NAHOST Rollende Bulldozer
Helmut Kohl schwieg bewegt und ließ seinen Blick über die biblische Landschaft schweifen. Der Kanzler war ganz offensichtlich beeindruckt von der Einzigartigkeit des Ortes. »Kein Platz kann besser veranschaulichen als dieser, daß wir uns bereits im Frieden befinden«, sagte Jordaniens König Hussein zu ihm. Israels Regierungschef Jizchak Rabin nickte dazu.
Das war im Juni 1995, und seitdem trägt das Gebiet von Naharajim an der Grenze zwischen Israel und Jordanien, wo die drei Staatsmänner sich versammelt hatten, den Namen »Insel des Friedens«. Die besonderen politischen Umstände machten das etwa einen Quadratkilometer große Gelände zu einem Symbol für die Versöhnung der ehemaligen Todfeinde.
Hier, knapp zehn Kilometer südlich des Sees Genezareth, wo der Jordan und der Jarmuk zusammenfließen, überließ Jordanien beim Friedensschluß mit Israel 1994 jüdischen Bauern arabisches Land zur Pacht, das zuvor an Jordanien zurückgegeben worden war. Naharajim ist eine der wenigen Stätten im Heiligen Land, wo Vernunft über Ideologie, Religion und Gewalt gesiegt hatte - so schien es jedenfalls bis letzte Woche.
Doch dann wurde aus der Oase friedlicher Koexistenz eine blutige Mordstätte, gefährdete ausgerechnet hier ein Massaker den nahöstlichen Versöhnungsprozeß.
Als etwa 80 Mädchen der Amit-Fürst-Schule im israelischen Bet Schemesch vorigen Donnerstag auf einem Ausflug in den Norden des Landes die Friedensgrenze besichtigen wollten, eröffnete ein jordanischer Grenzsoldat das Feuer. »Du Verrückter«, schrien seine Kameraden, während der Gefreite Ahmed Jussif Mustafa aus einem Jeep anlegte; aber bevor sie ihm die Waffe entrissen, konnte er das Magazin wechseln und aus 50 Meter Entfernung noch einmal abdrücken.
Zwei der in Rücken und Hals getroffenen Mädchen starben an Ort und Stelle, fünf weitere später in Krankenhäusern; sechs Mädchen und eine Lehrerin wurden verletzt.
Die Lehrer hatten gegen eindeutige Bestimmungen ihrer Behörde verstoßen. Zwar ist Naharajim ein beliebtes Ausflugsziel für Israelis und Touristen, aber für Schulklassen ist der Ort tabu. Denn das israelische Erziehungsministerium schreibt vor, daß bei Ausflügen jeweils 15 Kinder von einem bewaffneten Erwachsenen begleitet werden müssen. Und die Jordanier, denen die Sicherheitsaufsicht über die Insel des Friedens obliegt, dulden nicht mehr als vier bewaffnete Israelis gleichzeitig auf ihrem verpachteten Gebiet.
Der Täter, Vater von drei Kindern, war bis dahin weder als Mann mit radikalen politischen Ansichten noch als religiöser Fanatiker aufgefallen. Über seine Motive gibt es noch nicht einmal Spekulationen.
Gleichwohl hatte der Wahnsinn Logik, war der Tatzeitpunkt nur scheinbar willkürlich gewählt. Mustafa folgte dem Beispiel anderer Amokläufer, etwa dem jüdischen Siedler Baruch Goldstein, der in Hebron ein Massaker unter Palästinensern anrichtete, oder dem israelischen Soldaten Noam Friedman, der ebenfalls in Hebron ohne Vorwarnung auf Passanten feuerte. Die Mordschützen zeigen, wie tief der Haß im Nahen Osten ist und wie plötzlich er ausbrechen kann - vor allem, wenn Provokationen die politische Spannung wieder einmal unerträglich gesteigert haben.
Auch diesmal hatte sich die Entwicklung im nahöstlichen Friedensprozeß unaufhörlich zugespitzt. Mehrere Tage lang weigerte sich PLO-Chef Jassir Arafat vergangene Woche sogar, Telefonanrufe des israelischen Premiers Benjamin Netanjahu entgegenzunehmen. Und Jordaniens König Hussein hatte dem Likud-Mann in einem bitteren Brief das Vertrauen aufgekündigt - er gefährde den Frieden mit seinem Plan, eine Siedlung für 35 000 Juden im arabischen Ostteil Jerusalems bauen zu lassen: »Ihre Handlungsweise scheint darauf aus, alles zu zerstören, woran ich glaube.«
Bibi Netanjahu hat sich die Verschärfung der Situation weitgehend selbst zuzuschreiben. So ungeschickt und widersprüchlich hat der Likud-Chef in den neun Monaten seiner Amtszeit agiert, daß er sich nunmehr inmitten schier unlösbarer Widersprüche gefangen sieht.
Mit seiner Entscheidung, auf dem Hügel Har Homa eine Siedlung zu bauen, hatte er die Palästinenser bis aufs Blut gereizt. Auch fiel der Umfang des angekündigten Rückzugs aus dem Westjordanland mit nur neun Prozent der besetzten Fläche für die erwartungsvollen Palästinenser so gering aus, daß Arafat sie mehr als Demütigung denn als Befreiung empfinden mußte. »Netanjahu will die Torte essen, ohne sie anzuschneiden«, spottete das israelische Blatt haaretz über den friedenspolitischen Zickzackkurs.
Der tief geschockte König Hussein wollte gleich nach der Bluttat auf der »Friedensinsel« die trauernden Familienangehörigen in Israel besuchen, und selbst Arafat zeigte Bereitschaft, sich wieder mit Netanjahu zu treffen. Doch der nutzte den Moment der Betroffenheit nicht dazu, die Situation zu beruhigen - im Gegenteil. Durch grobe Schuldzuweisungen und radikale politische Schlüsse legte er sogleich den Keim für neuen Streit.
Es sei »immer wieder das gleiche«, beklagte er sich telefonisch bei US-Präsident Bill Clinton: Wenn die Friedensverhandlungen schwierig würden, schafften »die Araber eine Atmosphäre der Gewalt«, die den Weg für Terror bahne. Die größte Gefahr für den Frieden gehe von »der Mentalität gewisser Elemente aus«.
Damit kränkte er seine Friedenspartner Hussein und Arafat. Er sei, so Netanjahu weiter, gerade nach dem Tod der sieben Schulmädchen »mehr denn je entschlossen«, die umstrittene Siedlung Har Homa zu bauen, »und wenn die ganze Welt gegen uns ist«.
Wenn es in seiner Absicht liege, den »dann unvermeidlichen gewaltsamen Widerstand unserer palästinensischen Brüder hervorzurufen«, warnte der Jordanier-König Hussein, dann solle er »die Bulldozer ruhig anrollen« lassen. Netanjahu müsse jedoch bedenken, daß damit gleichzeitig »der Friedensprozeß für alle Zeiten beerdigt« würde.
Netanjahu sieht sich von allen Seiten unter Druck. Die Scharfmacher innerhalb seiner Partei und vor allem die nationalistischen Koalitionspartner halten es für politischen Verrat, auch nur ein Prozent des besetzten Westjordanlands aufzugeben. Sie drohen, zusammen mit der linken Opposition zu stimmen, welche die Regierung stürzen möchte. Netanjahu ist in eine filzige Affäre im Zusammenhang mit der Ernennung eines Generalstaatsanwalts verstrickt.
Wie sehr der Premier nach Entlastung sucht, zeigte ein Treffen am vorletzten Wochenende mit dem Oppositionsführer Schimon Peres, den er auf die Möglichkeit einer Großen Koalition angesprochen haben soll. Peres winkte ab - vorläufig jedenfalls.
Der Jerusalemer Bürgermeister Ehud Olmert, auch er ein Hardliner, fordert jetzt den unverzüglichen Baubeginn auf dem Har Homa. Falls der Friedensprozeß mit den Palästinensern deswegen »in die Luft fliegen« sollte, so Olmert, sei es ihm immer noch »lieber, das passiere gleich als später«. Und die Versammlung der radikalen Siedler aus dem Westjordanland diskutiert mittlerweile offen, ob es »im nationalen Interesse« nicht geboten sei, besser Krieg zu führen, als den Palästinensern noch mehr Land zu überlassen.
* Bei einer Gedenkfeier für den verstorbenen Premier MenachemBegin am vergangenen Donnerstag.