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Renten-Defizit: Warten auf das Wunder

Die Berliner Blamage in Sachen innere Sicherheit ist noch nicht vergessen, da machen sich Zweifel an der sozialen Sicherheit breit: In der Rentenkasse fehlen ausgerechnet im Wahljahr zehn Milliarden Mark, und das Defizit wird noch wachsen. Der einst so erfolgreiche Sozialminister Arendt verliert zusehends an Prestige.
aus DER SPIEGEL 30/1976

Eigentlich sollte das Thema den Sozialdemokraten Wählerstimmen eintragen. Jetzt jedoch hat die Opposition den Hit vereinnahmt: Die Rentenversicherung liefert nun den Christdemokraten unverhofft Munition gegen die Regierenden.

11,5 Millionen Senioren der Nation, denen Arbeits- und Sozialminister Walter Arendt zum 1. Juli eine elfprozentige Rentensteigerung beschert hatte, waren angesprochen, als die Christdemokraten jetzt eine düstere Rechnung aufmachten: Wenn die Leistungen der Rentenversicherung nicht zurückgeschraubt oder die Beiträge nicht erhöht würden, dann, so prophezeiten sie übereinstimmend mit angesehenen neutralen Fachleuten, sei ein 15-Milliarden-Defizit in den Altenkassen unvermeidlich.

Das spröde Thema Renten war mit einem Mal zum Wahlschlager geworden. »Traurig für Rentner«, verhieß »Bild« auf Seite eins. »unsere Rentenversicherung ist ins Schleudern gekommen.«

Ins Rutschen geraten ist jedenfalls jener Mann, der in der sozialliberalen Mannschaft jahrelang als personifizierter Ausweis sozialer Politik für Arbeiter und Rentner galt: Walter Arendt.

Vor wenigen Tagen noch hatte Arendt sich in einem schwarzrotgoldenen Wahlprospekt als Garant des sozialen Fortschritts gefeiert. Text: »Unsere Politik kennt keinen Stillstand.«

Nun, da offenbar ist, daß die Rentenversicherungen im nächsten Jahr aus eigener Kraft die monatlichen Überweisungen an die Alten nicht mehr bestreiten können, sitzt der Minister in der Klemme: Seine Versäumnisse, so dämmert inzwischen den Wahlstrategen bei SPD und FDP, laden der Schmidt-Genscher-Koalition eine schwere Hypothek auf.

Auch sozialdemokratische Kabinettskollegen zweifeln inzwischen, ob bei dem ehemaligen Bergarbeiterführer noch viel von dem Renommee übriggeblieben ist, das er sieh einst als erfolgreicher Sozialreformer erworben hatte. Ein Parteifreund unter Arendts Ministerkollegen: »Sein Lack ist ab.« Unter der Lackschicht kommen vornehmlich Fehler und Versäumnisse eines Mannes zutage, der noch 1972 mit dem Etikett des »erfolgreichsten Ministers«

Er wartet ab

* in der Arbeitsmarktpolitik, obwohl er in den nächsten Jahren 1,3 Millionen neue Arbeitsplätze für geburtenstarke Jahrgänge und als Ersatz für 700 000 wegrationalisierte Jobs braucht,

* in der Gesundheitspolitik, wo Krankenkosten und Beiträge zügig weiter steigen mit der Folge, daß trotz nomineller Lohnsteigerungen die Versicherten mit weniger Geld haushalten müssen als im Jahr zuvor.

* in der Krankenversicherung der Rentner. wo die Alten keine Beiträge zahlen und so die Rentenkassen bisher um 15 Milliarden erleichterten.

Und bedeckt hielt Arendt sich schließlich auch in der Rentenpolitik, in der alle Experten das Jahr 1977 zum Krisenjahr erklärt haben. Für ihn hat »die Rentenversicherung ein solides finanzielles Fundament«. Wer"s nicht glaubt. wird wegen »Katastrophenstrategie« und »Panikmache« verurteilt.

Arendts Parlamentarischer Staatssekretär Hermann Buschfort und der SPD-Sozialexperte Fugen Glombig verkaufen unterdessen schöne Zahlen über steigende Beitragseinnahmen der Versicherer. Und Glombig-Kollege Hans-Eberhard Urbaniak frohlockt: »In zwei Jahren wissen wir gar nicht. wofür wir das viele Geld ausgeben sollen. Dann setzen wir die flexible Altersgrenze herab.«

Die Wahrheit sieht anders aus. Spezialisten der Bundesbank ermittelten die Zahlen, die Arendt verheimlichen will: Selbst wenn die Einnahmen der Rentenkassen steigen (in den ersten fünf Monaten 1976 um 6,9 Prozent). bleiben sie »doch weit hinter der Expansion der Ausgaben zurück«. Die wachsen nämlich, dank Rentenerhöhungen von elf Prozent und dank flexibler Altersgrenze, »in unvermindertem Tempo«, um über 14 Prozent.

Das Defizit beziffern die Notenbanker für 1976 auf »annähernd zehn Milliarden« -- und damit wären die Rücklagen der Rentenversicherung schon in diesem Jahr um ein Viertel auf 32 Milliarden Mark abgeschmolzen. Die Bundesbankiers in ihrem Alarmruf: »Eine Stabilisierung der Finanzlage ist nicht ohne gesetzgeberische Maßnahmen möglich.«

Das meint auch der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, der sich vorletzte Woche Arendts Zorn zuzog, weil eine Modellrechnung über die Kassenlage 1977 (Prognose: 15,4 Milliarden Defizit) in die Hände von christdemokratischen Wahlstrategen geriet. Verbandsgeschäftsführer Kolb, von Arendts Schelte ("veraltete Zahlen") ungerührt: »Man muß sich Gedanken machen, wie man die Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben schließt.«

Da selbst bei einem Rekordaufschwung, mit höheren Löhnen und folglich höheren Beitragseingängen. immer noch eine Milliarden-Kluft bliebe, müßte der Bund die Löcher stopfen. -- doch dessen Kassenwart Hans Apel ist nach dem Scheitern der geplanten Mehrwertsteuererhöhung völlig schleierhaft, wie er den Bundesetat 1977 überhaupt finanzieren soll.

Schon hat der Finanzminister dem widerspenstigen Kollegen mit der Keule gedroht: Wenn Arendt selbst nichts anderes einfällt, sollen notfalls die Rentner Steuern zahlen. Auch die Freidemokraten ließen wissen, sie würden einer Verschiebung der im Juli 1977 fälligen Rentenerhöhung um sechs Monate zustimmen. Weitere Ratschläge überbrachten dem Arbeitsminister Abgesandte des Gewerkschaftsbundes (Rentenbeiträge auf 19 Prozent erhöhen) und der Arbeitgeber (Rentner sollen Krankenkassenbeiträge zahlen).

Doch Arendt, so ein Berater, »handelt erst, wenn es unausweichlich ist« -- also nach dem 3. Oktober. Der Minister Ende letzter Woche: »Ich würde mich freuen, wenn sich nach der Wahl die Verantwortlichen in Ruhe zusammensetzen würden.«

Sein Wunsch wird sich, dank der Arendtschen Abwarte-Taktik, erfüllen. Den Sozialbeirat, ein vom Hause Arendt bezahltes Expertengremium, das ein »Sondergutachten zur Bewältigung der finanziellen Schwierigkeiten der Rentenversicherung« ausarbeitet, hat der Minister gebeten, die Expertise erst Ende Oktober abzuliefern.

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