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Artikel 35 / 65

ROCHADE AUF DEM ROTEN PLATZ

aus DER SPIEGEL 47/1964

Eine magische Gewalt, die ihre Kraft aus Furcht und Aberglauben bezieht, scheint Männer und Frauen zu treiben, wenn sie nach kurzer Andacht das Heiligtum der sowjetischen Staatsreligion, das Lenin-Mausoleum auf dem Roten Platz in Moskau, verlassen.

Es zieht sie unwiderstehlich zu einem niedrigen, hinter Tannen verborgenen Hügel zwischen dem Mausoleum und der Kreml-Mauer, wo sie kurz ihre Schritte verhalten und verstohlen, aber doch aufmerksam auf eine dunkelgraue Marmorplatte hinabstarren, als wollten sie sich davon überzeugen, daß diese Platte noch immer fest und unverrückt an dem ihr zugewiesenen Platz liegt. Das Marmor-Geviert trägt die Inschrift »J.W. Stalin 1879-1953«.

Der gleichmäßige Schritt des Sowjetsoldaten, der mit geschultertem Gewehr zwischen der Rückfront des Mausoleums und dem Stalin-Grab hin und her patrouilliert, und der unversehrte Zustand des Marmorsteins, den keine Blume schmückt, scheinen eine beruhigende, die Magie lösende Wirkung auf die Betrachter auszuüben: Es sieht nicht nach einer Wiederauferstehung des blutrünstigen Kreml-Abgottes aus; nach einer späten Rache Stalins an Nikita Chruschtschow, der ihn aus dem Olymp des Kommunismus vertrieben hat.

Unmittelbar nach der Entmachtung Chruschtschows glaubten viele Sowjetbürger allerdings das Stalin-Gespenst hinter den Kreml-Mauern rumoren zu hören. Doch die Ängste der ersten Tage nach Chruschtschows Fall haben sich bereits im drastischen russischen Volkswitz entladen: Chruschtschow kommt in den Himmel und trifft dort Stalin, dem er erregt von der Entlassung aus seinen Ämtern berichtet. Stalin antwortet voller Schadenfreude: »Das habe ich kommen sehen, Nikita, hättest du mal deinen Mist mehr auf die Felder und weniger auf mich geschmissen.«

In dem gutmütigen Spott über den dilettantischen Agrarpolitiker Chruschtschow liegt die Anerkennung, daß er ein Feld gut bestellt hat: die Entstalinisierung. Selbst einer der letzten und mächtigsten Stalinisten, der Pekinger Ministerpräsident Tschou En-lai, der in diesem Monat nach dem Sturz seines erbittertsten Widersachers Chruschtschow wie ein triumphierender Deus ex China nach Moskau kam, wagte nur

verstohlen, Stalins Geist zu beschwören. Statt einen Kranz an Stalins Grab niederzulegen wie vor drei Jahren, als er nach dem ersten großen Streit mit Chruschtschow während des XXII. Parteitages Moskau erzürnt verließ, verharrte er diesmal nur 30 Sekunden andachtsvoll am Grab des aus dem Mausoleum ausquartierten Tyrannen. Überschwengliche Freude über den Besuch Tschou En-lais schienen Chruschtschows Nachfolger, Parteichef Breschnew und Ministerpräsident Kossygin, nicht zu empfinden. Zwar hatten sie Peking zum 47. Jahrestag der Oktober-Revolution eingeladen, aber nicht damit gerechnet, daß Chinas zweitstärkster Mann kommen würde. Sie fürchteten, Tschou En-lais Besuch würde den Eindruck erwecken, daß sie sich beim Sturz Chruschtschows chinesischen Forderungen gebeugt hätten. Bei den Revolutionsfeiern gebührte dem Gast aus Peking nun der Ehrenplatz.

Tschou En-lai nahm diesen Platz mit der Haltung des Siegers ein. Er war nicht gekommen, um vor Chruschtschows Nachfolgern Kotau zu machen. Zwischen den kompakten Gestalten des derzeitigen Führerkollektivs, zwischen Breschnew, Kossygin, Marschall Malinowski, Staatspräsident Mikojan und dem mächtigen Ukrainer Podgorny, sah der schmale Tschou En-lai, in dessen hagerem Gesicht Augen und Augenbrauen kräftig wie mit schwarzer chinesischer Tusche eingezeichnet scheinen, nach einem Asketen, einem Verkünder der reinen Lehre in einer Gruppe von Weltgeistlichen aus, die irdischen Genüssen nicht abgeneigt sind.

Tschou En-lai war auch nicht gekommen, um Abstriche von dieser Lehre hinzunehmen. Nach den Revolutionsfeiern verhandelte er in der vergangenen Woche hart mit Breschnew und Kossygin und rang ihnen zwei Zugeständnisse ab: Vertagung der noch von Chruschtschow für den 15. Dezember einberufenen Vorbereitungskonferenz für ein Gipfeltreffen aller kommunistischen Parteien und zweiseitige sowjetisch-chinesische Beratungen in Peking, womit die Sowjets zum erstenmal die Existenz eines kommunistischen Byzanz neben einem kommunistischen Rom anerkennen.

Offensichtlich hatte es nicht genügt, daß Verteidigungsminister Malinowski schon bei den Revolutionsfeiern zweimal auf die antiamerikanische Propagandalinie eingeschwenkt war.

In Malinowskis Rede auf dem Roten Platz fiel der Hieb gegen die USA zunächst nicht sonderlich auf. Schon zu Chruschtschows Zeiten durfte sich der Marschall bei der November-Parade austoben und das Arsenal seiner Kraftworte gebündelt wie eine Vier-Stufen -Rakete in die Luft jagen. Verglichen mit früheren Jahren, schien Malinowski diesmal sogar milde gestimmt. Zweieinhalb Zentner mühsam in die Uniform eingeschnürt, stand er wie ein Rocher de bronze auf der Tribüne des Lenin -Mausoleums, ein kriegerisches Denkmal auf dem Sockel aus rotem Porphyr, der Lenins Sarkophag umgibt.

An Malinowskis Seite wechselten die mächtigen Staats- und Parteifunktionäre: Mal flankierten ihn Mikojan und Podgorny, mal Breschnew und Kossygin oder der Partei-Ideologe Suslow und Tschou En-lai. Die häufige Rochade auf der Tribüne diente den Präsidiumsmitgliedern des ZK offensichtlich nicht nur zum Vertreten und Anwärmen der Füße. Den Kreml-Astrologen, die sonst aus der Reihenfolge der Mächtigen auf der Tribüne Rückschlüsse für die nächste Zukunft ziehen wie ihre unpolitischen Kollegen aus der Stellung der Gestirne, sollte diesmal das Handwerk erschwert werden.

Über das Kopfsteinpflaster des Roten Platzes rollten unterdessen in einer Wolke von Staub und Auspuffgasen neue Waffen, die alle noch unter Chruschtschow entwickelt wurden, dem von seinen Nachfolgern Vernachlässigung der Rüstung vorgeworfen wird.

Zwei Waffensysteme erregten das besondere Interesse westlicher Militärattachés: eine Mittelstreckenrakete, die ähnlich wie die Polaris von getauchten U-Booten abgefeuert werden kann, und eine Rakete zur Abwehr feindlicher Raketen.

Bei beiden Waffen handelte es sich offensichtlich nicht nur um Prototypen, sondern um Serienfabrikate, denn um jeden Ausfall beim Tanz der Waffen über den Roten Platz ersetzen zu können, hatte die Armee auf dem benachbarten Manege-Platz mehrere Exemplare jeder Waffe in Reserve gehalten. Hier durften auch ausländische Touristen aus dem an diesem Platz gelegenen Intourist-Hotel »National« den Stolz der Sowjetarmee ausgiebig photographieren. Die Anti-Raketen-Rakete war ohnehin in einem zeppelinähnlichen Wellblechzylinder verpackt, der nichts außer vier Treibsätzen sehen ließ.

Für Sowjetbürger allerdings war es schon schwierig, durch die Absperrungen in der Innenstadt bis an den Manege -Platz vorzudringen. Bei der Parade am 7. November ist das Volk nicht zugelassen, es sei denn, es hat sich in die Marschgruppen eingereiht, die nach den Soldaten stundenlang am Mausoleum vorbeiziehen.

Die Stimmung der Marschierer war diesmal nicht so ausgelassen wie in den vergangenen Jahren, in denen ausländische Beobachter sich an Karneval erinnert fühlten. Sie war aber auch nicht niedergeschlagen. Die meisten schienen den Marsch nicht als harte Pflicht zu empfinden, sondern eher als Gelegenheit, die neuen Herren aus der Nähe zu betrachten. Unterhalb der Tribüne drehten alle den Kopf zu einem Blick nach rechts oben, die einen ergeben lachend, die anderen neugierig, aber nicht unfreundlich.

Am Abend vorher hatte sich Parteichef Breschnew in der Gedenkstunde

im Kreml auch auf Versprechungen festgelegt, die die Trauer um Chruschtschow abkürzen könnten: mehr Freiheiten und mehr Konsumgüter. Zugleich versprach er auch der Schwer- und Rüstungsindustrie mehr Förderung.

Zweifel an der Ausführbarkeit dieser Politik schienen Breschnew nicht zu kommen. Er verlas sein Manuskript so sicher, als ob er es vorher auswendig gelernt hätte, aber auch so unbeteiligt, als ob er nicht bereit wäre, sich für jedes Wort seines Inhalts einzusetzen. Die Rede war vorher offensichtlich genau mit den anderen Mitgliedern des Zentralkomitees abgesprochen worden. Mikojan und Suslow begannen häufig schon Beifall zu klatschen, bevor Breschnew einen Satz beendet hatte. Auf ihr Zeichen hin fielen auch die Delegierten lautstark in den Applaus ein.

Am wenigsten schien Tschou En-lai vom Polit-Appeal Breschnews beeindruckt. Er saß auf der Ehrentribüne schräg oberhalb des Redners, starrte unbewegt auf die Tischplatte, drückte die Hörmuschel für die Simultanübersetzung fest an sein linkes Ohr und klatschte nur lässig bei unverfänglichen Stellen, so als Breschnew zu neuen Siegen des Kommunismus aufrief.

Breschnews Für-jeden-etwas-Programm fand ebensowenig überschwengliche Zustimmung bei Polens KP-Chef Gomulka und Ungarns Ministerpräsident Kádár. Nicht Worte, nur Taten können sie davon überzeugen, daß ihnen der Versuch einer sowjetisch-chinesischen Annäherung die mühselig erkämpfte eigene Freiheit läßt. Ulbricht spreizte sich dagegen wie ein chinesischer Mandarin, obwohl Breschnew dessen Lieblingsthema, die freie entmilitarisierte Stadt West-Berlin, mit keinem Wort erwähnte.

Die neue Politik brachte die Kreml -Machthaber bereits bei den Revolutionsfeiern in peinliche Verlegenheit. Um den Chinesen zu gefallen, griff Malinowski auf dem Roten Platz die USA an, und um die Amerikaner nicht zu verärgern, unterschlug die »Prawda« die Attacke.

Offensichtlich war beides einkalkuliert: der Ausfall gegen die Vereinigten Staaten und die Beschwichtigung der Amerikaner. Denn am selben Abend, beim traditionellen Empfang im Kreml, spielte das Pianistenkollektiv des Kreml seine dissonanzenreiche Melodie wieder auf zwei Klavieren.

Malinowski schlug die dumpfen Baßtöne in Moll, er wandte sich gegen den amerikanischen Verteidigungsminister McNamara, der gedroht habe, die gesamte Sowjet-Union zu vernichten, und drohte seinerseits, daß die Sowjetarmee, »der Muskel des Volkes, der Partei und der Regierung«, jeden zerschmettern werde, der die Sowjet-Union angreife.

Kossygin dagegen, der den Dur-Part übernommen hatte, beschwichtigte mit einigen freundlichen Worten den amerikanischen Botschafter Kohler.

Die Kollektiv-Führung bietet zweifellos taktische Vorteile. Die Erfahrung von 47 Jahren Revolution aber lehrt, daß Kollektiv-Führung nicht lange währt. Von den zehn Mitgliedern des mächtigsten Kollektivs der Partei, des Präsidiums des ZK, sind fünf mächtiger als die anderen und Anwärter auf die Alleinherrschaft: Breschnew, Kossygin, Mikojan, Suslow und Podgorny.

Ehrentribüne bei der November-Parade*: Der Gast aus Peking ...

Ehrengast Ulbricht

... beschwor den Geist des Tyrannen ...

Stalins Leichenstein

... vor dem Grab an der Mauer

* v. l.: Ministerpräsident Kossygin, Verteidigungsminister Malinowski, Partei-Chef Breschnew, Polens KP-Chef Gomulka, Staatspräsident Mikojan, Chinas Ministerpräsident Tschou En-lai, ZK-Sekretär Podgorny.

Dieter Schröder
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