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ENGLAND / ARMEE Rekruten-Lücke

aus DER SPIEGEL 14/1961

Zwischen Anzeigen für Whisky, Seife und Kopfschmerztabletten strahlt das britische Werbefernsehen seit kurzem eine besondere Art von Werbespots aus: heitere Aufforderungen an Englands männliche Jugend, sich freiwillig zum Militärdienst Ihrer Britischen Majestät zu melden.

Mit dieser auf die Empfehlung eines renommierten Reklamefachmanns für Sodawasser zurückgehenden Maßnahme sucht die britische Regierung eine Entscheidung zu vermeiden, die auf Englands Wähler schockierend wirken müßte: die Wiedereinführung der Wehrpflicht.

Dieser Schritt scheint unvermeidlich, wenn es Sir Frederic Hooper, dem vom britischen Verteidigungsministerium angeheuerten Reklamechef, nicht gelingt, bis zum nächsten Jahr die Rekruten-Lücke zu stopfen, die durch die im Jahre 1957 beschlossene Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht entstanden ist.

Die letzten im vergangenen Jahr eingezogenen Wehrpflichtigen werden 1962 entlassen, und Militärsachverständige bezweifeln, daß Großbritannien danach eine Armee von 180 000 Mann aufstellen kann. Dies ist nämlich die Zahl, die von Englands Generalität in einem Gutachten als »absolutes Minimum« für ein künftiges Berufsheer angegeben wurde.

Selbst die von der Regierung in Aussicht genommene Heeresstärke von 165 000 Mann scheint in Frage gestellt, denn steigender Wohlstand und gut dotierte Arbeitsplätze in der Industrie haben in den letzten Jahren zu einem merklichen Rückgang der Freiwilligenmeldungen geführt.

Anfang dieses Jahres wurde zudem offenbar, daß die Stärke der englischen Landesverteidigung von einem weiteren Übel bedroht ist, das den geheiligten Traditionen der britischen Armee entspringt. Die frisch angeworbenen Freiwilligen machen immer häufiger von einem noch aus dem 18. Jahrhundert stammenden Privileg Gebrauch und kaufen sich innerhalb ihrer ersten drei Dienstmonate gegen Zahlung von 20 Pfund (etwa 225 Mark) vom Kasernenhof wieder frei.

In der Zeit vom Oktober 1959 bis zum September 1960 hinterlegten 13,7 Prozent der Freiwilligen, die sich auf mindestens sechs Dienstjahre verpflichtet hatten, diese Summe. Von den 14 600 Mann, die in diesem Zeitraum angeworben wurden, kehrten insgesamt 3129 der Armee wieder den Rücken; mehr als 2000 machten von ihrem Freikaufrecht Gebrauch, der Rest wurde aus gesundheitlichen Gründen entlassen.

»Die Armee ist über diesen Mannschaftsschwund ernsthaft besorgt«, konstatierte die Londoner »Times«. »Nicht allein die Rekrutierung ist zu gering, um dem Berufsheer die vorgesehene Stärke zu geben, jeder fünfte Rekrut erweist sich auch als dienstunwillig oder dienstunfähig.«

Obgleich Heeresminister John Profumo diese Entwicklung, bei der Englands Armee jährlich sieben Prozent ihrer Gesamtstärke einbüßt, vor dem Unterhaus als »sehr ernst« bezeichnete, fand sich kein einziger der Abgeordneten bereit, den Rekruten das traditionelle Freikaufrecht streitig zu machen.

»Solange ein Soldat wegen schimpflichen Verhaltens aus der Armee ausgestoßen werden kann«, kommentierte bereits das britische Heereshandbuch aus dem Jahre 1869, »muß das Freikaufrecht bestehenbleiben. Sonst werden die Rekruten, die nun einmal

glauben, es beim Militär nicht mehr aushalten zu können, zu militärischen Delikten geradezu verleitet.«

Vor dem Unterhaus dozierte Profumo: »Wenn ein Mann erkennt, daß sein Eintritt in die Armee ein Fehler war, ist es besser, ihn wieder gehen zu lassen. Wir brauchen Männer, die gern Soldaten sind.«

Profumos Sorge bezog sich vor allem auf die Neulinge, denn nach dreimonatiger Dienstzeit erlischt das automatische Freikaufrecht. Zwar können auch länger gediente Soldaten ihren Austritt aus dem Heer beantragen, sie müssen dann aber - je nach Dienstzeit - Beträge bis zu 3000 Mark zahlen; außerdem liegt die Genehmigung des Antrags im Ermessen ihres Kommandeurs. Anträge dieser Art werden daher selten gestellt.

Weshalb die Zahl der Freikäufe so ungewöhnlich gestiegen ist, erläuterte der Militär-Experte der »Times": »Wer sich freiwillig meldet, ist oft geistig nicht sehr rege und auch recht einfältig.«

Die bis zum vergangenen Jahr eingezogenen Wehrpflichtigen seien, so schrieb das Blatt, im allgemeinen intelligenter gewesen; die Ausbilder hätten sich an diesen Intelligenz-Rückschritt noch nicht gewöhnen können. Viele Freiwillige fühlten sich deshalb überfordert und gäben auf.

Andere junge Männer hätten sich mit ihren Eltern nicht allzu gut verstanden und seien deshalb in die Kaserne geflüchtet. Aber: »Eine Versöhnung mit Daddy«, witzelte Minister Profumo, »ist bequemer als die Unterwerfung unter die strenge Heeresdisziplin.«

Die schwindende Mannschaftsstärke der britischen Armee veranlaßte einige konservative Unterhausabgeordnete, darunter zwei ehemalige Minister, von der Regierung die Einführung einer selektiven Wehrpflicht zu fordern.

Diese Möglichkeit hatte sich das Kabinett Macmillan bereits 1957 offengelassen, als es die unpopuläre allgemeine Wehrpflicht aufhob. Damals erklärte Profumos heutiger Ministerkollege Duncan Sandys, seinerzeit Verteidigungsminister, in einem Weißbuch: »Die einzige praktisch anwendbare Form eines selektiven Wehrdienstes wäre die der Auslosung; dazu würde sich die Regierung jedoch nur entschließen, wenn ihr keine Alternative bliebe.«

Der Punkt ohne Alternative schien nun erreicht zu sein. Britische Militär-Experten errechneten bereits, daß ab 1963 unter den dann etwa 410 000 bis 530 000 Mann zählenden Jahrgängen der Achtzehn- und Neunzehnjährigen rund 20 000 bis 30 000 Wehrpflichtige jährlich für den Dienst in der Armee ausgelost werden müßten, um die Rekruten-Lücke zu schließen.

Die Labour Party schlug indessen vor, Englands militärische Verpflichtungen in Übersee zu verringern und die britischen Truppen aus Hongkong, Singapore und Malaya zurückzuziehen; der Labour-Abgeordnete Richard Crossman hatte ihre dortige Stationierung als »Größenwahn« bespöttelt. Sein Fraktionskollege Emanuel Shinwell, ehedem selbst Verteidigungsminister, empfahl sogar, zum Ärger der Konservativen, eine Reduzierung der 55 000 Mann zählenden britischen Rheinarmee.

Heeresminister Profumo begnügte sich jedoch zunächst damit, die Forschungsstelle der Armee (Army Operational Research Group) mit der Untersuchung der abnorm hohen Freikaufzahlen zu beauftragen. Außerdem stellte er »Sondervorkehrungen« in Aussicht, falls sich künftig die Zahl der Freiwilligen trotz der Bemühungen seines Reklamechefs Hooper nicht erheblich vergrößern sollte.

Mit den »Sondervorkehrungen« war offenkundig die selektive Wehrpflicht gemeint, bei der über die Einberufung zum aktiven Dienst das Los entscheidet; sie wird heute bereits in den USA und auch in der Bundesrepublik praktiziert.

»Wenn die Regierung einen Gesetzentwurf über die selektive Wehrpflicht vorlegt«, unterstützte der sozialistische Einzelgänger Oberst George Wigg den bedrängten Heeresminister, »werde ich die Labour Party verlassen und für die Vorlage stimmen.«

Britischer Heeresminister Profumo

... für 20 Pfund

Reklametexter Hooper

Rekrutenwerbung im Fernsehen

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