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KULTUSMINISTER Regie vom AK 13

Gibt es in Düsseldorf neben Ressortchef Schwier noch einen zweiten, heimlichen Kultusminister? *
aus DER SPIEGEL 30/1986

Eine einzige Bedingung stellte Wissenschaftsminister Hans Schwier (SPD) im Oktober 1983, als Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Johannes Rau ihn bat, »über die Straße« in das 100 Meter entfernte Kultusministerium überzuwechseln und dort den amtsmüde gewordenen Jürgen Girgensohn abzulösen: Sein Staatssekretär Ulrich Kleiner (ebenfalls SPD) müsse ihn begleiten.

So geschah es. Knapp drei Jahre lang leiteten die beiden Freunde »Hans und »Ulli« gemeinsam das Kultusministerium, ohne daß es je ernsthafte Differenzen zwischen ihnen gab. Sie setzten einen neuen Kurs durch, jeder auf seine Weise, Schwier sorgte in der Öffentlichkeit für »Ruhe an der Schulfront«, nachdem es jahrelang Aufregung über immer neue radikale Reformvorschläge gegeben hatte. Kleiner brachte als Amtschef »das Haus in Ordnung«, wie er es nannte. Vier von sechs Abteilungsleitern wurden »umgesetzt«, und auch sonst wurde streng regiert. Daß es einen »Rechtsruck« gab, fand nicht nur die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

Schwier war um Kontakt mit den Genossen im Landtag bemüht, Kleiner hielt nicht nur wegen der vielen Amtsgeschäfte in dem Ministerium mit mehr als 400 Mitarbeitern auf Distanz zu den Abgeordneten. Das trug ihm den Spott-Titel »Antiparlamentarischer Staatssekretär« ein.

Am Mittwoch vergangener Woche trennten sich die Wege von Schwier, 60, und Kleiner, 59. Der Staatssekretär räumte seinen Schreibtisch und fuhr in sein Haus am Wörthersee. Offiziell ging er in Urlaub, aber am vergangenen Freitag wurde er per Telegramm in den Ruhestand versetzt, der de jure »einstweilig« und de facto endgültig ist.

Mit Kleiners Entlassung endete ein Kampf, zu dem sich der Staatssekretär vor wenigen Wochen entschlossen hatte: »Lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende.«

Ein Schrecken ohne Ende war für Schwier und für Kleiner die Auseinandersetzung mit linken Genossen in der SPD-Landtagsfraktion. Sie werden angeführt von dem ehrgeizigen und arbeitswütigen Oberhausener Diplom-Sozialwirt Manfred Dammeyer, 47, dem Vorsitzenden des für Schule und Weiterbildung zuständigen Arbeitskreises 13 ("AK 13") der Fraktion. Dammeyer ist überdies stellvertretender Vorsitzender der »Kommission für Bildungspolitik« beim SPD-Parteivorstand.

Schwier war erst kurze Zeit im Kultus-Amt, als Dammeyer ihn in Recklinghausen vor 400 Funktionären warnte, seine Bildungspolitik dürfe nicht »ausarten«. Er sprach von der Gefahr, daß sie sich nicht mehr von der des CDU-Kultusministers Gerhard Mager-Vorfelder in Baden-Württemberg unterscheide.

Umgekehrt waren Schwiers Worte auf Dammeyer gemünzt, als er - ohne seinen Widersacher beim Namen zu nennen - in einem Brief an den Ministerpräsidenten Johannes Rau nach der Landtagswahl vom Mai 1985 sein Programm für die nächste Legislaturperiode umriß und ankündigte, daß er seine »Bildungspolitik nicht auf Dauer von einem ständigen Konflikt mit einer fast sektiererisch operierenden Szene begleiten lassen möchte.« In keinem anderen Punkt zeigten sich die Unterschiede so deutlich wie beim Thema Gesamtschule Schwier will zwar »Gesamtschulen überall dort errichten, wo eine große Nachfrage und ein erkennbarer Bedarf bestehen«. Aber er verweist stets auf die Rechte der Eltern, auf die es ankomme - ganz gleich, ob sie ein Gymnasium, eine Gesamt- oder eine Realschule wünschten.

Und schon gar nicht war je von Schwier zu lesen oder zu hören, was Dammeyer in einen Grundsatzbeschluß schrieb: »Ein Nebeneinander von gegliedertem Schulsystem und Gesamtschule sollte befristet sein... Schließlich soll die Gesamtschule die einzige Schulart sein.«

Anfang Juli kam es zur bislang schärfsten Auseinandersetzung zwischen Schwier/Kleiner und Dammeyer. Dabei ging es auf den ersten Blick überhaupt nicht um zentrale Probleme.

Kleiner hatte ein Personalpaket geschnürt. Er wollte die parteilose Leitende Ministerialrätin Erna Sebbel, 62, zur Chefin der Schulabteilung, des größten und wichtigsten Ressorts im Ministerium, befördern. Frau Sebbel ist bislang nur für Gymnasien zuständig und hat im rechten Philologenverband mehr Freunde als in der linken GEW. Zu diesem Zweck sollte der noch aus der Girgensohn-Zeit übriggebliebene Genosse Günter Heermann, 62, der die Schulabteilung leitete, vorzeitig in den Ruhestand geschickt werden. Heermann war allerdings nicht bereit, eine Minderung seiner Pension in Kauf zu nehmen, und Kleiner wollte ihm für drei Jahre durch einen Werkvertrag die Differenz zwischen Amts- und Ruhegehalt zukommen lassen.

Bei den beiden anderen Streitpunkten ging es ums Abitur. Monatelang hatte sich Schwier darüber mit seinen Unions-Kollegen aus anderen Ländern gestritten. Sie weigerten sich, die Reifeprüfung der Kollegschule anzuerkennen, einer auf Nordrhein-Westfalen (NRW) beschränkten Schulform. Dort können die Schüler einen Beruf erlernen und sich zugleich - Stichwort: »Doppelqualifikation« - aufs Abitur vorbereiten.

Die Unions-Minister beanstandeten außerdem eine liberale Regelung, die es nur für NRW-Abiturienten gibt. Wer das Abitur nicht besteht, weil er lediglich in einem einzigen Fach versagt, darf sich in diesem einen Fach nach den Sommerferien ein zweites Mal prüfen lassen. In allen anderen Bundesländern muß das Abitur komplett wiederholt werden, und zwar erst nach einem weiteren Schuljahr.

Bei beiden Regelungen geht es nur um relativ wenige Schüler. 3000 von 52000 Kollegschülern streben die »Doppelqualifikation« an, 1500 von 60000 Abiturienten, die jährlich die NRW-Schulen verlassen, melden sich zur Nachprüfung in einem Fach (die dann 60 Prozent bestehen).

Aber für die Unions-Minister ging es ums Prinzip, und ihnen wohlgesonnene

Zeitungen wie »FAZ« und »Welt« wetterten unablässig gegen »Schwiers Discount-Schule« und sein »Billig-Abitur«.

Als die Themen Mitte April auf der Tagesordnung der KMK standen, kam es erst in einer Nachtsitzung zu einem Kompromiß. Mit einigen Wenn und Aber erkannten die Unions-Minister das Abitur der Kollegschule an, umgekehrt erklärte sich Schwier bereit, die Abitur-Nachprüfung in einem einzelnen Fach von 1987 an abzuschaffen.

Das Problem schien gelöst, und Schwier reiste mit dem Circus Roncalli und anderen NRW-Kulturschätzen nach Moskau. Aber schon in der ersten Nacht erhielt er einen Alarmruf aus Düsseldorf, der ihn die sofortige Abreise erwägen ließ:

Im Schulausschuß des Landtages hatten sich die Fronten verkehrt, als unmittelbar nach Schwiers Abreise über die Abitur-Nachprüfung beraten wurde. Die CDU-Abgeordneten stimmten für, Dammeyer und die anderen SPD-Genossen stimmten zusammen mit den FDP-Politikern gegen Schwier. Sie verlangten von ihm das schier Unmögliche: Er solle den in der KMK mühsam ausgehandelten Kompromiß rückgängig machen und die Nachprüfung beibehalten.

Als Schwier nach dem NRW-Festival aus Moskau heimkehrte, kam es noch schlimmer. In derselben Sache stimmte auch der Vorstand seiner Fraktion mit 9 zu 7 gegen ihn.

Und zum schwärzesten Tag in Schwiers sechs Ministerjahren drohte der 1. Juli zu werden, als die gesamte Fraktion zusammentrat. Sein Gegner Dammeyer eröffnete die Debatte, und alles schien auf einen weiteren Beschluß gegen ihn hinauszulaufen. Das wäre für ihn politisch lebensgefährlich geworden.

Schwier hätte, wie er später vor Vertrauten eingestand, eine solche Niederlage nicht mehr aus eigener Kraft verhindern können. Aber Regierungschef Rau griff ein und stellte sich in einer 20-Minuten-Rede auf seine Seite.

Der Tenor der Rau-Intervention: In der Sache denke er wie die meisten Genossen, aber er selbst kenne aus seiner Ministerzeit die Probleme der Arbeit in der KMK, und man dürfe Schwier nicht desavouieren.

Die Stimmung schlug um, die Mehrheit für Schwier war so groß, daß sie gar nicht ausgezählt zu werden brauchte.

Was das Personalpaket Heermann/ Sebbel angeht, so hatten Schwier und Kleiner von Anfang an mit Widerstand gerechnet. Der Minister schätzte das Risiko noch höher ein als sein Staatssekretär. Rückblickend hält Schwier es für einen Fehler, daß er Kleiner nur warnte ("Das wird nicht gutgehen") und nicht handelte und ihn an diesem Vorhaben hinderte.

Frühzeitig kam es zwischen Kleiner und Dammeyer zu einem einstündigen Gespräch, und der Schwier-Gegner kündigte sein Veto an. Da entschloß sich Kleiner seinerseits zur Machtprobe, »ob über Personalfragen im Kultusministerium der Minister und der Staatssekretär oder der Vorsitzende des 'AK 13' entscheidet«.

Doch obwohl Kleiner den Konflikt geradezu suchte, schien Schwier Glück zu haben. Das Problem löste sich sozusagen von selbst.

Als Schwier die Sache ins Kabinett brachte, lehnten der Innen- und der Finanzminister es ab, einem Frühpensionär Heermann mit einem Dienstvertrag die Bezüge aufzubessern. Schwier zog die Kabinettsvorlage zurück, und weil Heermann im Amt blieb, konnte die Rätin Sebbel nicht befördert werden.

Doch wieder irrte Schwier. Aber während das Abiturthema von seinem Gegner Dammeyer wiederbelebt worden war, verdarb ihm diesmal sein Freund Kleiner das Konzept.

»Persönlich-vertraulich« schrieb der Staatssekretär einen Brief an Rau und verlangte seine Entlassung: »Ich befinde mich nicht mehr in der nach dem Beamtengesetz erforderlichen Übereinstimmung mit der Politik der Landesregierung im Schulbereich.« Einer der Gründe: Frau Sebbel biete »die Gewähr dafür, daß eine Schulpolitik umgesetzt wird, die die Mehrheit der Bürger des Landes wünscht... Wenn es politisch nicht durchsetzbar ist, Frau Sebbel zur Abteilungsleiterin zu ernennen, dann gilt das offenbar auch für diese Politik.«

Kleiner hatte selbst sein politisches Schicksal besiegelt. Rau schickte ihm noch eine »Richtigstellung«, unter anderem darüber, daß die Zustimmung der meisten Bürger »zur Schulpolitik dieser Regierung nicht von der Entscheidung einer einzelnen Beamtenpersonalie abhängig ist«. Aber zugleich begaben sich Rau und Schwier auf die Suche nach einem Kleiner-Nachfolger.

In einigen Regionalzeitungen wurde Dammeyer als aussichtsreicher Kandidat genannt, doch er hatte nicht die geringste Chance. Am Freitag vergangener Woche wurde der Ministerialdirigent Friedrich Besch, 50, aus dem Wissenschaftsministerium zum neuen Kultus-Staatssekretär ernannt.

Die nächste Auseinandersetzung ist schon fast terminiert. Gleich nach der Sommerpause wird der Schulausschuß des Landtags über einen Antrag Dammeyers entscheiden, dessen Realisierung ihn zu einem zweiten, dem heimlichen Kultusminister machen würde. Schwier

soll, so der Antrag, verpflichtet werden, künftig den Ausschuß über alle »Übereinstimmungen und entscheidenden Streitpunkte in der Kultusministerkonferenz« zu unterrichten. Mit anderen Worten: Nicht mehr der Minister, sondern die Mehrheit des Ausschusses bestimmt bis ins Detail hinein die NRW-Position in der KMK.

Dazu Kleiner: »Wenn ich nicht schon in den Ruhestand versetzt worden wäre, dann wäre dies ein Grund für mich, um die Entlassung nachzusuchen.«

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