Rudolf Augsteins Wahl-Kalender (IV) RETTET EUGEN JETZT!
Den Wähler halten manche Leute für ein Fabelwesen, das fähig ist, Wunderdinge zu tun. Klaus Harpprecht, Glossenschreiber und Stilist von Graden, stellt ihm in »Christ und Welt« als »unser in Washington lebender Mitarbeiter« eine aparte Aufgabe: »Der Wähler hat die Pflicht, die CDU zu retten.«
Die Wochenzeitung, Mitbesitzer Eugen Gerstenmaler, hat vorsichtshalber in der Überschrift schon annonciert, Harpprecht vertrete hier »seine eigene profilierte Meinung«. Eine eigene Meinung wäre schon was, aber diese hier ist nun wirklich profiliert. Der Wähler soll der Christ-Demokratischen Union »die Chance einer Reformation nicht verweigern«.
Um die CDU zu retten, soll der Wähler sie entweder nicht wählen - ein vernünftiger Schluß - oder aber, und hier liegt die Musik, die Rettung soll kommen »durch einen Wechsel in der Führungsgruppe, den der Wähler durch kluge Placierung der Stimmen im Glucksfall zu erzwingen vermag«.
Wie macht man das, wie kann man seine Stimme klug placieren, und zwar so, daß die Partei, die man retten will, nicht gewinnt und gleichwohl nicht verliert? Das wäre nun freilich ein Rezept, das ich Windbeutel mir nicht einmal für die SPD zugetraut hätte: Rettet die Partei, indem ihr sie nicht wählt (oder indem ihr eure Stimme »klug placiert": Vater wählt SPD und ordnet Mutter zur CDU-Wahl ab).
Aber Wähler sind nun mal ganz dumm, sie wollen die Partei wählen, die ihnen am ehesten tauglich erscheint, Politik zu machen. Es hilft nichts, ihnen die Parole auszugeben: Wenn ihr den Doktor Gerstenmaier zum Kanzler wollt, dann dürft ihr einen Teil eurer Stimmen nicht dem Professor Erhard geben. Das kapiert der dumme Wähler nicht.
Der kluge Harpprecht hat sich auch wohl gehütet, seinen Mann zu empfehlen. Er stellt der CDU die Große Koalition als einen wahren Jungbrunnen vor: »Junge Talente, nicht durch Ämter verwöhnt und beschwert, fänden Gelegenheit, ihre Partei in einer Kräftigungskur zu trainieren.«
Wer hindert sie derzeit daran? Wer hindert die jungen Talente Barzel, Rasner und Dufhues, die allesamt durch Ämter nicht verwöhnt sind, ihre Partei in einer Kräftigungskur zu trainieren? Und wieso soll eine Koalition mit einem gleichstarken Partner weniger Kräfte verschleißen als die derzeitige, die immerhin durch ein ganzes Fasnachts -Sammelsurium von Burgerschrecks zusammengehalten wird?
Harpprecht, der gegen die Intellektuellen (früher) und gegen die Halb-Intellektuellen (heute) anzukokettieren liebt, hat hier ein rundes, braves Intellektuellen-Ei abgelagert, wie er sie immer dann abliefert, wenn er in die Politik gerät.
Die christ-demokratische Wachablösung, die Harpprecht für nötig hält, vollzöge sich, so schreibt er, »auf natürlichste Weise in der Großen Koalition«. Ei, ei, welch geschwinder Verstand! Die »natürlichste Weise«, eine Führungsgruppe durch eine andere zu ersetzen, ergäbe sich nach üblichem Verstand in der Opposition. Freilich, da verlöre dann der agile Mitbesitzer von »Christ und Welt« auch noch sein jetziges hohes Amt.
Diese Polit-Feuilletonisten ("vielleicht trügt der Blick über den Atlantik") streichen und setzen den Akzent, wie sie ihn brauchen. Das Datum des 19. September »sendet Wellen furchtsamer Spannung voraus«, orakelt Harpprecht, »der 19. September bringt die Entscheidung« - welcher Wahltag brächte sie nicht?
Wir alle könnten ein Tor passieren, sorgt sich Harpprecht, »das sich zum zweitenmal nicht mehr öffnet«. Hoppla, warum soll es das, da wir es doch passiert haben? Sogar die Bilder purzeln im Gedanken-Dipolter des Transatlantikers. (Übrigens 1953, 1957 und 1961 war es schon immer dieselbe Pforte mit dem Spruchband: »Die ihr hier eintretet, laßt jede Sorge um das Gemeinwohl fahren.")
Man kann nur staunen, wie schlecht die Erben des großen Häuptlings in Harpprechts Purzelträumen wegkommen, und wie trefflich jener selbst. Als ob Erhard, Schröder und Hassel nicht die Kellner wären und er der Koch, an dessen Suppe wir zu löffeln haben.
Welches Erbe ist denn vertan worden? Harpprecht klagt bitter über Hochmut und Hilflosigkeit, »die es dulden, daß wir Frankreich verlieren, uns England nicht nähern, den Amerikanern dennoch entfremden und keine Sympathien in Moskau finden«. Ja so was! Das wäre natürlich unter Kaiser Wilhelm nicht passiert.
Da mag de Gaulle getrost »casser la baraque« spielen: Wir Adenauer, Gerstenmaier, Guttenberg und Harpprecht, wüßten schon, wie man ihn begöscht. Nur freilich, als der große Häuptling noch dran war, hat er's nicht gewußt, hat er England vor den Kopf gestoßen, Amerika brüskiert, Rußland nicht zur Kenntnis genommen, und Harpprecht pries ihn laut.
Wer hat dem Außenminister geraten, fragt Harpprecht sich mit der unglückseligen Formel MLF in die Genfer Abrüstungsdebatte zu drängen? Nun, wer wohl? Das war nicht mal Banquos Geist, sondern Banquo selbst. Die MLF ist der letzte Strohhalm von 16 Jahren Adenauer.
Nun muß man Harpprecht hören,
welche Schuld die Wähler auf sich lüden, wenn sie so zahlreich CDU wählten daß, anstelle Gerstenmaiers, Erhard weiterregieren könnte, oder, mit der flinken Zunge Harpprechts, wenn sie »einen allzuglatten Erfolg des Erhard-Schröder-Mende-Regimes« zuwege brächten.
Sie, die Wähler, »hätten der Christlich-Demokratischen Union die Chance einer Reformation verweigert. Sie überließen diesen produktivsten Organismus der deutschen Nachkriegspolitik einem Prozeß der Aushöhlung, der ohnedies schon weit genug voranschritt. Sie lieferten Adenauers Partei einem verschleppten Selbstmord durch Überanstrengung aus. Sie weigerten sich aus blöder Scheu vor dem Experiment, jene Gemeinschaft zu retten, die den Staat der Niederlage in einen Garten des Überflusses und des sozialen Friedens zu verwandeln verstand, ja, der fast die bedeutendste Aufgabe: die Europäisierung Mitteleuropas gelang«.
»Fast«, schlichtes Imperfekt, ohne »gelungen wäre«. So undankbar, so uneinsichtig sind die Wähler. Man predigt ihnen ein Jahrzwölft, die Opposition bringe den Untergang, und wundert sich über die blöde Scheu vor dem Experiment. Man häuft atomaren Sprengstoff an und nennt das »fast die Europäisierung Mitteleuropas«.
Harpprecht: »Die CDU braucht eine Pause« - freilich keine ganze. Harpprecht: »Die Verantwortung, selbst wenn sie vor allem auf der Zunge getragen wird, zwingt durch ihre Schwerkraft nach Jahrzehnten auch den Stärksten in die Knie« - das gilt aber nicht für Gerstenmaier?
Brandt, Wehner und Erler sind in Harpprechts blumig-blühender Diktion Marschälle, die über eine starke, wohltrainierte und disziplinierte Armee verfügen. Aber sie brauchen einen Alliierten: die gegnerische CDU. Den christdemokratischen Heerführern hingegen fehlt es an Mannschaft, Unteroffizieren und Offizieren. Was liegt näher, als mit den Kadern des Feindes zu koalieren? Die Waffen nieder! Togetherness. »If we may stay together«, pflegte der Feldmarschall Montgomery zu sagen, »we will stay together better.«
Der 19. September bringt tatsächlich die Große Koalition, oder er bringt sie nicht. Daran will wohl niemand deuteln. Nur wüßten wir von dem »steinernen Gast« dieses eigenen und profilierten Artikels, von Eugen Gerstenmaier zu gern, wie und warum er sich die Große Koalition vorstellt. Der Bundestagspräsident, der wahrlich genug Verantwortung auf der Zunge getragen hat, um selbst schon ein wenig an seiner eigenen Unverbrauchtheit zu zweifeln, wird seine Qualifikation doch nicht aus dem Faktum herleiten, daß er, wie die SPDLeute, noch nie als Bundesminister mitregiert hat?
Wenn Harpprechts Schluß wahr ist, daß nämlich am 19. September über Konsolidierung oder Zermürbung der Bundesrepublik entschieden wird: Warum sagt der Wahlkreiskandidat Gerstenmaier seinen Wählern kein Wort von der drohenden Gefahr der Zermürbung der Republik unter der Fortherrschaft Ludwig Erhards? Und was wäre das für ein Regime, dessen Wahlsieg die Zermürbung des Staates brächte?
Daß die Wähler Konrad Adenauers CDU retten müssen, indem sie nicht »glatt«, sondern »klug placiert« CDU wählen: für diese profilierte Gedankenkette eines Nicht-Intellektuellen ein herzliches Vergelt's Gott!