PSYCHOLOGIE Rein einfühlungsmäßig
Im Untersuchungsgefängnis beim Bonner Landgericht - Zelle 115 - sitzt ein Mann ein, der sich Robert Schneider nennt, 37 Jahre alt zu sein behauptet, und der bisher die Öffentlichkeit glauben machte, er sei Doktor der Medizin und beider Rechte. Er war nach Bestallungsurkunde und Stellenplan - Stabsarzt und Chefpsychologe der Bundeswehr.
Wie vielfältig das Sündenregister dieses Schneider beschaffen ist, wird sich erst vor Gericht herausstellen. Fest steht dagegen heute schon, daß die Gehlen-Epigonen in der Unterabteilung »Militärischer Abschirmdienst« (MAD) des Verteidigungsministeriums das beklemmende Gefühl nicht loswerden, monatelang an exponierter Stelle einen Sanitätsoffizier übersehen zu haben, der sich unbescheidenerweise gleich eine zweifache Doktorwürde anmaßte und - weit schlimmer noch - im Verdacht steht, nachrichtendienstliche Beziehungen zum Osten unterhalten zu haben.
Was aber die Ministerialsoldaten - die Abschirm- und die Personal-Experten - am meisten geniert: Dem Robert Schneider ist in den Diensten der Bundeswehr eine Posse gelungen, die nicht nur der Köpenickiade des Schusters Wilhelm Voigt gleichkommt, sondern die sogar den Verdacht erregt, in der Bonner Ermekeilkaserne sei nichts mehr unmöglich.
Dieser vermeintliche Doppeldoktor war gerade durch die Maschen des Testverfahrens geschlüpft - das im Verteidigungsministerium ausgetüftelt wurde, um dunklere Seelenwinkel der Offizieraspiranten abzuleuchten -, als er auch schon, mit dem Segen seines Ministers wohlversorgt, zum amtlichen Interpreten und Dirigenten eben jenes Prüfungsverfahrens avancierte.
Es war im Mai vorigen Jahres, als der eben frisch bestallte Stabsarzt Schneider - geboren in Österreich - bei der Annahmestelle der Bundeswehr am Bonner Wilhelm-Spiritus-Ufer Nummer 5 seinen Dienst antrat. Schneiders Dienststellung: Prüfungsoffizier für Bewerber der militärärztlichen Laufbahn und Psychologischer Gutachter für alle Laufbahnen.
Schon damals entfaltete der unscheinbare, aber von den Sekretärinnen seiner Dienststelle stets geschätzte Schneider eine rege Tätigkeit, und zwar auch auf Gebieten, die nicht unmittelbar zu seinem Aufgabenbereich gehörten. Er sorgte beispielsweise dafür, daß jene Schreibdamen der Annahmestelle, denen er besonders herzlich zugetan war, in das Verteidigungsministerium hinüberwechseln konnten - wie es damals schien, um sie beruflich zu fördern. Dabei vergaß der rührige Doppeldoktor nicht, sich selber auch ein wenig Förderung angedeihen zu lassen. Öfter als dienstlich vertretbar mimte Schneider in den Vorzimmern und schließlich auch hinter den ledergepolsterten Türen der Ermekeilkaserne den großen Psychologen.
Dieser Aufwand zahlte sich alsbald aus. Schon sechs Wochen nach seinem Dienstantritt am Bonner Wilhelm-Spiritus-Ufer glückte dem charmierenden und antichambrierenden Stabsarzt der Sprung nach Köln in die zentrale Annahmestelle der Bundeswehr, der alle anderen Annahmestellen nachgeordnet sind. Dort wurde dem Schneider der ehrenvolle Sonderauftrag des Verteidigungsministeriums zuteil, das Prüfungsverfahren der Bundeswehr mittels einer Gebrauchsanweisung für die Prüfer solide zu fundamentieren.
Die Prüfungsmethoden, die bis zu diesem Zeitpunkt von den Annahmestellen der Bundeswehr praktiziert worden waren, hatte eine Frau, Dr. Stephanie Krenn, ausgedacht. Das schien schon Grund genug, den Methoden zu mißtrauen. Daß man die Doktorin als frei schaffende Gutachterin von einem amerikanischen Umerziehungs-Büro ausgeborgt hatte, minderte zudem den Wert ihrer Arbeit. Daß diese Gutachterin aber obendrein im sogenannten Studienbüro des Verteidigungsministeriums Platz fand, brachte die Offiziersoldaten - die Prüfer und die Prüflinge - vollends in Harnisch. Denn dem Studienbüro des Verteidigungsministeriums präsidiert ein Joseph Pfister, der den Krieg als Obersoldat beim Troß unversehrt überlebt hat und schon deshalb keinerlei Hoffnung auf die Gunst erprobter Sturmsoldaten hegen darf.
In der dreifachen Abneigung der altgedienten Krieger gegen die platinblonde Stephanie Krenn, die Amerikaner und den Etappensoldaten Pfister erspähte Stabsarzt Robert Schneider, auf dem Gebiet der angewandten Psychologie durchaus talentiert, seine Chance.
Das Stephanie - Krenn - Verfahren, hatte Bürochef Pfister gemeint, sei sehr geeignet, »die persönliche und charakterliche Eignung der Bewerber objektiv festzustellen«, wenn es nur recht gehandhabt würde, nämlich so: Vier Prüfoffiziere stellen dem Prüfling die mehr oder minder verfänglichen Fragen, die Frau Krenn formuliert hat, und schon entblößt der Prüfling mit seinen Antworten seinen Charakter.
Die schwachen Stellen bei dieser Prozedur waren die Prüfer, denen nicht so ohne weiteres klar war, wie sie die eine oder andere Antwort auszudeuten hätten. Frau Krenn gab ihnen nur hin und wieder »Beurteilungshilfen«, die darüber aufklärten, daß man aus einer negativen Antwort auf die Standardfrage »Wie würden Sie den 20. Juli erklären?« Zivilcourage heraushört, und daß eine positive Antwort auf die Frage »Glauben Sie, daß ein guter Regimentskommandeur fünfzig schlechte Unteroffiziere aufwiegt?« Hochmut verrät.
Stabsarzt Schneider verfertigte nun im Auftrage Theo Blanks, der damals noch amtierte, den Leitfaden für Prüfungsoffiziere«, einen fünfundsechzig Seiten starken Psychologen-Reibert, der im Juli vergangenen Jahres gedruckt und, durch den Verschlußsachen - Vermerk »Nur für den Dienstgebrauch« sowie durch Kennummer gesichert, gegen Unterschrift den Prüfungsoffizieren aller Annahmestellen der Bundeswehr in die Hand gedrückt wurde.
Kein Zweifel, dieser Leitfaden steckt voller brauchbarer Ratschläge. Auch heute noch, da der Verfasser in Untersuchungshaft sitzt, ist man in den Annahmestellen der Bundeswehr voll des Lobes über Schneiders Fibel. Dies um so mehr, als der psychologisierende Medizinmann es sich angelegen sein ließ, die Annahmestellen landauf, landab zu besuchen, um höchstselbst alle Prüfungsoffiziere in zweitägigen Blitzkursen mit der praktischen Handhabung seines Leitfadens vertraut zu machen. Überdies ist die Quote der Fehlurteile bei Neueinstellungen dank jenem Leitfaden inzwischen auf knapp fünf Prozent zurückgegangen.
Allerdings: Gewisse Gepflogenheiten des reisebeflissenen »Seelenspions«, wie Stabsarzt Schneider sich selber zu apostrophieren pflegte, hätten aufmerksameren Vorgesetzten dennoch zu denken geben müssen.
Als Dr. Dr. Robert Schneider von einer Annahmestelle zur anderen pilgerte, gab es noch keinen Dienstreiseausweis, mit dem die Soldaten heute ohne Bargeld die Bundesbahn benutzen dürfen. Damals zahlte die Bundeswehr Reisekosten-Vorschüsse, über die hernach abzurechnen war. Obgleich nun der Chefpsychologe der westdeutschen Streitkräfte für seine diversen Reisen den vollen 1.-Klasse-Fahrpreis kassierte, kaufte er nur Arbeiterrückfahrkarten. Was er dadurch an Reisekosten sparte, steckte er in die eigene Tasche.
Das war zweifach krumm, denn Soldaten dürfen nur dann Arbeiterrückfahrkarten lösen, wenn sie von ihrem ständigen Dienstsitz nach Hause fahren oder umgekehrt. Dazu bedarf es außerdem noch einer mit Bundeswehr-Siegel beglaubigten Bescheinigung.
Der ständige Dienstsitz des reisenden Schneider war Köln, aber der Stabsarzt verstand es, gesiegelte Bescheinigungen bei den Annahmestellen zu ergattern, die er inspizierte, so daß er bald zu verbilligtem Tarif kreuz und quer durch die Lande reiste und dafür 1.-Klasse-Spesen kassierte.
Dr. Dr. Schneider zapfte die Staatskasse auch noch auf andere Weise an. Er präsentierte bei seinem Dienstantritt in der Bundeswehr eine von ihm gefälschte Bescheinigung, aus der hervorging, daß er bis zur Einberufung mit seiner Mutter einen gemeinsamen Haushalt in Goslar geführt habe. Prompt bewilligte man ihm Trennungsentschädigung. In Wirklichkeit hatte die Mutter in Wien, der Sohn aber in Goslar gelebt.
Seine Schwäche für Urkundenfälschungen saß so tief, daß er gelegentlich einer Inspektion den kühnen Versuch unternahm, das Dienstsiegel der Annahmestelle in Hannover einzustecken. Er hatte Pech, ein Oberfeldwebel stellte ihn: »Herr Stabsarzt, den Stempel wollen Sie doch nicht mitnehmen?«
Konterte der Chefpsychologe blitzschnell: »Ich wollte nur mal sehen, ob Sie aufpassen.«
Seine Vorgesetzten waren unterdes immer noch sehr zufrieden mit ihm. Der Chef der zentralen Annahmeorganisation in Köln, Oberst Lassen, war froh, endlich einen regelrechten Wehrpsychologen, und zumal einen so pfiffigen, gefunden zu haben. Oft war der Oberst im Verteidigungsministerium getriezt worden: »Lassen, besorgen Sie uns einen Psychologen.« In der Ermekeilkaserne war man nämlich längst darauf aus gewesen, der Doktorin Stephanie Krenn den Stuhl vor die Tür zu setzen, was auch gleich geschah, als Schneider zu hoher Psychologen-Form auflief.
Ob Stephanie Krenn allerdings auch dann hätte gehen müssen, wenn Schneiders »Leitfaden für Prüfungsoffiziere« schon befolgt worden wäre, als Schneider sich bei der Bundeswehr bewarb, erscheint heute ziemlich zweifelhaft, zumal auf der Seite 21 des Leitfadens steht:
»Wenn der Personaloffizier den Eindruck hat, daß der Bewerber bemüht ist, wesentliche Vorgänge, wie Daten des militärischen Werdegangs, Beförderungen, Auszeichnungen usw., bewußt dilatorisch zu behandeln, ist zu empfehlen, daß er in höflicher Form ersucht wird, diesen Vorgang, möglichst komprimiert und von ihm unterschrieben, zu Papier zu bringen. Bei dieser Methode ist der Bewerber dann meist sehr bereit, entscheidende Änderungen in bezug auf seine vorherige mündliche Aussage vorzunehmen.«
Jedoch: Unter der Ägide Krenn blieb es dem Bewerber Schneider erspart, bei seiner Prüfung nach eigenem Rezept »zu Papier zu bringen«, daß
- er schon vor dem Abitur die Schule verlassen mußte, und zwar mit einem Abgangszeugnis, in dem fünf Fünfen standen.
- seine beiden Doktor-Urkunden eigenfabriziert sind,
- das Ausstellungsdatum seiner medizinischen Doktor-Urkunde der Ostersonntag 1945 ist,
- er nicht, wie von ihm erzählt, ledig, sondern geschieden ist,
- er sich in den Jahren 1951 und 1952 nicht, wie von ihm erzählt, in England zwecks Ergänzung seiner medizinischen Kenntnisse aufhielt, sondern in Österreich fünfzehn Monate schweren Kerker (Zuchthaus) wegen Betruges in genau 183 Fällen absaß,
- er nicht, wie von ihm erzählt, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt,
- er unter falschem Titel und Namen als Diplom-Ingenieur Wannstetter eine Scheinfirma aufzog,
- er schließlich eingetragenes Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands in München war.
Daß der Doppeldoktor mittlerweile sein Pöstchen als Chefpsychologe der Bundeswehr verloren hat, ist nun nicht etwa dem »Militärischen Abschirmdienst« des Verteidigungsministerium zu verdanken, der für derartige Rückblenden in die Vergangenheit zuständig ist, sondern allein der Intelligenz einiger Kommunalbeamter in Goslar.
Als Schneider - längst in Uniform und Stabsarztwürden - an seinem letzten Wohnort, nämlich in Goslar, die deutsche Staatsangehörigkeit beantragte, die für jeden Bundeswehr-Soldaten unerläßlich ist, kam bei der Goslarer Kriminalpolizei eine Akte Schneider ans Licht, in der alle jene Ereignisse mit bürokratischer Akribie registriert waren, die den großherzig dahindösenden Abschirmern und Personalreferenten des Verteidigungsministeriums verborgen geblieben waren. In Goslar hatte sich Schneider schon in verschiedenen Berufen versucht, als Kamera-Vertreter, Schuhgroßhändler, Psychiater und Inhaber eines Kindergartens. Seine Devise hatte dabei stets gelautet: »Ich bin doch nicht blöd.«
Es war schließlich ein Namensvetter, der Goslarer Oberstadtdirektor Schneider, der sich kurz entschlossen auf den Weg nach Köln machte, um dem Chef der zentralen Annahmeorganisation, dem Obersten Lassen, einen Wink zu geben. Der Oberstadtdirektor, der intensiv die Zeitung liest, rückte in Köln noch mit einer Spezialinformation heraus, streng vertraulich: Nach den Vermutungen der Kriminalpolizei in Goslar sei der Stabsarzt Dr. Dr. Schneider mit jenem Dr. Schneider identisch, in dessen Gesellschaft der Verfassungsschutz-Präsident Dr. John - laut Wohlgemuth - den Abend des 20. Juli 1954 in Ostberlin verbracht hat.*
Als der Oberst Lassen endlich begriff, was da auf ihn zukam, schlug er in der Ermekeilkaserne Alarm. Vierundzwanzig Stunden später wurde bei der Bonner Staatsanwaltschaft Haftbefehl »wegen hinreichenden Tatverdachts des Betruges und wegen Verdunkelungsgefahr« beantragt. Zu dieser Zeit war Stabsarzt Dr. Dr. Schneider gerade wieder zwecks Inspektion unterwegs, diesmal zur Annahmestelle für Offiziere in Paderborn. Man befahl ihm per Telephon, unverzüglich nach Köln zu kommen. Die Kriminalpolizei faßte Posten. Einige Beamte versteckten sich in den Diensträumen der Annahmezentrale, andere patroullierten vor dem Dienstsitz in Kölns Worringerstraße 11 bis 13.
Robert Schneider aber kam nicht. Nachdem er den Heimreise-Befehl mit »Jawohl« quittiert hatte, rief er ahnungsvoll erst einmal eine jener Sekretärinnen in der Ermekeilkaserne an, die von ihm ins Verteidigungsministerium eingeschleust worden waren. Diese Schreibdame erkundigte sich denn auch sofort »im Auftrage des Ministeriums« telephonisch in Köln nach dem Grund der Rückkehr-Order. Sie erhielt anstandslos die gewünschte Auskunft. Schneider war gewarnt.
Wiederum waren es nicht die militärischen Sicherheitsexperten, sondern die Kriminalpolizisten, die wußten, wo sie den Flüchtigen am ehesten aufgreifen konnten: in der Goslaer Damenwelt. Bereits einen Tag später war sein Unterschlupf dort ausgemacht.
In einem Haus am Goslarer Georgenberg stellten die Kriminalbeamten den Bundeswehr-Chefpsychologen, der gerade Toilette machte. Um ihn herum standen gepackte Koffer, hinter dem Haus parkte ein aufgetankter Volkswagen, der statt des regulären polizeilichen Kennzeichens noch die rote Überführungsnummer trug. Alle Anzeichen deuteten darauf, daß Schneider über die nahe gelegene Zonengrenze hatte ausweichen wollen. Als man ihn abführte, schwor er Stein und Bein: »Das muß ein Irrtum sein.« In der Bonner Ermekeilkaserne zieht der eingestandenermaßen höchst peinliche Fall Schneider mittlerweile Kreise. Der »Militärische Abschirmdienst« bemüht sich eifervoll, alle Soldaten zu registrieren, die unter dem Protektorat des verkappten Stabsarztes in die Bundeswehr eingesickert sind. Der Ministerialdirektor Gumbel, der als Chef der Abteilung III (Personal) ein gut Teil Verantwortung für Schneiders Einstellung trägt, hat es vorgezogen, aus der Visierlinie seines Ministers zu verschwinden und zunächst einmal zur Kur nach Baden-Baden zu fahren.
Dem Bonner Staatsanwalt Schwellnuss obliegt derweil die Aufgabe, Licht in die Affäre Schneider zu bringen. Wie beschwerlich dieses Unternehmen ist, gab der Leiter des Referats III b 6 ("Beschwerden und Disziplinar-Angelegenheiten") im Verteidigungsministerium, Oberstleutnant Schweißhelm zu verstehen: »Vielleicht heißt er noch nicht einmal Schneider. Wir wissen es nicht«
* Dieser Ostberliner Dr. Schneider ist offenkundig ein Phantasiegebilde Wohlgemuths, der ihn als 20.-Juli-Mann und Freund Johns bezeichnet hatte John bestreitet diesen Dr. Schneider je gesehen zu haben Alle Bemühungen des Bundesgerichtshofs der Bundesanwaltschaft der John-Verteidiger und der Gehlen-Organisation, einen Ostberliner Dr. Schneider ausfindig zu machen blieben ergebnislos Die Zeugen im John-Prozeß die zum Verschwörerkreis des 20 Juli gehörten, bekundeten übereinstimmend daß es einen Widerstandsmann namens Dr. Schneider nicht gibt.
Bundeswehr-Chefpsychologe außer Dienst Schneider: »Das muß ein Irrtum sein«
Goslarer Oberstadtdirektor Schneider
Der Abschirmdienst versagte