DDR / SCHACHDORF Roch und Schleich
Im DDR-Dorf Ströbeck im Harzvorland betrachtete ein Berliner Tourist einen alten Turm. Die Gemeindeschwester ging vorüber. »Der Gunzelin«, rief sie dem Fremden zu, »ist nicht mehr da!«
Denn der Gunzelin ist, wenn er überhaupt gelebt hat, vor fast tausend Jahren gestorben.
Ein Graf Gunzelin soll, so berichtet die Ströbecker Sage, der erste Schachspieler des Dorfes gewesen sein: Als Gefangener des Bischofs Arnulf von Halberstadt habe er in dem Turm seine Wärter das Spiel gelehrt.
Was auch damals geschehen sein mag und was auch seither in Deutschland geschehen ist: Über die Zeiten haben die -- heute 1200 Ströbecker den Ruhm ihres Ortes gerettet, das einzige Schachdorf der Welt zu sein.
Wie ihre Großeltern zu Wilhelms und ihre Eltern zu Hitlers Zeiten lernen die Jung-Ströbecker das Schachspielen in der Schule: Von der fünften bis zur siebten Klasse ist eine Wochenstunde Pflicht. Wie für Rechnen und Turnen gibt es Zensuren auch für den Umgang mit König und Turm. Und wie früher gibt es alljährlich ein Turnier der Schach-Schüler. Die Besten erhalten Preise aus der Dorfkasse.
Gelegentlich kommt ein SED- oder Staatsfunktionär aus der Kreisstadt
* Bei einer »Schacholympiade« in Leipzig 1960.
Halberstadt, der Bezirksstadt Magdeburg oder sogar aus Ost-Berlin vorbei. Wenn er es nicht mit den Ströbeckern verderben will, muß er mitspielen. Und ob er verliert oder gewinnt: Er darf sich ins »Fremdenbuch des Ströbecker Schachvereins« eintragen, das seit 1886 geführt wird. Dort blieben nach 1933 Namen von Juden, dort blieb nach 1845 der Name des Husaren-Marschalls von Mackensen ungelöscht.
Bevor über Gäste und Gönner Buch geführt wurde, hatten für und in Ströbeck schon Kaiser und Könige Geschichte gemacht. In einer Urkunde des Königs (und späteren Kaisers) Heinrichs II. wurde der Ort 1004 erstmalig genannt. 1601 erwähnte ein Chronist, daß die Ströbecker in einem Räuberspiel, das gewöhnlich Schach genannt wird«, allen überlegen seien. 1651 stiftete der Große Kurfürst »aus sondern Gnaden« je ein silbernes und ein elfenbeinernes Schachspiel; das silberne verschwand bald, das elfenbeinerne blieb. 1744 inspizierte Friedrich der Große den Ort -- nur des Schachruhms seiner Bewohner wegen.
Oft wird bei hohem Besuch der Dorfplatz zum Schachbrett, wenn 32 Ströbecker sich als Schachfiguren verkleiden und mit sich spielen lassen. Gelegentlich geben Ströbecks lebende Schachfiguren auch Gastspiele. Den Amerikanern gefielen 1945 die Schach-Kostüme so gut, daß sie die bunten Röcke requirierten. Als die Russen kamen, haben
Stets hielten die Ströbecker auf Tradition. Lange spielten sie -- so ein Bericht aus dem Jahre 1616 -- »auf dreyerley Art«, am liebsten auf 96 (statt später auf 64) Feldern, mit 48 (statt 32) Figuren und in der Aufstellung »Roch, Springer, Schütze, Courier, Mann, König, Fers, Schleich«, statt (wie heute) »Turm, Springer, Läufer, Dame, König«.
Auch als die Ströbecker Bauern ihre Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft gründen mußten, hielten sie am alten fest. In anderen Dörfern gaben die Landwirte ihren Genossenschaften moderne Namen: Sie entschieden sich für ein Datum (etwa »7. Oktober«, in Würdigung des Jahrestages der DDR-Gründung), einen Namen (etwa »Walter Ulbricht"), ein Naturbild (etwa »Grüne Eiche«, »Frischer Wind") oder ein Zukunftswort (etwa »Sieg des Sozialismus").
Nicht so die Ströbecker. Sie blieben ihrer Vergangenheit treu. Ihrer Genossenschaft gaben sie den Namen »Zum Schachspiel«. Dann gingen sie über den Dorfplatz (Name: »Zum Schachspiel") ins Gasthaus (Name: »Zum Schachspiel"). Und dort taten sie manchen Zug.