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BAADER/MEINHOF Richtige Richtung

Platzt der Mahler-Prozeß? Der fragwürdige Beschluß des Bundesgerichtshofs in der Kassiber-Affäre gegen Rechtsanwalt Schily bringt jetzt auch die Berliner Justiz in ein Dilemma.
aus DER SPIEGEL 37/1972

Joachim Stancke, Rechtsanwalt und Bundesgeschäftsführer der FDP, qualifizierte den hohen Richterspruch als »geradezu unglaublich«. »Massives Unbehagen« empfand in München die liberale »Süddeutsche Zeitung«, die »Frankfurter Rundschau« notierte »Willkür«.

Die Urteilsschelte gilt einer Entscheidung dreier Richter vom 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, die letzte Woche eine Beschwerde des Berliner Strafverteidigers Otto Schily verwarfen und ihn weiterhin von der Verteidigung seiner Mandantin Gudrun Ensslin ausschlossen.

Der Berliner Anwalt hatte am 12. Juni zweieinhalb Stunden mit der in Essen inhaftierten Baader-Meinhof-Genossin unbeaufsichtigt beraten. Als die Kripo drei Tage später bei der gerade festgenommenen Ulrike Meinhof einen brisanten Ensslin-Kassiber fand, demonstrierten Kriminalpolizei, Bundesanwaltschaft und Ermittlungsrichter prompt Dreieinigkeit der Strafverfolgung. Sie behaupteten, was sie nicht beweisen können: Der Anwalt habe den Kassiber transportiert -- einzige Begründung: Nur Schily sei unbeaufsichtigt mit Gudrun Ensslin zusammengetroffen.

Inzwischen steht fest, daß die Begründung für den Schily-Ausschluß falsch war. Letzte Woche deckte der SPIEGEL auf, daß auch zwei Ensslin-Bewacherinnen in der Essener Haftanstalt mehrfach allein mit der Inhaftierten zusammen waren und überdies die »absolut perfekten« Sicherheitsmaßnahmen (NRW-Justizminister Neuberger) dem Anstaltspersonal weder hinreichend bekanntgemacht noch von ihm eingehalten wurden (SPIEGEL 36/1972).

Deutschlands oberste Strafrichter in Karlsruhe fochten solche Tatsachen nicht an. Sie boten vielmehr ein »eindringliches Beispiel dafür, wie zu Lasten des Betroffenen eine schwerwiegende Entscheidung auch allein auf Verdachtsmomente gestützt werden kann, wenn nur die richtige Richtung eingeschlagen wird.

Große Worte machten die drei hohen Richter über die Funktion des Rechtsanwalts, »dessen Beruf ein ethischer Gehalt auszeichnet« und dessen Tätigkeit als »Organ der Rechtspflege ... der Aufrechterhaltung der staatlichen Rechtsordnung« dient. Acht Seiten weiter in ihrer Entscheidung begründen sie freilich, weshalb dem Unschuldsbekenntnis zweier Hilfskräfte vom Anstaltspersonal mehr Glaubwürdigkeit zukommt als der inhaltsgleichen Aussage von Rechtsanwalt Schily: »Eine so grobe Pflichtwidrigkeit einer Anstaltsbediensteten« sei »in hohem Maße unwahrscheinlich«.

»Schwer erklärlich« ist den Bundesrichtern, warum Gudrun Ensslin »nicht ganz konkret angibt, an wen, zu welcher Zeit und unter welchen näheren Umständen sie den Kassiber übergeben hat«. Tatsächlich liegt die Erklärung nahe: Der Kassiber enthält die Selbstbezichtigung, die Genossin habe bei ihrer Festnahme zu schießen versucht. So muß es im Interesse der Baader-Freundin liegen, nicht einmal die Autorenschaft der Kassiber-Nachricht einzugestehen, zumal die gefundene Botschaft auch nicht von ihrer Hand stammt, sondern auf einer elektrischen IBM-Schreibmaschine getippt war.

Daß die Nachbar-Zelle von Gudrun Ensslin -- den Sicherheitsanweisungen zuwider -- nicht geräumt, sondern wochenlang mit bis zu sechs Insassinnen belegt war und deshalb ein Kassiber von Zellenfenster zu Zellenfenster hätte »gependelt« werden können, übergehen die hohen Richter mit einem Satz.

Die Möglichkeit schließlich, Gudrun Ensslin habe die Botschaft von ihrem Zellenfenster per Sichtkontakt zu dem etwa 130 Meter entfernten, für jedermann zugänglichen Korridor des benachbarten Landgerichts übermittelt. taten die Karlsruher Bundesrichter mit einem Argument aus dem vorigen Jahrhundert ab: Der Empfänger hätte die umfangreiche Botschaft ablesen und mühevoll »wieder zu Papier gebracht haben« müssen.

Daß er den Inhalt des mit einem Feldstecher auf diese Entfernung gut lesbaren Schriftstücks gleich auf Tonband gesprochen haben oder -- noch einfacher -- das Papier mit einem Teleobjektiv (bei einer Brennweite von 800 mm auf 130 Meter Entfernung sind Buchstaben bis zu einem Zentimeter Größe erfaßbar) abgelichtet haben könnte, hat sich den hohen Richtern in ihren stillen Stuben der abgeschiedenen alten Residenzstadt nicht erschlossen.

»Vor allem aber« -- so die Karlsruher Spruchweisheit -- »müssen hier die in erheblichem Umfange gleichgerichteten Interessen Berücksichtigung finden, die Beschuldigten und Verteidiger verbinden.« »SZ«-Kommentator Müller-Meiningen: »Das besagt doch im Klartext gar nichts anderes, als daß Verteidiger gemeinhin Komplicen ihrer Mandanten sind«

Der forsche Pauschalverdacht in linke Richtung, der hier mit Schily einen Strafverteidiger eher liberaler Prägung trifft, kann kaum überraschen. Denn maßgeblich beteiligt an dem Richterspruch des Dreierkollegiums ist mit Bundesrichter Albrecht Mayer, dem stellvertretenden Senatsvorsitzenden, ein Mann, der seiner rechten Gesinnung kaum richterliche Zurückhaltung anlegte. Als überzeugter Anhänger des unverhüllt rechts-reaktionären »Deutschland-Magazins« gab er sich in einem Leserbrief selber zu erkennen:

Da ich das 'Deutschland-Magazin' für eine Zeitschrift halte, der weiteste Verbreitung zu wünschen ist und die tatkräftige Unterstützung verdient, habe ich mir weitere Exemplare kommen lassen und sie an Freunde versandt und verteilt. Bundesrichter Albrecht Mayer,

Karlsruhe, Wichtelmännerweg 19. Die Karlsruher Schily-Entscheidung setzt nicht nur die Existenz eines renommierten Strafverteidigers aufs Spiel, sie bringt auch die Berliner Justiz in ein Dilemma: Im Oktober soll vor dem Kammergericht der längst fällige Prozeß wegen der drei Banküberfälle vom 29. September 1970 gegen Horst Mahler beginnen. Verteidiger: Rechtsanwalt Schily. Wird (was zu befürchten ist) Schily nun auch im Mahler-Verfahren ausgeschlossen, so kann der Prozeß in diesem Jahr kaum mehr beginnen -- jeder neue Verteidiger müßte sich in die umfangreichen Akten erst einarbeiten.

Platzt fürs erste der Mahler-Prozeß, so ist auch ein anderes Berliner Großverfahren gegen BM-Genossen gefährdet, das zur selben Zeit und mit gleichem Prozeßstoff vor der 2. Strafkammer beim Landgericht stattfinden sollte

gegen die Angeklagten Monika Berberich, Brigitte Asdonk, Ingrid Schubert, Irene Goergens, Eric Grusdat und Hans-Jürgen Bäcker.

Beide Verfahren sollten parallel laufen, um die vorgesehenen 322 Zeugen und 18 Sachverständigen nicht zweimal anreisen lassen und vorladen zu müssen. Eine Verschiebung würde bedeuten, daß dann die minderbelasteten Angeklagten Monika Berberich und Brigitte Asdonk, deren überlange U-Haft ohnehin schon zahlreiche Beschwerden ausgelöst hat und die im nächsten Monat zwei Jahre lang eingesperrt sind, unverschuldet auf weiterhin unabsehbare Zeit in ihren Zellen warten müßten.

Anwalt Schily, der gegen den fragwürdigen Richterspruch Verfassungsbeschwerde einlegen und eine einstweilige Anordnung beantragen will, überblickt die Lage einstweilen mit Selbstironie: »Jetzt bin ich ja wohl Mitglied einer kriminellen Vereinigung.«

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