LIBANON Religiöses Patt
Durch die Rue de l'Hôpital grec catholique im Beiruter Christenviertel Aschrafie klangen nächtens ungewohnte Schlagerklänge. »Keine Nacht«, so plärrte es auf deutsch vom Plattenspieler, »keine Nacht kann ich schlafen.«
Es war bittere Wahrheit für die 800 000 Bewohner der libanesischen Hauptstadt. Neun Tage lang trauten sie sich nicht auf die Straße, neun Nächte lang raubten ihnen das Geknatter von MGs und MPs, Einschläge von Raketen den Schlummer.
Aus fahrenden Autos wurden verstümmelte Leichen geworfen, Rotkreuz-Fahrzeuge und Ärztewagen flogen in die Luft. Bilanz: Hunderte von Verletzten, weit über hundert Tote, häufig harmlose Passanten wie etwa Joseph Chajjat aus dem Stadtteil Am Rummana, der sich nur schnell aus dem Haus gewagt hatte, um für sich und seine Familie beim letzten noch arbeitenden Bäcker der Stadt Brot zu besorgen.
Wieder einmal stand der Libanon, 31 Jahre nach Erreichung seiner Unabhängigkeit, vor dem Bürgerkrieg. Die Regierung trat zurück, erstmals, wenn auch nur für drei Tage, kamen Militärs an die Macht. Die Straßenkämpfe ließen erst nach, als Mitte vergangener Woche der sunnitische Moslem Raschid Karame, zum neunten Mal in seiner politischen Laufbahn, die Regierungsbildung übernahm.
Doch die Gegensätze sind damit nicht ausgeräumt. Extremisten der beiden stärksten Bevölkerungsgruppen können jeden Tag wieder aneinandergeraten: Schwerbewaffnete Kämpfer der paramilitärisch organisierten libanesischen Falange ("el-Kataïb") des rechtslastigen maronitischen Christen Pierre Gemayel auf der einen, auf der anderen Seite linke Moslems und junge Fedajin aus radikalen Palästinenser-Organisationen.
Spannungen und blutige Auseinandersetzungen zwischen Christen und Moslems gibt es nicht erst, seit die 1970 von Jordaniens König Hussein verjagten Palästinenser in libanesischen Lagern Aufnahme fanden. Der Zwist ist programmiert seit der Staatsgründung 1943, als per mündlicher Übereinkunft eine Art religiösen Patts auf Dauer festgelegt wurde und Konfessionsgruppen, nicht politische Parteien zu Trägern des Staates wurden.
Christen (Maroniten, armenische. griechisch-orthodoxe, griechisch- und römisch-katholische) und Moslems (Sunniten, Schiiten, Drusen) einigten sich damals in dem Land, in dem laut der Bibel Milch und Honig fließen, darauf, daß der Staatschef stets Maronit, der Premier Sunnit, der Tourismus-Minister etwa stets Armenier und das Parlament jeweils entsprechend der Stärke der Hauptkonfessionen und Sekten besetzt sein muß.
Die Regelung geriet jedoch zum permanenten Sprengstoff. Denn die letzte Volkszählung liegt 52 Jahre zurück und wird seither nur durch willkürlich anmutende Schätzungen ersetzt.
Schon 1958 zweifelten die Moslems an den Zahlen und forderten ultimativ mehr Macht. U. 5. Mannes, vom Präsidenten Eisenhower an die Strände des Zedernlandes entsandt, eilten daraufhin dem vom Bürgerkrieg bedrohten Amerika-Freund und Christen-Präsidenten Camille Schamun zur Hilfe.
Eine Volksschätzung von 1968 gewährt den Christen im 99köpfigen Parlament derzeit mit 53 Sitzen das Übergewicht -- zu Unrecht, wie die Moslems glauben, denn nach ihren Annahmen liegt der Anteil der Moslem-Gemeinde inzwischen bei 60 Prozent. Ungeachtet der Vereinbarung von 1943 war denn auch der neue Moslem-Premier Karame entschlossen, bei den Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr zu kandidieren.
Zusätzlich wird das Verhältnis zwischen Christen und Moslems im Libanon dadurch belastet, daß extreme Vertreter des einen oder anderen Glaubens ihr Nationalbewußtsein aus unterschiedlichen Quellen speisen.
Etliche Christen fühlen sich als die Erben der mediterran orientierten Phönizier. »Es ist mehr als symbolisch«, argumentiert beispielsweise der dichtende Maroniten-Professor Saïd Akl, »daß der Name Europa aus dem Libanon stammt.«
Für die Befürworter eines arabischen Nationalismus hingegen beginnt die Geschichte des Libanon erst mit dem Islam. Für Omar Farruh, Schriftsteller und Geschichtsprofessor, steht fest: »Es gibt keine libanesische Kultur. (Sie) ist eine französisch-christliche Kultur. Wir glauben, daß wir, die wir hier im Libanon wohnen, Araber sind.«
Das wollen die Christen keinesfalls sein. Ihre Extremisten -- eben die Falangisten -- schießen sich mit den Moslems vorgeblich für die Souveränität des Libanon -- in Wahrheit wohl mehr für ihr eigenes Überleben. Denn mit den Palästinensern kamen Ideen vom panarabischen Sozialismus ins Land. Und das wäre tödlich für die nach spanischem Muster auf Gott, Familie, Vaterland eingeschworene Kataïb.
Christen-Präsident Suleiman Frandschie wußte, daß die Berufung der Militärs -- obwohl sie sich weitgehend aus den Straßenkämpfen herausgehalten hatten -- eine Provokation gegen die Moslems war, denn die Offiziere sind überwiegend Christen.
Als General Rifai, 76, nach 70 Stunden den Weg freigab für den Moslem Karame, war damit freilich noch nichts gelöst. Denn während er -- voraussichtlich zeitraubend und mühselig -- um die Kabinettsposten verhandelt. führen die Militärminister weiter die Geschäfte. Und mindestens so lange wird in den Straßen der Nahostmetropole Beirut wohl noch geschossen werden.