe Million Menschenleben gefordert hatte davon 29 000 Amerikaner -, ging weiter.

Schon im Juli, zwei Monate nach Verhandlungsbeginn, schlug Johnsons Chefunterhändler Harriman dem Präsidenten vor, er solle die Bombardierung Nordvietnams völlig einstellen, um wirkliche Friedensgespräche in Gang zu bringen. Doch Johnson glaubte damals noch, er habe genug Vorleistungen erbracht, den nächsten Zug müßten die Nordvietnamesen tun.

Sie taten ihn nicht. Doch je näher die Präsidentenwahlen und sein eigener Abschied nickten, um so dringender suchte Johnson nach einer Lösung. Denn sein Selbstopfer vom 31. März wäre sinnlos geworden, wenn an dem Tag, da der Präsident das Weiße Haus verließ, noch immer junge Amerikaner ohne Aussieht auf Sieg oder ein Ende des Krieges in Asien starben.

Ende September ließ Johnson seinen Gegenspieler Ho wissen, er werde die Bombardierung völlig einstellen, falls Hanoi zusichere, diesen Schritt nicht für eigene militärische Vorteile zu nützen, ernsthaft zu verhandeln und zu den Pariser Gesprächen auch die südvietnamesische Regierung zuzulassen. In diesem Fall würden die Amerikaner auch den Vietcong bei den Verhandlungen akzeptieren.

Hanoi ließ sich Zeit. Die französische Regierung schaltete sich vermittelnd ein -- sie war über den Fortgang der Gespräche stets vorzüglich informiert, da de Gaulle die Konferenzpartner abhören ließ --, und Moskau riet Hanoi zur Mäßigung.

Johnson seinerseits ließ sich von seinen Geheimdiensten bestätigen, daß die Nordvietnamesen ihre Kriegsanstrengungen de facto bereits verringert hätten -- angeblich zogen sie in den letzten Wochen 40 000 Soldaten aus Südvietnam zurück. In einer Geheimkonferenz im Weißen Haus veranlaßte der Präsident seinen Vietnam-Oberbefehlshaber General Abrams letzte Woche zu der Aussage, daß ein Bombenstopp die Zahl der Opfer unter

* Mit Vietnam-Oberbefehlshaber General Abrams und Generalstabschef Wheeler.

den US-Soldaten nicht erhöhen werde -- obschon Johnson bisher stets das Gegenteil behauptet hatte.

Am Donnerstag um acht Uhr abends -- in New York um 22 Minuten früher, weil eine TV-Gesellschaft die Sperrfrist nicht beachtet hatte -- dekretierte der Präsident die Einstellung aller US-Kampfhandlungen gegen die Republik Nordvietnam ab Freitag 14 Uhr MEZ.

Johnson: »Was wir nun erwarten -- und worauf wir ein Recht haben

sind umgehende, produktive, ernsthafte und intensive Verhandlungen ... die nicht stattfinden können in einer Atmosphäre, in der Städte beschossen werden

Dann forderte der Staatschef seine Zuhörer auf, dafür zu beten, daß »dieser Schritt zu einem dauerhaften und ehrenvollen Frieden in Südostasien führt«.

Gebete scheinen notwendig. Denn während Johnson das Ende des Bombenkriegs verkündete, beschossen kommunistische Guerillas zum erstenmal seit Wochen Südvietnams Hauptstadt Saigon mit Raketen. Sie trafen eine vollbesetzte katholische Kirche -- 23 Menschen starben, über 70 wurden verletzt.

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