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»Revolution« oder »riesenhaftes Theater«?

SPIEGEL-Redakteur Wolfgang Malanowski über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozeß 1945/46 *
aus DER SPIEGEL 47/1985

Der letzte Akt fand in der Turnhalle statt - der Turnhalle des Nürnberger Justizpalastes, der inmitten von Schutt und Trümmern heil geblieben war. Da standen nebeneinander drei Galgen, das Schafott war rundherum mit schwarzen Tüchern abgedeckt.

Dreizehn hölzerne Stufen führten zur Plattform hinauf. Darüber, an einem Querbalken, ein starker eiserner Haken, an dem der Strick baumelte: Tod durch den Strang für zwölf Hauptkriegsverbrecher des ehedem Großdeutschen Reiches: *___Martin Bormann, Reichsleiter, Chef der Parteikanzlei ____der NSDAP (gegen ihn war »in Abwesenheit« verhandelt ____worden); *___Hans Frank, Generalgouverneur von Polen; *___Wilhelm Frick, Reichsinnenminister, später ____Reichsprotektor von Böhmen und Mähren ____(Tschechoslowakei); *___Hermann Göring, Reichsmarschall, Oberbefehlshaber der ____Luftwaffe (Göring hatte sich das Leben genommen); *___Alfred Jodl, Generaloberst, Chef des ____Wehrmachtsführungsstabes; *___Ernst Kaltenbrunner, SS-Obergruppenführer, Chef des ____Reichssicherheitshauptamtes; *___Wilhelm Keitel, Generalfeldmarschall, Chef des ____Oberkommandos der Wehrmacht; *___Joachim von Ribbentrop, Reichsaußenminister; *___Alfred Rosenberg, Reichsminister für die besetzten ____Ostgebiete; *___Fritz Sauckel, Generalbevollmächtigter für den ____Arbeitseinsatz; *___Arthur Seyß-Inquart, Reichsminister ohne ____Geschäftsbereich, Reichskommissar für die besetzten ____Niederlande; *___Julius Streicher, Ex-Gauleiter von Franken, Herausgeber ____des »Stürmer«.

Die Turnhalle war, in der Nacht zum 16. Oktober 1946, mit Soldaten der siegreichen Alliierten und ausländischen Journalisten gefüllt. Jede Besatzungsmacht hatte einen General entsandt. Als einzige Deutsche waren, auf Befehl der US-Militärregierung, der bayrische Ministerpräsident Wilhelm Hoegner und der Nürnberger Generalstaatsanwalt, Friedrich Leistner, zugegen, »als Zeugen für das deutsche Volk«.

»Es war schauerlich, diese schon von der Todesangst gepeinigten, halbbekleideten Menschen in den engen Zellen aufsuchen zu müssen«, berichtete Hoegner später. »Dabeisein zu müssen, wie sie zum Schafott geführt wurden.«

Einer nach dem anderen. Als erster, um 1.01 Uhr, von Ribbentrop. Auf der Plattform fragte ihn ein amerikanischer Feldwebel: »Haben Sie noch etwas zu bemerken?«

Ribbentrop sagte: »Mein letzter Wunsch ist, daß Deutschland seine Einheit wiederfindet, daß eine Verständigung von Ost und West kommt für den Frieden in der Welt.« Dann waltete Henker John C. Woods aus Texas seines Amtes.

Zwischenfälle gab es nicht, »keiner brach zusammen«, meldete eine amerikanische Nachrichtenagentur. Den Delinquenten Streicher, der nur mit einer langen Unterhose bekleidet war, mußten allerdings US-Militärpolizisten zum Galgen schleppen. Streicher salutierte: »Heil Hitler!« und stieß Verwünschungen aus: »Die Bolschewisten werden euch hängen.«

Als letzter, um 2.45 Uhr, wurde Seyß-Inquart gehängt, sodann die Leiche Görings in die Turnhalle geschafft. Er hatte sich, knapp drei Stunden vor den Hinrichtungen, _(Untere Bankreihe: Göring, Heß, ) _(Ribbentrop, Keitel, Rosenberg; obere ) _(Reihe: Dönitz, Raeder, Schirach, ) _(Sauckel. )

in seiner Zelle vergiftet, mit Zyankali.

Das war der Schlußpunkt im Prozeß vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, der, einmalig in der Weltgeschichte, Angriffskriege, Kriegsverbrechen, Ausrottung und Völkermord, von den Deutschen begangen, ahnden sollte.

Der Jahrhundertprozeß sollte, so sah es Kriegsheld General Dwight D. Eisenhower, »ein Jahrhundert gerechten Friedens einleiten«; den »Schandfleck unserer Zeit tilgen« (US-Chefankläger Robert H. Jackson), »Gerechtigkeit nach den Regeln von Recht und Menschlichkeit herstellen« (der britische Ankläger Sir David Maxwell Fyfe).

Aber war dieser Prozeß, wie behauptet worden ist, »Grundstein«, »Markstein«, »Wendepunkt«, eine »Revolution« des Rechts? Oder war er ein »utopisches Völkerrechtsprojekt«, womöglich zugleich eine »juristische Ungeheuerlichkeit« und ein »riesenhaftes Theater«? Darüber streiten sich Gelehrte, Politiker und Publizisten nun schon 40 Jahre.

Das Strafgericht dauerte elf Monate, von der Anklageerhebung am 20. November 1945 bis zum Urteil am 1. Oktober 1946. In 403 öffentlichen Verhandlungen wurden über 300 000 Eidesstattliche Erklärungen und 6513 Prozeßakten vorgelegt; die Dokumente füllen 42 Lexikonbände, für Historiker eine unvergleichliche Quelle deutscher Zeitgeschichte.

Sieger saßen über Besiegte zu Gericht, Siegerrecht brach geltendes Recht. Das alte Völkerrecht faßte neue Tatbestände nicht: Völkermord.

Der eiserne Rechtsgrundsatz nulla poena sine lege (keine Strafe ohne ein Gesetz), die »magna charta« für Rechtsbrecher (Franz von Liszt), wurde außer Kraft gesetzt, der Grundsatz tu quoque ("du auch"), in diesem Fall der Hinweis auf alliierte Verstöße gegen das Kriegsrecht, beiseite geschoben.

Unrecht sollte nicht gegen Unrecht aufgerechnet werden. Aber hätte nicht Recht Recht bleiben sollen - auch oder gerade in einem Verfahren gegen die »Totengräber des Rechtsstaates« (Völkerrechtler Wilhelm Grewe)?

Es war nicht erlaubt, etwa auf Katyn, das sowjetische Massaker an der polnischen Elite, auf die sowjetischen Angriffskriege gegen Polen und Finnland 1939/40, auf die alliierten Bombardements auf deutsche Städte oder auf die Zwangsvertreibung aus Osteuropa zu verweisen, die immer noch im Gange war.

Aber das sollte in Zukunft anders werden; nicht nur Besiegte, sondern auch Sieger sollten, wenn sie was verbrochen haben, auf die Anklagebank. Wenn die Nürnberger Rechtsschöpfung »von Nutzen sein soll«, dann müsse man künftig, sagte Jackson, »den Angriff jeder anderen Nation verdammen, nicht ausgenommen

die, die hier zu Gericht sitzen«.

Wie das? Die Völkerrechtsgemeinschaft, die souveränen Staaten also, müßten sich erst auf klar umrissene Straftatbestände, ein Völkerstrafrecht, ein Weltgericht und eine international vollziehende Gewalt einigen. Sonst bleibt nur Landes- oder Besatzungsrecht.

»Es ist bitter notwendig, daß die Staatsmänner dort weitermachen, wo die Nürnberger Rechtsgelehrten aufgehört haben« (Jackson). Aber die Staatsmänner dachten nicht im Traum daran, wie die Geschichte der jüngsten Kriege und Kriegsverbrechen lehrt; Vietnam, Afghanistan, zum Beispiel.

Die Vereinten Nationen sind weit davon entfernt, das Nürnberger Ausnahmerecht in den Rang allgemeinen Völkerrechts zu erheben; noch herrscht Vetorecht. 1951, es war wieder Krieg, in Korea, legte die UN-Kommission für Internationales Recht unter ausdrücklichem Hinweis auf das Nürnberger Urteil einen »Kodex der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit« vor. Aber die UN-Vollversammlung winkte ab. »Die gegenwärtige Zeit mit ihren starken und zahlreichen Spannungen ist«, resignierte die UN-Rechtskommission 1957, »für die Regelung dieser Frage nicht geeignet.«

Schon lange vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs hatten Alliierte und Exilpolitiker aus den von deutschen Truppen besetzten Ländern auf Bestrafung der Kriegsverbrecher und des Naziregimes gedrungen. Das barbarische Regiment der Besatzer, Verschleppung, Verwüstung, Vernichtung, Holocaust, forderte Rache und Vergeltung.

Den Deutschen sollte die Aburteilung ihrer obersten Kriegs- und NS-Verbrecher keineswegs überlassen bleiben. Gerichtshoheit übten nach der totalen Kapitulation sowieso die vier Besatzungsmächte aus. Das Vertrauen in die deutsche Justiz, selbst noch kaum entnazifiziert, war naturgemäß gleich Null.

»Entweder müssen also die Sieger die Geschlagenen richten«, erklärte Jackson, vor seiner Nürnberger Mission Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, »oder sie müssen es den Besiegten überlassen, selbst Recht zu sprechen.«

Das aber kam überhaupt nicht in Frage. Denn, so Jackson in Übereinstimmung mit allen, die mit deutschen Kriegsverbrechern und Kriegsverbrechen befaßt waren, »nach dem Ersten Weltkrieg haben wir erlebt, wie müßig das letztere Verfahren ist«.

1919 wollten die Alliierten »Wilhelm II. von Hohenzollern, gewesenen Kaiser von Deutschland«, vor ein internationales Gericht stellen, doch die Niederlande, wo der Ex-Monarch Unterschlupf gefunden hatte, lehnten ab. Wilhelm II. selbst verwahrte sich mit einleuchtenden Argumenten: »Ein Gerichtshof, vor dem Feinde gleichzeitig als Kläger und Richter auftreten, wäre kein Organ des Rechts, sondern ein Werkzeug der politischen Willkür.«

Außer Wilhelm II. standen rund 900 weitere angebliche Kriegsverbrecher auf alliierten Suchlisten, unter ihnen zahlreiche Militärs wie Paul von Hindenburg, Erich Ludendorff, Alfred von Tirpitz, Staatsmänner wie der frühere Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, Kronprinzen, Prinzen - und der Fliegerhauptmann Hermann Göring.

Die Reichsregierung erklärte sich außerstande, die Beschuldigten auszuliefern; viele seien ins Ausland geflüchtet, mithin nicht in Reichweite, und Verhaftungen im Inland würden unweigerlich zu schweren Unruhen führen. Statt dessen sollten, nach Absprache mit den Alliierten, erst einmal 45 Angeklagte vor das Reichsgericht in Leipzig gestellt werden.

Es gab viele Freisprüche und einige geringe Freiheitsstrafen. Hauptmann Emil Müller, im Zivilberuf Jurist, beispielsweise, war wegen Mißhandlungen von Kriegsgefangenen angeklagt. Das Reichsgericht stellte fest:

»Weit davon entfernt, das Vertrauen der Gefangenen zu gewinnen, hatte er den Ruf eines Tyrannen und Sklavenhalters.«

Aber: »Schuld an seinen Ausschreitungen war der soldatische Enthusiasmus, der ihm eine übertriebene Vorstellung davon gab, was die außerordentlichen Verhältnisse des Krieges zuließen.«

Und: »Indessen muß darauf hingewiesen werden, daß der Angeklagte nicht unehrenhaft gehandelt hat. Sein Ansehen als Bürger und Offizier ist nicht verletzt.«

Urteil: sechs Monate.

Solche Scheinprozesse sollte es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wieder geben; dann lieber einen Schauprozeß. England kämpfte noch ums Überleben, die USA standen noch Gewehr bei Fuß, da proklamierte Briten-Premier Winston Churchill im Oktober 1941 die Bestrafung deutscher Kriegsverbrecher als »eines der Hauptkriegsziele«. Josef Stalin drohte: »Diese Henker sollen wissen, daß ... sie der Vergeltung der gemarterten Völker nicht entgehen werden.«

Im Londoner St.-James-Palast forderten Vertreter der von Deutschland besetzten Länder im Januar 1942 »Bestrafung _(Mit Ehefrau Hermine. )

der für die Verbrechen Verantwortlichen«, und in der Moskauer Dreimächte-Erklärung vom November 1943 über die »deutschen Grausamkeiten« hieß es, die »Hauptkriegsverbrecher, deren Verbrechen nicht in einem geographisch bestimmbaren Tatort begangen wurden«, sollen auf »Grund einer gemeinsamen Entscheidung der Regierungen der Alliierten bestraft werden«.

US-Außenminister Cordell Hull, der in Moskau dabei war, befürwortete hingegen »Standgericht« und »kurzen Prozeß« für Hitler und seine »Erzkomplicen«. Zu kurzem Prozeß riet, auf der Konferenz der Großen Drei von Teheran im November 1943, auch Sowjet-Marschall Stalin; es war freilich viel getrunken worden, und die Stimmung war, wie sich Churchill erinnerte, »ziemlich gelöst und heiter«. In einem Trinkspruch äußerte der Marschall, wenn man bei Kriegsende »etliche 50 000 Offiziere und Sachverständige« erschieße, wäre »Deutschlands militärische Schlagkraft für immer gebrochen«.

Churchill geriet außer sich: »Lieber lasse ich mich hier an Ort und Stelle in den Garten hinausführen und erschießen«, grollte er, »als meine und meines Volkes Ehre durch eine solche Niedertracht zu beschmutzen.« Wütend verließ er den Saal. Doch da folgten Stalin und Molotow, »lachten herzlich und erklärten eifrig, sie hätten nur gescherzt« (Churchill).

Auf der nächsten Konferenz der Großen Drei, im Februar 1945 in Jalta, kam US-Präsident Franklin D. Roosevelt, »jetzt den Deutschen gegenüber blutrünstiger als noch vor einem Jahr«, wie er selbst sagte, auf Stalins Trinkspruch zurück. Der Marschall möge ihn doch wiederholen.

Stalin hielt sich zurück, und die Drei Großen kamen überein: »Es ist unser unbeugsamer Wille ... alle Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen und einer schnellen Bestrafung zuzuführen.«

Aber damit war die Frage, ob kurzer oder langer Prozeß, keineswegs aus der Welt. Und es waren ausgerechnet Churchill und einige seiner Minister, die sich hartnäckig für Erschießungen einsetzten. Den Premier wird also nur die von Stalin genannte hohe Zahl - 50 000 - geschockt haben; gegen die Prozedur hatte er nichts einzuwenden, im Gegenteil.

Noch in Jalta hatte er vorgeschlagen, die Konferenz solle eine Liste der Hauptkriegsverbrecher aufstellen. Wer auf dieser Liste stehe, sei zu erschießen, sobald seine Identität feststehe; die Engländer dachten an 50 bis 100. Churchill: »Über Schlachtfeldern wächst Gras, über Galgen nie.«

Erst am 18. Mai 1945 gab das britische Kabinett seinen Widerstand gegen ein Gerichtsverfahren auf - auf Drängen der Amerikaner. »Falls wir uns ... nicht fügen«, notierte ein Beamter des Londoner Außenministeriums, »wird es uns übel ergehen.«

Die amerikanischen Missionare wollten ja nicht nur die Hauptkriegsverbrecher und andere NS-Kriminelle aburteilen, sondern jeden Nazi zur Rechenschaft ziehen und das Volk der Deutschen umerziehen.

Präsident Harry S. Truman, Nachfolger des im April gestorbenen Roosevelt, hatte sich, fünf Tage nach seinem Amtsantritt, »definitiv gegen die Behandlung der Hauptkriegsverbrecher nach rein politischen Gesichtspunkten« entschieden, womit summarische Hinrichtungen gemeint waren. »Die barbarischen Taten der Deutschen erlegen uns die Pflicht auf«, begründete er, »dem deutschen Volk eine harte Lehre zu erteilen.«

Anderntags vertraute Jackson seiner Sekretärin Elsie Douglas an: »Der Präsident bittet mich, als Chefankläger nach Europa zu gehen und die Nazikriegsverbrecher vor Gericht zu bringen.«

Ende Juni 1945 begab sich Jackson nach London, um gemeinsam mit englischen, französischen und sowjetischen Juristen den Jahrhundertprozeß vorzubereiten. Zu seinem Stab gehörten viele entschlossene Reserveoffiziere mit großem Elan, aber wenig Kenntnis von Völkerrecht und Naziregime.

Jackson, ebenfalls ein Draufgänger, aber auch ein versierter Jurist, der sein Pensum nach amerikanischer Art am liebsten im Handumdrehen erledigt hätte, überraschte die anwesenden Vertreter der Siegermächte mit einem fertigen Entwurf für die Anklage, stieß auf Bedenken, korrigierte und änderte, ohne seine Kollegen detailliert ins Bild zu setzen, und wunderte sich dann, daß Franzosen und Russen nicht unverzüglich akzeptierten.

Strittige Fragen gab es genug: Wie etwa könnten Angeklagte, die keine kriminellen Straftaten begangen hatten, dennoch verurteilt werden? »Wir müssen erklären«, schrieb Jackson seinem Präsidenten Truman, »daß sie persönlich verantwortlich sind, und ich sage frei, daß zu unserer Unterstützung dafür das Völkerrecht, so wie es in den letzten Jahren bestanden hat, unbestimmt und schwach ist.«

Wie sollte dem zu erwartenden Einwand von Verteidigern und Angeklagten begegnet werden, auch andere Länder hätten Angriffskriege angezettelt, die nun als Verbrechen geahndet werden sollten?

Sollten auch Luftbombardements auf offene Städte - Coventry, Dresden - als Kriegsverbrechen angeklagt werden? Besser nicht, meinte Jackson: »Dieses Thema wäre einer Aufforderung zur Erhebung von Gegenbeschuldigungen gleichgekommen, die in dem Prozeß nicht nützlich gewesen wäre.«

Und könnten Politiker und Militärs der Länder, die bald zu Gericht sitzen

würden, eines Tages nicht selbst nach dem nun verkündeten neuen Recht zur Rechenschaft gezogen werden?

Generalmajor Iona T. Nikitschenko, Vizepräsident am Obersten Gericht in Moskau und später sowjetischer Chefankläger in Nürnberg, wollte sich darüber nicht auch noch den Kopf zerbrechen. »Wir sollten uns darauf beschränken«, meinte er, »die Grundlagen für einen Prozeß gegen solche Verbrecher zu schaffen, die internationale Verbrechen schon begangen haben - und nicht für irgendwelche Verbrechen, die sie in Zukunft begehen könnten.« Jackson konterte: »Verbrechen sind Verbrechen, ganz gleich, wer sie begangen hat« - eine simple Wahrheit, die allerdings in Nürnberg nicht zugelassen wurde.

Zeitweise rechnete der ungeduldige Jackson schon mit Abbruch der Verhandlungen. Er wolle sich »in vernünftigen Grenzen um eine Einigung mit den Russen bemühen«, falls das fehlschlage, sollten die »in amerikanischem Gewahrsam befindlichen Kriegsverbrecher« von einem US-Militärgericht abgeurteilt werden.

Mal meinte er: »Mit den Russen werden wir nur noch durch ein Ultimatum fertig.« Mal wünschte er gar ein Scheitern, denn die Vorstellung, »bei einem Prozeß mit den Russen zusammenzuarbeiten«, bereitete ihm Qualen.

Ein weiterer Umstand machte Jackson zu schaffen: Das bis dahin erbeutete Beweismaterial war äußerst dürftig. »Bei den Beratungen haben wir unseren Prozeß immer mühelos mit kühnen Worten gewonnen, aber das wirklich vorhandene Beweismaterial hat auf einer Karteikarte Platz«, gestand er: »Es muß ein Wunder geschehen.«

Das Wunder geschah. Alliierte Kommandos fanden in deutschen Archiven und Verstecken belastende Dokumente zuhauf. Und auch die Londoner Verhandlungen kamen plötzlich zügig voran. Stalin, der im Juli mit Churchill und Truman zur Potsdamer Konferenz angereist war, machte sie flott. Am 8. August wurde das »Statut für den Internationalen Militärgerichtshof« unterzeichnet - im Rechtsleben, so Jackson, ohne »Beispiel und Vorbild«.

Das Statut - alles in einem: materielles Strafgesetz, Verfahrensordnung und Gerichtsverfassung - setzte neues Recht, Siegerrecht oder anders, positivistisch, gewendet, es verstieß in wichtigen Vorschriften gegen allgemeine Rechtsgrundsätze, eigens und ausschließlich »zwecks gerechter und schneller Aburteilung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher der europäischen Achse«, Deutschland und Italien.

An den Beratungen des Statuts hatten als Vertreter ihrer Regierungen neben dem Amerikaner Jackson der britische Kronanwalt Maxwell Fyfe, der Franzose Appellationsgerichtsrat Robert Falco sowie der Russe Nikitschenko mitgewirkt. Von diesen Gesetzgebern fanden sich bei Prozeßbeginn Jackson und Maxwell Fyfe als Ankläger, Nikitschenko als Richter und Falco als Ersatzrichter wieder.

Das war ein Bruch mit dem Prinzip der Gewaltenteilung. »In jedem mir bekannten Rechtssystem wäre es möglich gewesen«, schrieb Otto Kranzbühler, Verteidiger des angeklagten Dönitz später, »solche Richter wegen Befangenheit abzulehnen.« Nicht so in Nürnberg. Denn Artikel 3 des Statuts lautete: »Weder der Gerichtshof noch seine Mitglieder oder Stellvertreter können von der Anklagebehörde oder dem Angeklagten oder seinem Verteidiger abgelehnt werden.«

Verfahren wurde nach amerikanischem Prozeßrecht - ein Handikap für die Verteidiger jedenfalls vor dem Militärtribunal. Richter waren zur Wahrheitsfindung nicht verpflichtet, Ankläger, anders als nach kontinentalem Recht, nicht gehalten, auch entlastendes Material vorzulegen und zu würdigen. Die Verteidigung, die kaum eigenen Zugriff auf deutsche und keinen auf ausländische Akten hatte, war folglich weitgehend darauf beschränkt, Belastungsmaterial zu entkräften.

Berufung auf höheren Befehl sollte Strafe nicht ausschließen, allenfalls das Strafmaß mildern, eine einleuchtende Regel, wenn sie nicht nur zu Lasten der Besiegten ausgelegt worden wäre; sie entsprach sogar dem deutschen Militärstrafgesetz von 1940. Danach machte sich mitschuldig, wer Befehle ausführte, die ein Vergehen oder Verbrechen bezweckten, und das auch wußte. Diese Vorschrift kollidierte aber mit entsprechenden amerikanischen und britischen Bestimmungen; darin war Befehlsnotstand verbrieft - bis 1944. Als die Kriegsverbrecherprozesse anstanden, wurde der Befehlsnotstand gestrichen, als sie vorüber waren, wurde Befehlsnotstand wieder eingeführt.

Inzwischen waren alliierte Greiftrupps ausgeschwärmt, um Kriegsverbrecher zu fangen. Auf ihren Suchlisten standen die Namen von über einer Million Deutschen; obenan 23 »Hauptkriegsverbrecher«. Im britischen Unterhaus verkündete Außenminister Anthony Eden: »Die größte Menschenjagd der Geschichte

ist im Gange von Norwegen bis zu den bayrischen Alpen.«

Als Eden das Treiben eröffnete, hielt Hermann Göring Hof, so gut es eben noch ging, auf Jagdschloß Mautersdorf bei Zell am See, mit Frau und Tochter, Gästen und Gesinde - fettwanstig (118 Kilo), eitel und morphiumsüchtig wie eh und je; täglich schluckte er an die hundert paracodeinhaltige Tabletten.

Am 9. Mai 1945, das Reich hatte vortags bedingungslos kapituliert, stellte sich Göring den Amerikanern, aber nicht bedingungslos. Er wollte mit General Eisenhower über den Frieden verhandeln - »von Mann zu Mann«. Auf einer Pressekonferenz fragte ein amerikanischer Journalist: »Wissen Sie, daß Sie auf der Liste der Kriegsverbrecher stehen?« Darauf Göring: »Nein. Das überrascht mich sehr, denn ich wüßte nicht, warum.«

Nach den Hauptkriegsverbrechern Karl Dönitz - unter Hitler Großadmiral und Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, nach Hitler neues Staatsoberhaupt -, Albert Speer - unter Hitler Rüstungsminister, unter Dönitz Wirtschafts- und Produktionsminister - und Generaloberst Alfred Jodl war Fahndung nicht erforderlich. Sie amtierten unter den Augen der britischen Besatzer am Sitz der provisorischen Reichsregierung in Flensburg. Jeden Morgen wurde die Reichskriegsflagge gehißt.

Auch der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, und der Reichskommissar für die besetzten Niederlande, Arthur Seyß-Inquart, hatten sich in diesen Tagen in Flensburg aufgehalten. Als Seyß-Inquart, mit einem Schnellboot, die Rückreise antreten wollte, stoppten die Kanadier das Schiff und nahmen ihn fest.

Fritz Sauckel, Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz, mithin Herr über fünf Millionen verschleppter Zwangsarbeiter, schnappten die Engländer ebenso wie den Blut-und-Boden-Philosophen Alfred Rosenberg, seit dem Überfall auf die Sowjet-Union 1941 Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, und Joachim von Ribbentrop, seit 1938 Hitlers dümmlicher Reichsaußenminister.

Baldur von Schirach, bis 1940 Reichsjugendführer, dann von Hitler als Gauleiter nach Wien abgeschoben ("Mein Führer, Wien ist judenfrei"), meldete sich freiwillig bei den Amerikanern. Wilhelm Frick, zehn Jahre Reichsinnenminister, ab 1943 Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, wurde in der Nähe Münchens von US-Offizieren »aufgepickt«, sein Vorgänger in Prag, Konstantin von Neurath (von 1932 bis 1938 Reichsaußenminister) in der französischen Zone verhaftet. Den Reichswirtschaftsminister Walther Funk erwischte es in Berlin, den Chef des berüchtigten Reichssicherheitshauptamtes (Gestapo und SD), Ernst Kaltenbrunner, in Österreich.

Robert Ley, Reichsorganisationsleiter der NSDAP und Chef der Deutschen Arbeitsfront, stöberten die Amerikaner in einer Almhütte in der Nähe von Berchtesgaden auf. Nach Einlieferung in das Kriegsverbrechergefängnis in Nürnberg erhängte er sich an dem Wasserklosett in seiner Zelle.

Auch Julius Streicher, Herausgeber des antisemitischen Hetzblattes »Der

Stürmer« und, bis 1940, Gauleiter von Franken, dessen veröffentlichte pornographische zoten schließlich selbst den Nazis peinlich wurden, hatte sich in die Bergwelt abgesetzt. US-Major Henry Blitt kam zufällig vorbei; er fragte, auf jiddisch: »Seid Ihr hier der Bauer?« Antwort: »Nein, ich wohne nur hier. Ich bin Künstler, verstehen Sie, Maler.«

Frage: »Was halten Sie von den Nazis?«

Antwort: »Davon verstehe ich nichts. Ich ... habe mich nie um Politik gekümmert.«

»Sie sehen aber aus wie Julius Streicher«, überraschte Blitt den Alten. »Woher kennen Sie mich?«

Als Streicher beim Divisionsstab abgeliefert wurde, schrieb ein amerikanischer Journalist: »Der größte Judenhasser der Geschichte« wurde »von einem Juden entdeckt und gefangengenommen«.

Generalgouverneur Hans Frank geriet Anfang Mai in amerikanische Kriegsgefangenschaft; er hatte versucht, sich die Pulsadern durchzuschneiden. Im Lager übergab er seinen Häschern 38 Kladden seines Dienst-Tagebuches. »Hier haben wir mit dreieinhalb Millionen Juden begonnen, von denen sind nur noch wenige Arbeitskompanien vorhanden«, stand darin, »die anderen sind - sagen wir einmal - ausgewandert.«

Hitlers einstiges Finanzgenie Hjalmar Schacht, bis 1938 Reichsbankpräsident, der nach dem mißglückten Attentat auf Hitler im Juli 1944 von der Gestapo eingesperrt worden war, befreiten die Amerikaner aus KZ-Haft. Ähnlich erging es Franz von Papen, auch er sah seine Befreiung nahe. Die Nazis hatten den Herrenreiter Papen, 1932 ein halbes Jahr Reichskanzler, 1933 Hitlers Steigbügelhalter und Vizekanzler, sodann Botschafter in Wien und Ankara, unter Gestapoaufsicht gestellt.

Die Ausbeute der Sowjets war mager. Sie fingen nur Großadmiral Erich Raeder, bis 1943 Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, in seiner Berliner Wohnung, und den Rundfunkkommentator Hans Fritzsche, Abteilungsleiter in Goebbels Propagandaministerium.

Schubweise wurden die Gefangenen in das Nürnberger Gerichtsgefängnis eingeliefert und in die Zelle gesperrt, einziges Mobiliar eine Pritsche, ein Tisch, ein Stuhl nebst Klo.

Aber Hitler, Goebbels, Himmler und Bormann fehlten. Hitler hatte sich im »Führerbunker« umgebracht. Er wollte nicht, wie er sagte, im Käfig durch Rußland geschleift werden.

Auch Goebbels, der den totalen Krieg ausgerufen und das Volk belogen und betrogen hatte, beging, gemeinsam mit seiner Frau, Selbstmord, nachdem die Eltern ihre sechs Kinder hatten töten lassen. Himmler, der den Terror im Lande und den Völkermord in den besetzten Gebieten organisiert hatte, nahm, in letzter Sekunde, von den Briten gefangen und schon identifiziert,

Zyankali. Bormann galt bei Kriegsende als verschollen.

Das Straf- und Weltgericht mußte sich also mit der zweiten und dritten NS-Besetzung bescheiden. »Nr. 1« war nun der schrullige Bonvivant Göring, der seit 1941 vorwiegend tragikomische Figur gemacht hatte. Entweder dämmerte er vor sich hin, oder er führte auf seinem Landsitz »Karinhall«, mal als Germane, mal als Waidmann gewandet, seine protzigen Operetten auf.

»Nr. 2« war der verwirrte Heß, seit 1941, seinem Ausflug nach England, außer NS-Betrieb, »Nr. 3« Ex-Außenminister Ribbentrop, der unter Hitler allzeit nichts zu melden hatte.

Aus dem Umfeld der Macht kam einzig Kriegsverlängerer Speer, der die Rüstung auf Hochtouren gebracht und dafür bedenkenlos die Sklaven aus den Ostvölkern verheizt hatte. Fünf nach zwölf, das Unternehmen war dem Technokraten zu riskant geworden, wollte er sich schnell noch absetzen.

Die Vollstrecker in Rußland, Polen und der Tschechoslowakei, Rosenberg, Frank und Frick, hätten leicht, wie üblich, in den Ländern abgeurteilt werden können, in denen sie ihre Taten begangen hatten. Fritzsche, Papen und Schacht waren auf der Nürnberger Anklagebank wirklich fehl am Platze. Sie wurden denn auch freigesprochen.

Vorschriftsmäßig vier Wochen vor der Eröffnung des Prozesses vor dem Internationalen Militärgerichtshof wurde die Anklageschrift zugestellt.

Anklagepunkt I/Gemeinsamer Plan, Verschwörung: _____« ... Der gemeinsame Plan oder Verschwörung stellte » _____« insofern die Begehung von Verbrechen gegen den Frieden » _____« dar, als die Angeklagten Angriffskriege planten, » _____« vorbereiteten, entfesselten und führten, die gleichzeitig » _____« Kriege unter Verletzung internationaler Verträge, » _____« Vereinbarungen und Zusicherungen waren ... Der gemeinsame » _____« Plan oder die Verschwörung hatte Verbrechen gegen die » _____« Humanität in Deutschland und den besetzten Gebieten zum » _____« Ziel ...: Ermordung, Vernichtung, Versklavung, » _____« Verschleppung und andere unmenschliche Akte gegen die » _____« Zivilbevölkerung. »

Anklagepunkt II/Verbrechen gegen den Frieden: _____« Alle Angeklagten, zusammen mit anderen Personen, » _____« nahmen in den Jahren, die dem 8. Mai 1945 vorausgingen, » _____« an der Planung, der Vorbereitung, der Entfesselung und » _____« der Führung von Angriffskriegen teil, die zugleich auch » _____« Kriege waren, die internationale Verträge, Abkommen und » _____« Zusicherungen verletzten. »

Anklagepunkt III/Kriegsverbrechen: _____« Sämtliche Angeklagten begingen vom 1. September 1939 » _____« bis 8. Mai 1945 Kriegsverbrechen in Deutschland und in » _____« allen von deutschen Truppen seit dem 1. September » _____« 1939 besetzten Ländern und Gebieten ... und auf hoher » _____« See. »

Anklagepunkt IV/Verbrechen gegen die Menschlichkeit: _____« In einer Reihe von Jahren vor dem 8. Mai 1945 haben » _____« sämtliche Angeklagten Verbrechen gegen die Humanität in » _____« Deutschland und in allen jenen Ländern, die von der » _____« deutschen Armee seit dem 1. September 1939 besetzt waren, » _____« sowie in Österreich, der Tschechoslowakei, in ltalien und » _____« auf hoher See begangen ... Ermordung, Ausrottung, » _____« Versklavung, Deportierung und andere unmenschliche » _____« Handlungen gegen Zivilbevölkerungen ... Verfolgung aus » _____« politischen, rassischen und religiösen Gründen. »

Nach dem Studium der Anklageschrift, in der seine und seiner Kumpane ungeheuerlichen Verbrechen detailliert aufgelistet waren, äußerte der Angeklagte Göring, er hatte abgespeckt, 35 Kilo, und war nach einer Entziehungskur von seiner Drogensucht geheilt, das für ihn Naheliegende: »Der Sieger wird immer der Richter und der Besiegte stets der Angeklagte sein.«

Ribbentrop jammerte: »Die Anklage ist gegen die verkehrten Personen gerichtet": Er dachte dabei an Hitler und Himmler.

Frank, in seiner Zelle in den Schoß der katholischen Kirche zurückgekehrt, betrachtete den Prozeß als »gottgewolltes Weltgericht«, während der besessene Antisemit Streicher bei seinen fixen Ideen blieb: »Dieser Prozeß ist ein Triumph des Weltjudentums.«

Sklaventreiber Sauckel wunderte sich plötzlich über »die Kluft« zwischen »seinem Ideal einer sozialistischen Gesellschaft und den schrecklichen Geschehnissen in den Konzentrationslagern«, und Speer erkannte, von Anbeginn auf die lebensrettende Balance zwischen Selbstanklage und Unwissen bedacht: »Eine Mitverantwortlichkeit für solch grauenvolle Verbrechen gibt es sogar in einem autoritären Staat«; seine eigene Schuld erschien ihm freilich »so fraglich ... wie die der übrigen«.

Die drei Militärs, Keitel, Jodl und Dönitz ("eine amerikanische Marotte"), begriffen nicht, wie »man nun die Gehorsamspflicht eines Soldaten leugnen könne«.

Derweil dämmerte Heß vor sich hin, wie meist im Verlauf des Verfahrens, mal schien er das Gedächtnis total, dann wieder nur partiell verloren zu haben, mal war er plötzlich hellwach. Zur Anklage meinte er nur: »I can''t remember.«

Als die Anklageschrift im Gerichtssaal verlesen wurde, über Stunden, wurden die Angeklagten »von einer unwiderstehlichen Schlafsucht befallen«, erzählte Häftling Fritzsche hernach dem Gefängnispsychologen Gustave M. Gilbert: »Einer nach dem anderen nickte ein ... Schließlich hockten und hingen wir alle so, daß wenigstens unsere Köpfe nicht sanken.« Die Posten, baumlange US-Militärpolizisten mit weißem Koppelzeug und blitzenden Helmen, griffen nur noch ein, »wenn jemand schnarchte«.

Alle Angeklagten bekannten sich im Sinne der Anklage nicht schuldig, die einen rundheraus, die anderen mit gewissen Schuldgefühlen - und tatsächlich waren sie es auch nicht, wenigstens in den Punkten I (Verschwörung), II (Verbrechen gegen den Frieden) und IV (Verbrechen gegen die Menschlichkeit), obgleich einige Angeklagte an Angriffskriegen und Völkermord durchaus beteiligt waren. Aber das waren, so absurd das erscheinen mag, nach geltendem Völkerrecht keine Straftatbestände.

»Was wir bei diesem Verfahren abschaffen wollen, ist die Diskussion darüber, ob die Handlungen Verletzungen des Völkerrechts sind oder nicht«, hatte, reichlich kühn, der britische Ankläger Maxwell Fyfe auf der Londoner Konferenz empfohlen: »Wir erklären einfach, was das Völkerrecht ist.« Danach wurde ausgiebig verfahren.

Aber ganz so einfach war das nicht. Insbesondere bei den langwierigen und kontroversen Beratungen über die Urteilsgründe für den Anklagepunkt I/Verschwörung, für die Amerikaner das »Herzstück« des ganzen Verfahrens, für die Franzosen hingegen »barbarischer Anachronismus«, taten sich einige Richter und Ersatzrichter schwer, das Recht zu beugen.

Der französische Richter Henri Donnedieu de Vabres, Rechtsprofessor an der Sorbonne, erhob massive Einwände und verlangte, den fragwürdigen Anklagepunkt gänzlich fallenzulassen. Nach angloamerikanischer Rechtspraxis, die keineswegs unumstritten ist, werden danach zwei oder mehrere Personen, Gangsterbanden, bestraft, die übereingekommen sind, ein Verbrechen zu begehen, und zwar für alle Straftaten, die einer der Verschwörer dabei begeht. Im kontinentalen Recht und im Völkerrecht fände sich dafür, so Donnedieu, keine Stütze, und selbst über die angloamerikanische Praxis ginge Punkt I noch weit hinaus; er konstatiere nämlich eine »Großverschwörung«, die 25 Jahre gedauert habe, von der Gründung der NSDAP, 1920, bis zur bedingungslosen Kapitulation des Reiches, 1945.

Den Angeklagten sei nicht zu beweisen, wann und wo sie sich zu Verbrechen verabredet hätten, kritisierte Donnedieu. Eine Verurteilung geschehe »ex post facto«, das hieße, eine Handlung würde rückwirkend zum Verbrechen erklärt und bestraft, nachdem sie begangen worden sei. Das jedoch verstoße gegen alle Rechtsgrundsätze.

Ebenso vehement vertrat der britische Ersatzrichter Norman Birkett, einer der bekanntesten Strafverteidiger seines Landes, die Gegenposition, ohne sich allerdings lange bei Lehrmeinungen aufzuhalten. Er sprach von einer »nationalen Katastrophe«, sollte das Gericht die Anklage wegen Verschwörung abweisen. Der Prozeß verlöre jeglichen Sinn und Wert. Einige Angeklagte könnten

zwar wegen Mordes, Beihilfe und Mitwisserschaft verurteilt werden, »das Naziregime aber würde freigesprochen«.

Der Russe Nikitschenko, dem die endlosen Beratungen dieser Materie erkennbar auf die Nerven gingen - er sei hier nicht in einem »Debattierklub« -, verwies auf die vom Gericht erkannte Notwendigkeit, neues Recht zu setzen; dazu sollten sich die Richter gefälligst bekennen und entsprechend verfahren.

Er und andere Richter stellten aber auch höchst vordergründige Erwägungen an. Wie sollten, beispielsweise, Angeklagte wie Fritzsche, Papen und Schacht verurteilt werden, wenn nicht als Verschwörer? Dabei hätte gerade der Hinweis auf diese Randfiguren des NS-Regimes die Verschwörertheorie erschüttern müssen.

Heraus kam schließlich ein Kompromiß. Der Beginn der Verschwörung wurde auf das Jahr 1937 datiert. Damals, am 5. November, hatte Hitler den Oberbefehlshabern der Wehrmacht seine Angriffspläne gegen Österreich und die Tschechoslowakei offenbart und auch schon sein »Volk ohne Raum«-Motiv anklingen lassen: »Zur Lösung der deutschen Frage könne es nur den Weg der Gewalt geben.« Das Beweisdokument, das sogenannte Hoßbach-Protokoll, lag dem Gericht vor.

Die Anklage wegen Verschwörung wurde nur in Verbindung mit Anklagepunkt II/Verbrechen gegen den Frieden (Angriffskrieg) zugelassen, im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit jedoch abgewiesen. Verurteilt wurden nach Punkt I acht Angeklagte, die sämtlich auch nach Punkt II für schuldig befunden worden waren. _(Verurteilt wurden: Göring, Heß, ) _(Ribbentrop, Keitel, Rosenberg, Jodl, ) _(Neurath, Raeder. )

Anklagepunkt II/Verbrechen gegen den Frieden ging auf hartnäckiges Betreiben der Sowjets zurück. Aber Angriffskriege waren zwar »geächtet«, jedoch nicht mit Strafe bedroht. Ein Völkerstrafrecht gab es und gibt es, beklagenswerterweise, bis heute nicht.

Der berühmte Briand-Kellogg-Pakt (so genannt nach den Außenministern Frankreichs und der USA), der 1928 den Krieg »für die Lösung internationaler Streitfälle« feierlich verdammt hatte, blieb eine »lex imperfecta«, »mehr ein Glaubensbekenntnis«, meinte der schwedische Außenminister Östen Unden, »als eine Strafbestimmung«, vergleichbar dem 5. Gebot: »Du sollst nicht töten.«

Die Völkerrechtsgemeinschaft brachte es nicht einmal fertig zu definieren, was Angriffskrieg, was erlaubter Verteidigungskrieg sei, und so blieb es beim vae victis - wehe den Besiegten. Strafsanktionen blieben gänzlich außer Betracht. Der Briand-Kellogg-Vertrag enthalte keine Strafandrohung, stellte der Auswärtige Ausschuß des amerikanischen Senats fest, »weder ausdrücklich noch stillschweigend«.

Und so geschah auch nichts, als beispielsweise 1931 die Japaner in die Mandschurei, 1935 die Italiener in Abessinien

einfielen oder, wiederum, Japan 1937 gegen die Chinesen zu Feld zog.

Formal völlig zu Recht erklärten mithin alle 40 Verteidiger vor dem Nürnberger Militärgericht in einer Gesamteingabe: »Der jetzige Prozeß kann sich deshalb, soweit er Verbrechen wider den Frieden ahnden soll, nicht auf geltendes Völkerrecht stützen, sondern ist ein Verfahren auf Grund eines neuen Strafgesetzes ... das erst nach der Tat geschaffen wurde. Dies widerspricht einem in der Welt geheiligten Grundsatz der Rechtspflege.«

Ankläger und Richter wiesen den Einwand ab: US-Chefankläger Jackson sagte: »Die allergeringste Folge der Verträge, die den Angriffskrieg für widerrechtlich erklärten, ist, jedem, der dennoch einen solchen Krieg anstiftet oder entfesselt, jeglichen Schutz zu nehmen, den das Gesetz je gab.«

Und das Gericht befand: »Zu behaupten, daß es ungerecht sei, jene zu bestrafen, die unter Verletzung von Verträgen und Versicherungen Nachbarstaaten ohne Warnung angegriffen haben, ist offenbar unrichtig, denn unter solchen Umständen muß der Angreifer wissen, daß er unrecht hat, und weit davon entfernt, daß es ungerecht wäre, ihn zu strafen, wäre vielmehr ungerecht, wenn man seine Freveltat straffrei ließe.« _(Verurteilt wurden: Göring, Heß, ) _(Ribbentrop, Keitel, Rosenberg, Frick, ) _(Funk, Jodl, Seyß-Inquart, Neurath, ) _(Raeder, Dönitz. )

Ungerecht wäre es ganz gewiß, unerträglich auch, aber nach geltendem Völkerrecht war das, beklagenswerterweise, Rechtens.

Schier unerträglich war die Lücke zwischen Recht und Gerechtigkeit, den Normen des Vökerrechts und dem Weltgewissen, die sich im Hinblick auf Anklagepunkt IV/Verbrechen gegen die Menschlichkeit auftat. Völkermord, Holocaust und Verfolgung aus politischen, rassischen, religiösen Gründen solchen Ausmaßes hat es bis dahin in der Geschichte der Menschheit nicht gegeben. Daß der Tatbestand, das Gesetz und die Strafandrohung fehlten, lag folglich auch in den Untaten selbst begründet.

Aber strafrechtliche Verfolgung gegen Schuldige vor internationalen Gerichten, das war neu. Sie widersprach dem traditionellen Völkerrechtsdenken fundamental, für das der souveräne Staat einziges Rechtssubjekt war.

Das Nürnberger Gericht brach mit diesem Prinzip. Es sollten nicht nur die Mörder zur Rechenschaft gezogen werden, sondern eben auch die verantwortlichen, wenngleich nicht unmittelbar tatbeteiligten Staatsmänner, Militärs, Gestapochefs - die Schreibtischtäter. »Die Untergebenen waren«, geißelte Jackson die bis dahin gängige Rechtspraxis, »gegen eine Haftung durch die Befehle ihrer Vorgesetzten geschützt. Die Vorgesetzten waren gedeckt, weil ihre Befehle als Staatsakte bezeichnet wurden« - damit

sollte nun Schluß gemacht werden. Das Gericht verurteilte 16 Angeklagte nach Punkt IV der Anklage. _(Verurteilt wurden: Göring, Ribbentrop, ) _(Keitel, Kaltenbrunner, Rosenberg, Frank, ) _(Frick, Streicher, Funk, Sauckel, Jodl, ) _(Seyß-Inquart, Speer, Neurath, Bormann, ) _(Schirach. )

Auf festerem Rechtsgrund standen die Richter dagegen bei der Verurteilung nach Anklagepunkt III/Kriegsverbrechen. Hier ahndeten sie Verletzungen des geltenden Kriegsrechts, der Haager Landkriegsordnung von 1907 und verschiedener Genfer Konventionen, die in der Zwischenkriegszeit zustande gekommen waren. _(Verurteilt wurden: Göring, Ribbentrop, ) _(Keitel, Kaltenbrunner, Rosenberg, Frank, ) _(Frick, Funk, Sauckel, Jodl, ) _(Seyß-Inquart, Speer, Neurath, Bormann, ) _(Raeder, Dönitz. )

Am 1. Oktober 1946 sprach der Internationale Militärgerichtshof die Urteile: zwölfmal Tod durch Strang; dreimal lebenslange Haft (Heß, Funk, Raeder); zweimal 20 Jahre (Schirach, Speer); einmal 15 Jahre (Neurath); einmal zehn Jahre (Dönitz); drei Freisprüche (Fritzsche, Papen, Schacht). Das Führungskorps der NSDAP, Gestapo, SD und SS wurden zu »verbrecherischen Organisationen« erklärt.

»Tod«, pustete Göring und ließ sich auf seine Pritsche fallen. »Er atmete schwer«, beobachtete Gefängnispsychologe Gilbert, »als kämpfte er einen seelischen Kollaps nieder.«

»Tod, Tod«, stöhnte Hitlers Außenminister von Ribbentrop: »Soviel Haß.« Keitel, einst OKW-Chef, salutierte, als Gilbert seine Zelle betrat: »Tod durch den Strang. Das, dachte ich, würde mir wenigstens erspart bleiben«; er hatte sich die Kugel gewünscht. Reichsprotektor Frick »hatte nichts anderes erwartet": »Hängen ... Nun, ich hoffe, sie bringen es schnell hinter sich.«

Ex-Reichsminister Funk konnte es nicht fassen: »Lebenslänglich ... Sie werden mich doch nicht mein ganzes Leben lang im Gefängnis behalten?« Heß wußte wieder einmal von nichts; bei der Urteilsverkündung habe er nicht zugehört. Speer wollte sich »nicht beklagen": »20 Jahre, nun, das ist gerecht genug.« Für die drei Freigesprochenen gab es an diesem Tag je eine Apfelsine extra.

Nach der Exekution der Todeskandidaten, in der Nacht zum 16. Oktober 1946, wurden die großdeutschen Leichen verbrannt, die Asche, bei Nacht und Nebel, in die Isar gekippt.

Tags drauf schrubbten die Häftlinge Heß, Schirach und Speer, nun kahlgeschoren und in amerikanischen Drillich gesteckt, die Turnhalle des Justizpalastes in Nürnberg.

Untere Bankreihe: Göring, Heß, Ribbentrop, Keitel, Rosenberg; obereReihe: Dönitz, Raeder, Schirach, Sauckel.Mit Ehefrau Hermine.Verurteilt wurden: Göring, Heß, Ribbentrop, Keitel, Rosenberg, Jodl,Neurath, Raeder.Verurteilt wurden: Göring, Heß, Ribbentrop, Keitel, Rosenberg,Frick, Funk, Jodl, Seyß-Inquart, Neurath, Raeder, Dönitz.Verurteilt wurden: Göring, Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner,Rosenberg, Frank, Frick, Streicher, Funk, Sauckel, Jodl,Seyß-Inquart, Speer, Neurath, Bormann, Schirach.Verurteilt wurden: Göring, Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner,Rosenberg, Frank, Frick, Funk, Sauckel, Jodl, Seyß-Inquart, Speer,Neurath, Bormann, Raeder, Dönitz.

Wolfgang Malanowski
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