OSTBLOCK / NATIONALKOMMUNISMUS Risse im Monolith
Drei Tage weilte Bulgariens Premier Todor Schiwkoff in Moskau. Dann war das Geschäft perfekt: Moskau bewilligte den. Bulgaren einen Kredit über 1,3 Milliarden Mark. Nach Sofia zurückgekehrt, berief Schiwkoff sein Zentralkomitee ein, um den Kreml in einer Entschließung seiner »grenzenlosen Dankbarkeit« und unverbrüchlichen Treue zu versichern.
Drei Wochen danach, am Montag der vorletzten Woche, empfing Sowjetpremier Nikita Chruschtschow an seinem Urlaubsort in Gagra einen anderen Balkan-Gast: den rumänischen Ministerpräsidenten Ion Gheorghe Maurer. Im Gegensatz zu Schiwkoff kam Maurer nicht, um gegen harte Rubel Treueschwüre an der Kremlmauer abzulegen.
Der Rumäne war soeben aus Peking zurückgekehrt, wo er in selbstgewählter Mission und ohne Genehmigung Moskaus erfolglos versucht hatte, im soWjetisch-chinesischen Streit zu vermitteln. Selbstbewußt berichtete er Chruschtschow über seine Gespräche mit Mao Tse-tung.
Das unterschiedliche Auftreten des Bulgaren und des Rumänen bezeichnet eine Spanne der Unabhängigkeit, die es heute der westlichen Diplomatie versagt, Polen, Tschechen, Ungarn und Rumänen pauschal als Sowjetsatelliten abzuqualifizieren.
Immer deutlicher zieht in Osteuropa der alte Nationalismus, wenn auch unter neuen Vorzeichen, wieder ein, und mit ihm kehren die alten außenpolitischen Fronten zurück, die einst den Balkan zerklüfteten.
Die nationalkommunistischen Risse im monolithischen Gefüge des Ostblocks sind eine unmittelbare Folge des sowjetisch-chinesischen Zerwürfnisses. Seit den kleineren Kommunistischen Parteien des Sowjetblocks aufgegangen ist, daß der große sowjetische Bruder nicht mehr allmächtig ist, sind sie selbstbewußt und ungeduldig geworden.
Am weitesten wagten sich die Rumänen vor. Schon im Dezember 1962 riskierte es die Bukarester Zeitschrift »Anali«, den sowjetischen Historiker Uschakdw wegen Fälschungen der Parteigeschichte öffentlich zurechtzuweisen.
Uschakow hatte den Anteil der rumänischen KP am Staatsstreich des 23. August 1944 unterschlagen, durch den damals Rumäniens faschistischer Diktator Antonescu gestürzt wurde. Seit der »Anali«-Attacke gilt der 23. August als die Geburtsstunde des rumänischen Nationalkommunismus.
Ähnliche Korrekturen nahmen die polnischen, slowakischen und ungarischen Kommunisten an ihrem nationalen Geschichtsbild vor: Der Warschauer Aufstand vom 1. August 1944, die slowakische Partisanenerhebung von Neusohl in derselben Zeit, die ungarische Kapitulation vom 15. Oktober 1944 -
immer wieder waren die osteuropäischen Kommunisten bemüht, ihren eigenen Beitrag zu der Befreiung ihrer Länder auf Kosten der sowjetischen Waffentaten herauszustreichen.
Die neuen Thesen spiegelten das Gedankengut einer kleinen, aber entschlossenen Gruppe ehemaliger kommunistischer Partisanen wider, die im Zweiten Weltkrieg im Untergrund gegen die Deutschen und die mit ihnen verbündeten Regierungen gekämpft hatten.
Nach der Befreiung setzten zunächst die Sowjets die im Troß der roten Besatzungsheere mitgeführten Moskau -Emigranten in die Schlüsselstellungen ein: Bierut in Polen, Rákosi und Gerö in Ungarn, Anna Pauker in Rumänien, Dimitroff in Bulgarien, Siroky in der Tschechoslowakei.
Jahrelang regierten sie nach Moskaus Willen. Doch dann übernahm die Generation der im Lande gebliebenen Expartisanen die Macht: Gomulka in Polen, Kádár in Ungarn, Schiwkoff in Bulgarien, Gheorghiu-Dej in Rumänien, Lenart in der Tschechoslowakei.
Mit dem Aufstieg dieser Männer in die nationalen Führungspositionen vollzog sich zugleich ein fühlbarer Wandel im innenpolitischen Klima der Ostblockländer. Die byzantinische Anhänglichkeit an das sowjetische Vorbild - Hauptmerkmal der alten stalinistischen Führungsschicht - machte mehr und mehr einem betont nationalen Unabhängigkeitsbewußtsein Platz.
Die Rumänen folgten als erste dem polnischen Beispiel und begannen, ihr
Land gründlich zu entrussifizieren. Durch geschicktes Manövrieren gelang es Staats- und Parteichef Gheorghiu-Dej, sich den wirtschaftlichen Integrationswünschen des Kreml zu widersetzen und den Grundsatz einer nationalen Wirtschaftsplanung zu verteidigen.
Auch in der Außenpolitik zeigte Bukarest Eigenwilligkeit. Als im vergangenen November der Sowjetblock gegen eine Uno-Resolution über die Errichtung einer kernwaffenfreien Zone in Lateinamerika stimmte, enthielt sich der rumänische Vertreter demonstrativ der Stimme. Das war das erste Mal, daß der Ostblock in der Uno nicht geschlossen auftrat.
Rumäniens Regierung ließ das von den Sowjets geförderte Maxim-Gorki-Institut in Bukarest schließen und mit der Universität verschmelzen. Russisch als Pflichtfach wurde in den Lehrplänen gestrichen. Im Oktober stellte die Moskauer Wochenschrift »Neue Zeit« ihre rumänische Ausgabe »mangels Nachfrage« ein. Die in Prag erscheinende Zeitschrift »Probleme des Friedens und des Sozialismus« hatte schon vorher ihre Rumänien-Redaktion aufgelöst.
Eine russische Buchhandlung verschwand aus dem Straßenbild von Bukarest. Hotels und Kinos legten ihre russischen Bezeichnungen ab.
Sogar die amtliche rumänische Landesbezeichnung »Rominia«, die erst 1953 angenommen worden war, wurde stillschweigend durch die traditionelle Form »Romania« ersetzt.
Auch in den anderen Ostblockstaaten griff der nationalistische Virus um sich.
Einer der führenden tschechischen Wirtschaftler, der Prager Professor Ota Sik, bezweifelte auf einer ZK-Tagung Ende Dezember offen die Allgemeinverbindlichkeit des sowjetischen Vorbilds. Und Radio Preßburg kündigte die Wiedereinführung von Uniformen und Rangabzeichen der alten tschechoslowakischen Armee an.
Mit dem nachlassenden sowjetischen Druck flammten aber sogleich auch die traditionellen Eifersüchteleien unter den Balkanvölkern wieder empor.
Auf einer Konferenz in Budapest beschlossen Ungarn und Bulgarien eine Teilintegration ihrer Volkswirtschaften, was Bukarest prompt als einen Versuch deutete, die traditionelle Frontstellung der beiden einstigen Achsenpartner gegen Rumänien durch ein ungarisch bulgarisches Sonderbündnis wiederzubeleben.
Der Kreml suchte sich den national kommunistischen Strömungen anzupassen, um seine durch den Moskau -Peking-Streit bedrohte Vormachtstellung auf dem Balkan nicht zu verlieren.
Ende Februar ging über den sowjetischen Musterschüler Bulgarien ein Rubel-Regen nieder. Die »Prawda« lobte in einer Grußadresse den Bulgaren -Premier Schiwkoff als »einen der Führer des antifaschistischen Volksaufstands vom 9. September 1944«.
Den anderen Gegenspieler des aufsässigen Rumäniens, die Volksrepublik Ungarn, will Sowjetherrscher Chruschtschow bei einem Besuch in Budapest Anfang April in die gewünschte Richtung dirigieren. Als Gastgeschenk erhoffen Ungarns Kommunisten von Chruschtschow ein feierliches Versprechen: den Abzug der noch im Lande verbliebenen vier Sowjetdivisionen bis zum Jahresende.
Ehemalige Moskau-Emigranten Bierut, Anna Pauker, Dimitroff, Rákosi: Die Macht in den Satelliten ...
... einer neuen Generation überlassen: Ehemalige Partisanen Gomulka, Gheorghiu-Dej, Schiwkoff, Kádár