INTERZONENHANDEL Rein und raus
In der feierabendlichen SPD-Vorstandsbaracke an der Friedrich-Ebert-Allee zu Bonn waren die Schreibtische schon aufgeräumt, als am Dienstagabend letzter Woche die Vorzimmerdame des Partei- und Fraktionschefs Erich Ollenhauer aus dem Bundeskanzleramt angerufen wurde. Ob die Herren Ollenhauer und Wehner, so wollte man wissen, nächsten Tags früh um 10 Uhr ins Palais Schaumburg zur Kabinettssitzung kommen möchten?
Zur gleichen späten Stunde erfuhren per Draht auch die Fraktionsspitzen von CDU/CSU und FDP sowie der Senat von Berlin, daß die Bundesregierung anderntags alle denkbaren Opponenten ihrer bizarren Interzonenhandelspolitik wiederum zum Mitspiel verpflichten wolle: Der gleiche Kreis, der am 30. September die Kündigung des Interzonenhandelsvertrags durch das Kabinett hingenommen hatte, sollte diesmal damit einverstanden sein, daß jene Kündigung rasch wieder aus der Welt geschafft wird.
Am Dienstagvormittag hatte das sogenannte Wirtschaftskabinett* unter Vizekanzler Ludwig Erhard sich von dem Wirtschafts-Ministerialdirektor Dr. Carl Krautwig, der den Interzonenhandel amtlich betreut, sagen lassen müssen, in welche Falle die Bundesregierung mit ihrer Kündigung zu laufen drohe.
Krautwig bot Informationen aus erster Hand. Für ihn hatte der Leiter der Treuhandstelle, Dr. Kurt Leopold, am 15. November in Ostberlin nachgefragt, ob der Hauptabteilungsleiter im DDR-Ministerium für Außenhandel und innerdeutschen Handel, Heinz Behrendt, zu sprechen sei. Behrendt paßte es schon am 17. November, so daß sich Krautwig - begleitet von je einem Beamten des Bonner Verkehrs- und gesamtdeutschen Ministeriums - auf den Weg nach Berlin machte.
Dieses Ost-Abenteuer eines politischen Beamten aus Bonn erschien dem Kanzler Adenauer und seinem Vize Erhard zwingend geboten, nachdem Interzonen-Treuhänder Leopold mehrmals Hiobspost nach Bonn geschickt hatte! Seit er am 30. September - so hatte Leopold berichtet - das Kündigungsschreiben seiner Treuhandstelle in Ostberlin weisungsgemäß an Behrendts Ministerialabteilung übergeben habe, sei von Tag zu Tag deutlicher geworden, daß die Kündigung nicht nur der Zone Nachteile beschert.
Zwar sind die DDR-Planwirtschaftler kaum imstande, die elf Prozent ihres Außenhandels, die sie bisher mit der Bundesrepublik und Westberlin abwikkelten, bis zum Auslauf des gekündigten Interzonenhandelsvertrags auf andere Handelspartner umzudirigieren. Vor allem Stahlspezialitäten, die sie bislang gegen Braunkohle und volkseigenen Treibstoff eintauschten, sind zu diesem Preis anderswo nicht zu haben.
Andererseits aber bot die ausdrückliche Kündigung auch der Zusatzabkommen zum Interzonenhandel, die das Bonner Außenamt durchgesetzt hatte, der DDR genug Handhaben zum Gegendruck:
- Die sowjetzonale
Reichsbahn könnte den Bahnverkehr Deutscher und Westalliierter zwischen Westdeutschland und Westberlin - bislang über Interzonenhandelskonten verrechnet - künftig unter dem Vorwand einstellen, die Verrechnungsbasis fehle;
- über die Ausgabe
von Warenbegleitscheinen für den Güterverkehr zwischen Westdeutschland und Westberlin, die bisher durch Interzonenhandelsabkommen geregelt wurde, könnten künftig Zoneninstanzen nach Belieben befinden.
»Neues Deutschland« frohlockte denn auch aus Ostberlin: »Es gibt also ab 1. Januar auch keine Regelung für die Zahlung für Dienstleistungen (Verkehr usw.) sowohl für den Warenverkehr zwischen Westberlin und Westdeutschland wie für den Warentransport der in Westberlin stationierten Besatzungsorgane und -truppen.«
Handgreiflich demonstrierten die Zonenbehörden die Warenbegleitschein-Not: Die Kündigung war durch Leopold eben ausgesprochen, als Zonenpolizei die Ladung von fünf Lastkraftwagen beschlagnahmte, die von Westberlin nach der Bundesrepublik unterwegs waren. Die Versender hatten, wie bis dahin üblich, den Empfänger der Berliner Waren auf ihrem Begleitschein angegeben, nicht jedoch den Endbezieher - in einem der fünf Beschlagnahme-Fälle den westdeutschen Bundesgrenzschutz.
Unverzüglich fuhr Leopold nach Ostberlin, pochte auf das noch geltende Abkommen und erreichte die Freigabe von vier der fünf Lastwagen-Ladungen. Das Grenzschutzgut liegt heute noch fest.
Der Vorgang regte Leopold zu Reflexionen an, was dem Westberlin-Warenverkehr drohe, wenn erst einmal jene Anlage 9 zum Interzonenhandelsabkommen außer Kraft sein werde, die die Ausgabe der Warenbegleitscheine regelt und ihm, Leopold, noch die Möglichkeit gab einzugreifen.
Einem Ausbau der Berliner Warenbegleitschein-Praxis, etwa detgestalt, daß nur noch bestimmte Waren für bestimmte Empfänger durchgelassen werden, würde dann nichts mehr im Wege stehen. Die Folgen für die Berliner Wirtschaft wären unabsehbar.
Noch trostloser als Leopolds Prognose nahm sich Ulbrichts Rede vor der so- wjetzonalen Volkskammer am 4. Oktober aus, mit der er den Bonnern seine Bedingungen diktierte, falls sie neu kontrahieren wollten: »Das Ministerium für Außenhandel und innerdeutschen Handel der Deutschen Demokratischen Republik ist jederzeit bereit, mit dem Westberliner Senat über Handelsfragen zu sprechen und über Garantien für den normalen Wirtschaftsverkehr zwischen Westberlin und beliebigen Ländern.«
Nicht nur die Trennung Westberlins von der Bundesrepublik, auch die Defacto-Anerkennung der DDR durch Bonn verlangte Ulbricht: »Auch mit Vertretern der Bonner Regierung sind wir bereit, über die Ausweitung des Handels, über den Transport der Waren zu den Handelspartnern Westdeutschlands, soweit dieser Handel über das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik geht, auf gleichberechtigter Grundlage zu verhandeln.«
Von Leopold und seiner Treuhandstelle - die dem amtlichen Bonn die Sorge abnimmt, sich mit Pankow verträglich einzulassen - war bei Ulbricht nicht mehr die Rede. Aber Ulbrichts Beauftragter Heinrich Rau, der Chef des sowjetzonalen Handelsministeriums, gab sich vier Wochen später etwas konzilianter. In einem SPIEGEL-Gespräch legte er einen Verhandlungsköder aus: »Wenn Bonn eine solche Regelung (Fortführung des Interzonenhandels in den bisherigen Zuständigkeiten) wünscht, braucht die westdeutsche Regierung nur die im August dieses Jahres getroffenen Vereinbarungen (die neuen, nach dem - gekündigten - Interzonenhandelsabkommen vereinbarten Warenlisten für 1961) in Kraft zu setzen.«
Das war der Ausweg. Um unabhängig von Leopolds Eindrücken vollends Klarheit über die Lage zu gewinnen, entschloß sich der Bonner Ministerialdirektor Krautwig zu direktem Gespräch mit seinem DDR-Kontrahenten Behrendt aus dem Pankower Handelsministerium. Adenauer und Erhard entließen ihn mit guten Wünschen nach Berlin.
Jedoch, was Krautwigs Ost-Partner Behrendt drei Stunden lang streng vertraulich zu bieten hatte, entsprach durchaus den düsteren Prognosen des Mittlers Leopold.
Die DDR, so offenbarte sich Behrendt, würde die Kündigung als ungeschehen betrachten, aber »bis zum Frühjahr« müsse ein nagelneuer Vertrag ausgehandelt werden, und zwar in völkerrechtlich verbindlicher Form zwischen Vertretern beider Regierungen in Bonn und Pankow. Diesem zwischenstaatlichen Vertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR könne sich das völkerrechtlich selbständige Westberlin als dritte Macht anschließen, so daß zum Beispiel auch die Ausgabe von Warenbegleitscheinen für den Berliner Güterverkehr vertraglich gesichert werden könnte.
Über die Maßnahmen der DDR-Instanzen gegen Berlin, die das Kabinett in Bonn am 30. September zur Kündigung des Interzonenhandels bestimmt hatten, verlor der Ostberliner Behrendt kein Wort.
Trotzdem: Nachdem Kundschafter Krautwig am Dienstag letzter Woche dem Wirtschaftskabinett in Bonn solche Neuigkeiten präsentiert hatte, kamen die Minister überein, dem Vollkabinett neue Verhandlungen über den Interzonenhandel zu empfehlen. Und noch am Abend desselben Tages wurden die Bonner Fraktionsspitzen und der Westberliner Senat für Mittwoch früh zur Akklamation ins Palais. Schaumburg gerufen.
Es versammelte sich die Reserve-Garnitur. Den kranken Kanzler vertrat Vize Erhard, der bei der Kündigung gefehlt und am Telephon vergeblich davor gewarnt hatte. CDU-Fraktionschef Heinrich Krone widmete sich in Gelsenkirchen dem CDU-Kultur-Kongreß. FDP-Major Mende zog eine Wahlversammlung in Saarbrücken dem Gang ins Kanzler-Palais vor, und Berlins »Regierender« Willy Brandt entschuldigte sich aus dem gleichen Grunde, verhehlte aber nicht seinen Unmut darüber, daß die Bonner ihn immer erst zur »gemeinsamen Außenpolitik« laden, nachdem die Politik schon gemacht ist. Acht Wochen zuvor hatte er so die Kündigung mitverantwortet.
Unter Erhards Präsidium beschloß das Bundeskabinett alsdann, gerade so entschieden wie es am 30. September die Kündigung gewollt hatte, von eben dieser Kündigung nun wieder wegzukommen.
In welche Bredouille diese neue rheinische Variation des altmecklenburgischen Bewegungsspiels »Rin in die Kartoffeln - raus aus die Kartoffeln« die Bundesregierung und ihren Treuhänder Leopold gebracht hat, wird daran deutlich, daß Vizekanzler Erhard den Interzonenhändler Leopold angewiesen hat, mit äußerster Geschicklichkeit den Interzonenhandel-Status quo ante wiederherzustellen und solange wie überhaupt nur möglich auszudehnen.
Denn die De-facto-Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik, die nach sowjetzonalen Intentionen mit dem Abschluß eines neuen Handelsvertrages verbunden sein soll, bleibt die einzige. Karte, die der Bundesrepublik beim großen Vierer-Spiel um Berlin im nächsten Jahr einen zählbaren Stich einbringen könnte.
Meinte die »Stuttgarter Zeitung« nicht ohne Scharfsinn: »Wäre es da nicht klüger gewesen, es gar nicht erst zu kündigen?«
* Dem Wirtschaftskabinett (amtlich: Kabinettsausschuß für Wirtschaft) gehören alle Ressortminister, die sich mit wirtschaftlichen Fragen befassen müssen, und der Präsident der Deutschen Bundesbank an. Es berät Wirtschaftsvorlagen, bevor sie dem Bundeskabinett zugeleitet werden.
Interzonenhändler Leopold (l.), Behrendt: Im Frühjahr ein neuer Vertrag?
Süddeutsche Zeitung
Elastische Verhandlungen
Ost-Reisender Krautwig: Es gibt keine Regelung mehr ...
Ulbricht-Beauftragter Rau
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