REGIEREN MIT DER PDS?
Ein Rechenbeispiel beschäftigt die Bonner Parteispitzen: Union 41 Prozent, SPD 36 Prozent, Grüne 9 Prozent, PDS 5 Prozent, FDP darunter.
So könnte, wenn sich die Umfragetrends zu Lasten der FDP fortsetzen, das Bundestagswahlergebnis am 16. Oktober aussehen. Was dann?
Helmut Kohl könnte, weil der Koalitionspartner FDP nicht mehr ins Parlament kommt, nicht weiterregieren. Die Wende mit einem Kanzler Rudolf Scharping wäre möglich - aber nur mit Hilfe der PDS.
Darf man so rechnen? Seit am vorletzten Sonntag in Sachsen-Anhalt das FDP-Debakel die Sozialdemokratie zu Debatten über ein linkes Bündnis gegen die Union ermutigt hat, ist zumindest ein Tabu gebrochen.
Die Partei Gregor Gysis, eben noch geächtet als Erbschleicher der SED-Diktatur, ist zum Machtfaktor in Deutschland geworden.
Regieren mit der PDS?
Während unten, im Plenarsaal des Berliner Reichstags, nur ein paar gelangweilte Experten der zähen Verfassungsdebatte folgen, zwängen sich am Donnerstag vergangener Woche immer neue Journalistenteams mit Kameras und Mikrofonen in Gregor Gysis Dachkabuff im vierten Stock. Der Mann ist wieder gefragt. Sein Wort hat Gewicht. Nach dem unheimlichen Aufstieg seiner Partei im Osten der Republik ist der heimliche PDS-Vorsitzende Gysi in die alte Rolle des Medienstars zurückgekehrt.
Vier Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung ist eingetreten, was die westdeutschen Politiker in Bonn, im Überlegenheitsgefühl des Siegers, für unmöglich gehalten haben: Die Nachfolger der SED machen im Bundesdeutschland Politik.
In Städten des deutschen Ostens ist die Gysi-Partei bereits wieder so stark, daß sie Bürgermeister stellt. Bei den vier Landtagswahlen der nächsten Monate in den neuen Ländern dürfte die PDS eine ähnliche Sperrminorität erreichen wie zuletzt in Sachsen-Anhalt, wo sie auf 19,9 Prozent kam und damit nach CDU (34,4 Prozent) und SPD (34 Prozent) drittstärkste Macht wurde.
Die PDS - künftig in der Schlüsselrolle bei jeder Regierungsbildung?
Sei es aus Respekt vor der demokratischen Entscheidung der Ost-Bürger oder nur aus Machtkalkül: An der neuen Partei aus dem Osten kommen die Bonner nicht mehr vorbei. Gregor Gysi hat die Koalitionslogik der Volksparteien durcheinandergebracht.
Der erste, der es offen aussprach, war vorige Woche Gerhard Schröder.
Die SPD müsse nach der Wahl in Sachsen-Anhalt die PDS »zwingen, Verantwortung zu übernehmen, damit sie auch vor den Wählern zu stellen ist«, verlangte der niedersächsische Ministerpräsident im Präsidium seiner Partei.
Im Klartext: Die Magdeburger Sozialdemokraten sollten mit Honeckers linken Erben koalieren und gemeinsam mit Bündnis 90/Die Grünen (5,1 Prozent) die abgewählte CDU/FDP-Regierung ablösen.
»Leute, ihr dürft die PDS nicht in eine Oppositionsrolle bringen, aus der heraus sie uns treiben kann«, mahnte der Machtmensch aus Hannover die Genossen.
Vielleicht ließe sich die ungeliebte Partei auf frischer Tat blamieren. Man könne ja, empfahl der gerissene Schröder, der PDS das Sozial- oder Wohnungsbauressort anvertrauen.
Die Sozialdemokraten müßten Wählern und Mitläufern der Ostpartei »ein Integrationsangebot« unterbreiten. Geboten sei Offensive: »Die Volksfrontdiskussion kriegen wir so oder so. Dann macht doch Nägel mit Köpfen und bindet die Leute ein.«
Schröder blieb allein. Doch sein kühner Vorstoß wie auch der anschließende Beschluß der SPD-Oberen, in Magdeburg eine rot-grüne Minderheitsregierung zu wagen, zeigen: Der Wahlsonntag im kleinen, armen Sachsen-Anhalt hat ungeahnte Bewegung in die politische Szenerie Deutschlands gebracht.
Der Niedergang der FDP und der Aufstieg der PDS haben Willy Brandts Vision von 1982, es könne eine Mehrheit »diesseits der Union« geben, real werden lassen - wenigstens rechnerisch und ganz anders, als Brandt es sich damals dachte.
Gerade hatte es noch so ausgesehen, als steuere Helmut Kohl nach der geglückten Präsidentenkür und der halbwegs erfolgreichen Europawahl seinem vierten Kanzlerwahlsieg entgegen - beflügelt durch wirtschaftliche Aufwinde, allenfalls gebremst durch den Einbruch des liberalen Koalitionspartners.
Viele Sozialdemokraten hatten schon resigniert. Wenn überhaupt an die Macht, dann nur in einer Großen Koalition, haderten sie - voreilig.
Nun, so bleute SPD-Vize Oskar Lafontaine Montag früh seinem Parteifreund Reinhard Höppner ein, sei es Zeit für einen »Neubeginn«. »Wir setzen jetzt dem ewigen Trend, daß Kohl und die CDU nicht wegzukriegen seien, einen ganz bewußten Stopp entgegen« - den Machtanspruch einer rot-grünen Minderheitsregierung.
Der Präsidiumsrunde war jedoch bewußt: Was der Niedersachse Schröder zusätzlich als Konter verlangte, nämlich das gesamte linke Lager aus SPD, PDS und Grünen zu einer knappen Zweidrittel-Phalanx gegen die Konservativen zu bündeln, würde die Sozialdemokraten der schwersten Zerreißprobe der Nachkriegszeit aussetzen. Volksfront - das ist auch für die SPD ein Teufelswort.
»Es wird mit der PDS keine Gespräche, keine Vereinbarungen, keine Verhandlungen, gar nichts geben. Punkt, Schluß« - so wies Rudolf Scharping denn auch seinen Widersacher Gerhard Schröder zurück. Doch das »Gespenst der Volksfront« (Scharping) aus Sozialdemokraten und Kommunisten ist nicht mehr zu bannen.
Die PDS schmeißt sich überall ran, wo sie die Chance vermutet, sich als Mehrheitsbeschaffer wichtig zu machen.
Als in Berlin vorletzte Woche die SPD drohte, den rechtslastigen CDU-Senator Dieter Heckelmann zu stürzen und damit die Große Koalition zu sprengen, erklärte die PDS-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, logo, sie werde den Antrag unterstützen. Die SPD zuckte vor der »Hilfe der Kommunisten« zurück, wie CDU-Fraktionschef Klaus-Rüdiger Landowsky theatralisch beklagte. Heckelmann bleibt (SPIEGEL 26/1994).
Ähnliches könnte auch in Magdeburg passieren: Wenn sich der SPD-Kandidat Höppner als Ministerpräsident einer rotgrünen Minderheitskoalition zur Wahl stellt, würden die PDS-Genossen ebenfalls den Arm heben. So bekommt der Sozialdemokrat schon im ersten Wahlgang seine absolute Mehrheit - und den Ruf weg, ein Kommunistenknecht zu sein.
Das Dilemma der Sozialdemokraten ist der anhaltende Erfolg der PDS unter den Ostdeutschen (siehe Seite 28). Nach der Niederlage gegen den Einheitskanzler im Jahr 1990 sieht sich die SPD in ihrer Hoffnung enttäuscht, die ostdeutschen Verlierer der Vereinigung sammeln und die PDS mit Nichtbeachtung und dem Aufkleber »SED-Nachfolgerin« kurzhalten zu können.
Zwar verzeichnen die Sozialdemokraten inzwischen ordentliche Stimmengewinne, aber mit 25 000 Mitgliedern mangelt es ihnen an der notwendigen Gefolgschaft. Und auch die Bündnis-Grünen erreichen im Osten nicht annähernd ihre westlichen Wahlergebnisse.
Da ist es für die Opposition nur ein geringer Trost, daß die FDP, die sich wie die Union ungeniert die Blockflöten der SED einverleibt hatte, östlich der Elbe inzwischen zur wahren Splitterpartei abgesunken ist und auch die Union auf Normalmaß herunterkommt. Denn solange die PDS reüssiert, scheint den Rot-Grünen der Weg zur Wende in den neuen Ländern verbaut.
Es sei denn, sie suchen den Pakt mit den real existierenden Post-Sozialisten. Doch das linke Liebäugeln im Osten bringt schon jetzt die bürgerlichen Kommentatoren in Westdeutschland zum Schäumen.
Einen »Amoklauf« der SPD an die Macht befürchtet die Süddeutsche Zeitung nun auch für Bonn. Ebenso die FAZ: »Verlogen« sei das Werben Scharpings und »schamlos« die Wahl der Mittel, in Wahrheit wollten die Sozialdemokraten die PDS als »stille Teilhaberin an der Macht«.
So ist es recht. Helmut Kohl hielt Scharping sofort an dessen Vorwahlspruch fest, wer glaube, daß sich etwas mit der PDS verbessern lasse, der sei »auf dem Holzweg, das wird nicht geschehen«. Scharping hätte, wenn das Geplänkel mit der PDS vorher bekannt gewesen wäre, ein schlechteres Ergebnis bekommen, glaubt der Kanzler.
Nun will Kohl es dem Gegner besorgen: Eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Duldung durch die PDS sei offenbar »der Modellfall für Bonn«, rügte der CDU-Chef im ZDF.
Vor allem Wolfgang Schäuble, der Fraktionschef der Union, hat auf diese Polarisierung nur gewartet. In der vorigen Woche nannte er jegliches Zusammenspiel von SPD und PDS einen »unglaublichen Skandal in der deutschen Politik« - so, als hätte die Union in ostdeutschen Kommunen und Landkreisen noch nie die Hilfe der früheren Einheitssozialisten in Anspruch genommen.
SPD-Vize Oskar Lafontaine konterte am Mittwoch abend auf einem SPD-Parteitag in Saarbrücken. Von wegen »Volksfront": Helmut Kohl sei der »Enkel Honeckers«, schließlich habe die CDU die christlichen Blockflöten der verflossenen DDR vereinnahmt.
Er habe es »einfach satt«, schimpfte SPD-Oberossi Wolfgang Thierse, sich von der mit Ost-CDU und Bauernpartei fusionierten Union über »unser Verhältnis zur PDS« belehren zu lassen: »Das ist heuchlerisch.« Auch deshalb sei es höchste Zeit, mit Rot-Grün in Magdeburg zu zeigen, daß es »eine Möglichkeit gibt, jenseits der CDU zu regieren«.
Dreieinhalb Monate vor der Bundestagswahl rückt so ein emotionsgeladenes Thema in den Mittelpunkt, das für den heißen Wahlkampf kaum Gutes verspricht: Wie geht man um mit der dunklen Vergangenheit Ostdeutschlands?
Sind die Mitglieder und Wähler der zur PDS mutierten einstigen Staatspartei SED verfassungsfeindliche Kommunisten, mit denen es keine Berührung geben darf? Haben sich demgegenüber die beflissenen Helfer der SED in den DDR-Blockparteien binnen vier Jahren schon deshalb in brave Demokraten verwandelt, weil sie von den Westparteien CDU und FDP geschluckt wurden?
Einig sind sich die Spitzengenossen, daß eine falsche Entscheidung in Magdeburg die Chancen auf Machtgewinn in Bonn vollends auf Null bringen kann. Einig ist sich die Führung auch, die PDS so schnell wie möglich überflüssig zu machen. Doch über den rechten Weg dahin wird gestritten.
Frisch ist bei vielen Sozialdemokraten noch die Erinnerung an die konservative Hetzparole »Freiheit statt Sozialismus«.
Deshalb überraschte viele Sozialdemokraten, daß auch Parteichef Scharping das rot-grüne Abenteuer an der Elbe mitmacht. Seine treuen Anhänger aus dem Traditionsklub der »Seeheimer« empörte der Schwenk des Vorsitzenden. Der Kandidat könnte mit seinem riskanten Angebot die bürgerliche Mitte verschrecken, die er bislang so hartnäckig umworben hat.
Gewiß, der Griff nach der Macht in Magdeburg steht in Einklang mit Scharpings stereotyper Absage an eine Große Koalition in Bonn. Aber was ist mit seiner Weisung, vor der Bundestagswahl alle rot-grünen Spekulationen zu unterlassen?
Hat nicht das angepeilte Minderheitsbündnis mit den Alternativen jene »Signalfunktion« (Grünen-Vorstandssprecher Ludger Volmer), die Scharping bisher zu vermeiden suchte?
Unmittelbar nach der Wahl legte SPD-Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen in Gesprächen mit seiner Grünen-Kollegin Heide Rühle, vor allem aber mit Oberöko Joschka Fischer den Grundstein für das Magdeburger Modell. Der freute sich: »Jetzt kommt Schwung in die Sache, jetzt können die Handschuhe ausgezogen werden.«
Die Freude teilen Fischers Parteifreunde aus dem Osten nicht so ganz. Die aus der Bürgerrechtsbewegung kommenden Politiker vom Bündnis 90, voran Marianne Birthler und der Bonner Fraktionsmanager Werner Schulz, können sich nur schwer vorstellen, daß sich eine »Reformkoalition« vom Wohlwollen der SED-Nachfolgepartei abhängig machen könnte. Das Magdeburger Duldungsbündnis würde einen »deutlichen Mobilisierungseffekt« bewirken, so Schulz, aber »nicht für, sondern gegen Rot-Grün«.
Eine vorsichtige Anfrage des Genossen Verheugen, ob sich die Alternativen vielleicht auch für einen Dreierbund mit SPD und Union erwärmen könnten, stieß auf spontane Ablehnung. Schwarz-Rot-Grün werde es, so Fischer,"nicht geben, solange ich bei den Grünen was zu sagen habe«.
Scharping gab eine Losung aus, die seine bislang zur Schau getragene Aversion gegen Rot-Grün beinahe schon vergessen läßt, zugleich aber noch eine Tür für eine Koalition mit denen in Magdeburg offenhält: »Unter den Demokraten haben SPD und Grüne eine Mehrheit. Die CDU kann nur eine Mehrheit bekommen, wenn ihr die SPD dabei hilft. Bevor die SPD das tut, soll sie herausfinden, ob sie selbst eine Mehrheit findet« - ohne CDU und ohne PDS.
Für alle Fälle, sollte SPD und Grüne doch noch der Mut verlassen, hatte Vize Thierse im Präsidium bereits eine Auffangposition empfohlen, die »israelische Lösung«. Nach dem Vorbild des Sozialdemokraten Schimon Peres und des Likud-Politikers Jizchak Schamir in den Jahren 1984 bis 1988 sollten sich in Magdeburg der Konservative Christoph Bergner und der Sozialdemokrat Reinhard Höppner das Regierungsamt für je zwei Jahre teilen.
Doch der mächtige Lafontaine ist für halbe Sachen nicht zu haben. »Das Thema Große Koalition hat sich durch die Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler erledigt«, erklärt er bündig. Auch durch die der PDS: »Wir dürfen sie nicht ausgrenzen.«
In der Parteizentrale der PDS im Berliner Karl-Liebknecht-Haus können die Strategen die Entwicklung gelassen abwarten. Wenn nicht in Magdeburg, dann klappt es vielleicht bei der nächsten Landtagswahl oder der übernächsten.
PDS-Vorstandsmitglied Andre Brie sieht für seine das Außenseiterdasein gewohnten Parteifreunde ein ganz neues »Problem": »das der Macht«.
Von seiner Partei würden bald »landes- und bundespolitisch neue Kompetenzen« erwartet, denen die Nischen-Partei bislang nicht gewachsen sei.
Der einstige SED-Musterschüler verspricht: »Das wird sich in kürzester Zeit ändern.« _(* Bei einer Kranzniederlegung am ) _(Karl-Marx-Denkmal in Berlin (l.); bei ) _(einer Veranstaltung gegen den ) _(Abtreibungs-Paragraphen 218 im Juni 1992 ) _(in Bonn. )
PDS-Taktiker Gysi (beim Europa-Wahlkampf in Duisburg): An der Macht aus dem Osten kommen die Bonner nicht vorbei
Rivalen Scharping, Schröder »PDS nicht ausgrenzen«
Unions-Wahlkämpfer Schäuble »Unglaublicher Skandal«
Bislang unbekannter Michelangelo in Magdeburg entdeckt
tz, München
PDS-Herold Gysi, Genossen*: Hüter des Ost-Erbes
Demonstranten Gysi, Modrow*: Andere
Zeiten, andere Koalitionen
Volksfront - das ist auch für die SPD ein Teufelswort
Wolfgang Schäuble hat auf diese Polarisierung nur gewartet
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__25_ PDS: Hochburgen im Osten
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* Bei einer Kranzniederlegung am Karl-Marx-Denkmal in Berlin (l.);bei einer Veranstaltung gegen den Abtreibungs-Paragraphen 218 imJuni 1992 in Bonn.