JUGEND ALPEN VEREIN Rollo runter
Michael Wolter, 23, Student der Mathematik in Hamburg, referierte über voreheliche »Sexualrepression« und die »Theorie von der Selbstregulierung der Triebbedürfnisse des Menschen«. Er zitierte Freud und Marx und Freud-Schüler Wilhelm Reich ("Die sexuelle Revolution"). Wolter: »Die Sexualunterdrückung stützt bei uns zweifellos den Kapitalismus, aber auch die sozialistischen Staaten bedienen sich sehr wohl der... Familienideologie, um ihre Untertanen bei der Stange zu halten.«
Die Sex-Lektion des Mathematikers fand an einem Ort statt, an dem sonst gewöhnlich zünftige Lieder zur Klampfe gesungen werden: auf der 2131 Meter hoch gelegenen Hermann-von-Barth-Hütte in den Allgäuer Alpen, einer Gebirgshütte des Deutschen Alpenvereins (DAV). Dort beschlossen unlängst 28 DAV-Jugendleiter aus dem norddeutschen DAV-Bereich, das Treiben der Alpenvereins-Jugend um den Beischlaf zu bereichern,
»Das persönliche Lebensglück des Menschen«, so begründeten die alpinen Sexualreformer ihre Resolution, die Mitte Februar in einer gesamtwestdeutschen DAV-Jugendausschußsitzung in München abgehandelt werden soll, hänge »wesentlich von einem erfüllten Sexualleben« ab. Weil sie fürchten, daß auf Almen und Hütten die Liebe zu kurz komme und die »Überbetonung der »Liebe zu den Bergen'« eine »Ideologie der »heilen Welt'« vermittele, fordern sie: Überprüfung einschlägiger Bestimmungen der DAV-Hüttenordnung (Paragraph 1: »Anstand und Sitte dürfen in der Hütte und ihrer Umgebung nicht verletzt werden"), die »Abschaffung von speziellen Jungen- und Mädchengruppen« und der »noch auf manchen Hütten praktizierten Geschlechtertrennung«.
Der Sex-Vorstoß aus dem Norden (DAV-Mitglieder: 22 000, davon Jugend: 6000 trifft freilich einen Verein, der im deutschen Süden (DAV-Mitglieder: 160 000, Jugend: 25 000) kopflastig ist und in dem Ganghofer-Romantik noch immer mit alpenländischer Sittlichkeit gleichgesetzt wird.
Wie kaum ein zweiter Verein in der Bundesrepublik pflegt der DAV »Enthaltsamkeit von billigen und schädlichen Genüssen des Leibes« (so Bergsteiger Paul Hübel in einem DAV-Brevier) und huldigt einer leistungsorientierten Bergsteiger-Ideologie -- einer »Ersatzbefriedigung, die von der Sexualität ablenkt« (Wolter).
»Wenn uns oft im grauen Alltag ein Träger des AV-Edelweißes begegnet«, schrieb 1966 DAV-Kletterer Sepp Wallner, »so ist es wie ein Gruß aus einer hohen reinen Welt.« Was die »Jugend am Berg« vor allem begeistern soll, ist aus den zweimonatlichen DAV"Mitteilungen« zu erfahren: »Wieder steigen, im Tropfwasser, das durchnäßt und erfrischt ... Wieder Karabiner raus, Seilschwanz einfädeln ... mit ausgedörrter Kehle und von Schweiß brennenden Augen« (Heft 6/1970).
Und was DAV-Damen am Berg zu befolgen haben, sagt das Bergsteiger-Handbuch »Das Klettern im Fels«, mitherausgegeben vom Eiger-Nordwand-Kletterer Toni Hiebeler: »Mehr noch als beim Mann gilt für dich, liebes Kletterweiblein, das Gebot: ... gehe in die Berge nicht zu dem ausgesprochenen Zweck, einen Mann zu bekommen oder um Liebeständeleien nachzugehen ... entfalte vielmehr in Hütten, Zelten und beim Biwakieren deine hausfraulichen Gaben.«
So nimmt es kaum wunder, daß im DAV, der nach den Worten seines Vorsitzenden, des evangelischen Theologie-Professors Ulrich Mann, 55, seiner »Geschichtsgebundenheit bewußt zu bleiben« habe, nach dem Nord-Sturm »Staub aufwirbelt« (so der norddeutsche DAV-Jugendsprecher Herbert Westphal), »Wenn die Reizworte hören wie Politik und Sexualität«, meint Sex-Reformer Wolter über die süddeutschen Sex-Gegner, »dann geht bei denen das Rollo runter,«
Während die sexuelle Freiheiten proklamierenden Kletterer aus dem. Norden das »Liebesleben laufenlassen« wollen und allenfalls Bedenken haben, daß »Männlein und Weiblein nicht aufgehen« (Braunschweigs Jugendleiter Richard Goedeke), hält es Bayer Gerhard Friedl, DAV-Bundesjugendreferent in München, mit dem Gebot: »Wenn beide Geschlechter im Schlafsaal beisammen liegen, müssen sie wissen, was sie nicht tun dürfen.«