OSTBLOCK / SATELLITEN Revolution in Filz
Fünfmal in vierzehn Tagen prügelte Moskau den Bonner Buhmann. Parteichef Breschnew und Chefideologe Suslow entrüsteten sich über die »gierigen Blicke« der Bonner Revanchisten auf Ostelbien. Vizepremier Masurow beschwor die Unantastbarkeit der Grenzen im Nachkriegs-Europa. Vizepremier, Poljanski und Kriegsminister-Malinowski drohten mit der Macht der hochgerüsteten Sowjet-Union.
Die scheinbar gegen Bonn gefeuertern Propaganda-Breitseiten galten in Wahrheit den Polen, Tschechen, Ungarn, Bulgaren und Rumänen. Wieder einmal spekulierten die Sowjets auf die Furcht der Kreml-Satelliten vor dem vermeintlichen Bonner Revanchismus und Militarismus.
Revanchisten-Schreck und Militaristen-Furcht eignen sich vorzüglich, das von nationalkommunistischer Auflösung bedrohte Ostbündnis zu zementieren. Vor allem die nationalistischen Trompetenstöße aus Peking hatten die Osteuropäer ermuntert, die russische Vormundschaft abzuschütteln und sich um verstärkte West-Kontakte zu bemühen.
Um die gelben Irrlehren zu bekämpfen und das rote Schisma einzudämmen, mußte der Kreml vorübergehend seinen Griff über die osteuropäischen Satelliten lockern. Da bot die amerikanische Gegenoffensive in Südvietnam den Sowjets eine willkommene Gelegenheit, die Ohnmacht des chinesischen Papierdrachens vor aller Welt zu demonstrieren (SPIEGEL 45/1965).
Die Sowjets nutzten ihre Chance. Immer stärker drängten sie die Osteuropäer, sich nicht vom Westen »aus der sozialistischen Familie« reißen zu lassen (Radio Moskau). Hauptzielscheibe der Kreml-Attacken war die bewegliche Bonner Ostpolitik. Außenminister Gerhard Schröder hatte mit den Regierungen von Polen, Rumänien, Bulgarien und Ungarn Handelsverträge für das Währungsgebiet der DM-West abgeschlossen und in den Hauptstädten dieser Länder ständige Handelsvertretungen eingerichtet.
62mal appellierte die Moskauer »Prawda« in diesem Frühjahr an die Bruderländer, die kommunistische Aktionseinheit im Kampf gegen den gemeinsamen Feind - den Bonner Imperialismus - wiederherzustellen. Michail Suslow, Chruschtschow-Ankläger und Moskauer Einheits-Vorbeter, fuhr selbst nach Sofia, um den Bulgaren die nationalkommunistischen Flausen auszutreiben. Sowjetmarschall Gretschko tat das gleiche in Bukarest, Vizepremier Masurow in Budapest.
Am lautesten zeterte des Kremls treuester Satellit. Walter Ulbricht, über die Bonner Umarmungstaktik. »Neues Deutschland": »Sie sind in Kommißstiefeln gegen uns losmarschiert und haben sich an unserem Schutzwall Beulen geholt. Jetzt wollen sie in Filzlatschen kommen und die Konterrevolution in die DDR tragen.«
Ulbrichts Klage und Moskaus Druck blieben nicht ohne Wirkung. In den Satelliten-Ländern regten sich nun Kräfte, die ebenso wie Suslow und Ulbricht die westlichen Aufweichungstendenzen als eine Gefahr für die KP -Herrschaft erachteten.
In Polen hob die Staatspolizei eine stalinistische Untergrundbewegung aus. In Flugblättern hatten die polnischen Stalinisten Gomulka und die liberale Ideologie des polnischen Oktober scharf angegriffen. Ihre Anführer, Ryszard Nieszporek und Kazimierz Mijal, fielen weich: Mijal verlor seinen Posten als Direktor der polnischen Investitionsbank; Nieszporek mußte als Bürgermeister von Kattowitz zurücktreten und wurde polnischer Botschafter in Bulgarien.
Ungleich härter packte Polens Staatssicherheitsdienst dagegen revisionistische Intellektuelle an. Die Schriftsteller Melchior Wankowicz und Jan Nepomuk Miller wurden zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Sie hatten das Gomulka -Regime in der Pariser Emigrantenzeitschrift »Kultura« kritisiert.
Im Mai mußte sich der Publizist Stefan Kaczorowski vor dem Obersten Gericht in Warschau verantworten: Der Prozeß wurde vertagt, weil das belastende Beweisstück - ein vor 20 Jahren veröffentlichtes Werk über den Warschauer Aufstand von 1944 - nicht mehr aufzutreiben war.
Ebenfalls in diesem Sommer fand in Warschau ein Geheimprozeß statt. Die Universitäts-Assistenten Karol Modzelewski und Jacek Karon bekamen mehrjährige Gefängnisstrafen. Ihr Verbrechen: In einem noch nicht druckreifen Manuskript waren sie für die Abschaffung der Parteidiktatur und die Einführung einer sozialistischen Marktwirtschaft eingetreten.
Auch in Ungarn kam es zu zahlreichen Verhaftungen oppositioneller Intellektueller. In Budapest wurden bei zwei großen Polit-Prozessen dreizehn katholische Priester wegen staatsfeindlicher Umtriebe zu Gefängnisstrafen zwischen zwei und acht Jahren verurteilt. Zahlreiche andere Ungarn, darunter ein Theologieprofessor und ein Völkerkundler, wurden wegen »Aufwiegelei« und »böswilliger Hetze« festgenommen. Für die Verbreitung »aufwieglerischer Gedichte« bekam der Ungar Jozsef Ligeti viereinhalb Jahre Gefängnis.
Das Budapester KP-Organ »Népszabadság« verglich die ungarischen West-Fetischisten mit Zulukaffern und Eskimos, die sich am ersten Schnaps des weißen Mannes berauschten: »Unsere Wilden gaffen einem Auto aus dem Westen nach, als hätten sie nie ein Motorfahrzeug gesehen.«
Auch in der Tschechoslowakei ist in diesem Herbst nichts mehr von der liberalen Aufbruch-Stimmung des Prager Frühlings von 1963 zu spüren. In der Preßburger »Kulturny Zivot« beklagte sich Schriftsteller Ladislav Tazky über diejenigen - ehemals liberalen - Kollegen, die inzwischen die ideologischen Fronten gewechselt hätten und nun »gegen die eigenen Reihen« zu Felde zögen. Chefredakteur Juraj Spitzer verwies auf die zählebigen Überreste des Stalinismus und zitierte Majakowski: »Diese Zeit ist der Arbeit mit der Feder nicht günstig.« Ende Oktober wurde Kulturminister Cestmir Cisar wegen zu liberaler Amtsführung abgelöst.
Die Regierung in Bukarest - seit dem Tode Gheorghiu-Dejs um eine vorsichtige Anpassung an die veränderten Machtverhältnisse im Kreml bemüht - wechselte drei für ihre prowestliche Einstellung bekannte Spitzenfunktionäre aus: Planungschef Gaston-Marin, Chemie-Minister Mihail Florescu und Außenhandelsminister Petri, der die deutsche Industrieausstellung in Bukarest eröffnet und Bundeswirtschaftsminister Schmücker nach Rumänien eingeladen hatte. Ihre Nachfolger sind ausnahmslos moskautreue Funktionäre.
Ein neues Paß- und Meldegesetz erschwert die Bewegungsfreiheit westlicher Touristen in der DDR und in der Tschechoslowakei. Die Prager Regierung änderte das geltende Strafrecht, um Touristen verfolgen zu können, die »ihren Aufenthalt in der CSSR dazu benutzen,die Gutgläubigkeit und Offenherzigkeit der Bevölkerung zu mißbrauchen«. In Bulgarien erhöhte die Regierung die Gebühren für einen Auslandspaß auf 40 bis 50 Lewa (80 bis 100
Mark) - das halbe Monatsgehalt eines Arbeiters.
Um den östlichen. Westdrall noch mehr einzuengen, legten die Kremlherren den Satellitenchefs in diesem Herbst einen Plan zur besseren Koordinierung der gegenseitigen Beziehungen vor. Hinter verschlossenen Kremltüren schlugen sie Ungarns Kádár, dem Rumänen Ceausescu, dem Tschechen Novotny und dem Bulgaren Schiwkoff vor, das 1956 aufgelöste Kommunistische Informationsbüro (Kominform) neu zu gründen. Mit Hilfe des Kominform hatte Stalin seinerzeit die Satelliten straff gezügelt und ihr Ausbrechen nach Westen verhindert.
Um den widerstrebenden Ostlern die Moskauer Kominform - Wünsche schmackhaft zu machen, malten die Moskowiter den angeblichen Bonner Drang nach Osten in den düstersten Farben aus. Parteichef Breschnew am 23. Oktober in Kiew: »Die Völker Europas haben die Hitler-Okkupation nicht vergessen.«
Außerdem stellte Breschnew zwei bedeutsame Konzessionen in Aussicht: eine Reform des Vereinten Oberkommandos der Warschauer Pakt-Organisation (in dem künftig auch osteuropäische Generäle mitbestimmen sollen) sowie eine Teil-Konvertierbarkeit des Rubels durch die Moskauer Comecon -Bank (wodurch die Ostblock-Länder eine größere finanzielle Beweglichkeit auf westlichen Märkten erlangen würden).
Am längsten sperrte sich Polens Gomulka. Ende Oktober brach Breschnew zum fünftenmal seit seiner Amtsübernahme in das russisch-polnische Grenzgebiet von Brest-Litowsk auf. Auf einem gemeinsamen Jagdausflug überredete er Gomulka, die sowjetisch polnische Zusammenarbeit »zu vertiefen und enger zu gestalten«.
Tausend Kilometer weiter, im neutralen Österreich, meldeten die Behörden am gleichen Wochenende einen verstärkten Flüchtlingszustrom aus Osteuropa. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres kamen allein fast 3000. Viele von ihnen zogen gleich in die Bundesrepublik weiter:
Krokodil, Moskau
Sowjetische Karikatur: »Drang nach Osten«