FEINDLAGE Rosa an der Moldau
Dr. Werner Marx, 41, fuhr mit der Eisenbahn durch den Böhmerwald. Der CDU-Parlamentarier aus Kaiserslautern, Mitglied des Bonner Verteidigungsausschusses, saß in einem Abteil 1. Klasse des Eilzuges E 835 »Sanssouci« Wien-Prag und sah ungeduldig auf die Uhr.
Der Zug, ohnehin verspätet, hielt immer wieder auf kleinen Rangierbahnhöfen. Die Strecke war durch volksdemokratische Militärtransporte verstopft.
Der Bonner Regierungsdirektor a. D., der zu einem Informationsbesuch in die »Goldene Stadt« unterwegs war und die Eisenbahn nur mangels passender Flugverbindung bestiegen hatte, sah lange Züge mit russischen T-62-Panzern an seinem Abteilfenster vorbeirollen.
Mit fast einstündiger Verspätung in Prag angekommen, fand Marx, von 1960 bis 1965 Hilfsreferent im Führungsstab der Bundeswehr, die Stadt an der Moldau voll von Uniformierten und die Zeitungen vol von Berichten über das bis dahin größte Ostblockmanöver.
Am Dienstag letzter Woche forderte der Abgeordnete, im Verteidigungs -Arbeitskreis seiner Fraktion Spezialist für die »Feindlage«, gemeinsam mit Fraktionskollegen die Bundesregierung in einer Kleinen Anfrage auf, ihre Schlußforderungen aus dem Manöver mitzuteilen. Marx: In Bonn muß man sich mehr als bisher mit solchen Vorgängen beschäftigen.«
Tatsächlich befaßte sich das Dutzend engagierter Verteidigungspolitiker im Bundestag bislang vorwiegend mit der westlichen Verteidigungsplanung, weniger dagegen mit dem Kriegsbild der Ostblock-Strategen.
Das Manöver »Moldau«, das Mitte September, einen Monat vor den entsprechenden Nato-Übung »Fallex 66«, in der südlichen Tschechoslowakei stattfand, war die bisher am sorgfältigsten vorbereitete Atomkriegsübung der Staaten des Warschauer Paktes. Sie begann mit einer Stabsrahmenübung unter Leitung des Sowjet-Marschalls Andrej Gretschko, 56, der das gemeinsame Oberkommando des Ostblocks befehligt.
Zum anschließenden Manöver traten, kommandiert von CSSR-Verteidigungsminister Bohumir Lomsky, 52, an:
- 15 voll mechanisierte Heeresdivisionen aus der Sowjet-Union, der CSSR und Ungarn, zwei Heeresregimenter aus der DDR sowie tschechoslowakische Grenztruppen;
- fünf sowjetische Fliegerregimenter
mit modernen Überschallflugzeugen vom Typ MiG-21 (Nato-Kode: Fishbed) und Yak-28 (Nato-Kode: Firebar);
- die gesamten CSSR-Luftstreitkräfte
mit MiG-19- (Nato-Kode: Farmer) und MiG-21-Flugzeugen, Teile der DDR-Luftstreitkräfte mit MiG-21 -Abfangjägern sowie Teile der polnischen Luftwaffe.
Truppen aus Rumänien und Bulgarien wurden nicht hinzugezogen, weil die geographische Lage dieser Staaten ihnen in einem mitteleuropäischen Krieg nur Nebenrollen zuweist. Beide Länder haben vor kurzem selbständige Herbstmanöver abgehalten.
Bei der Planung der Herbstübung, die die Manöververbände bis an einen 15 Kilometer tiefen Sicherheitsstreifen an der deutsch-tschechischen Grenze heranführte, gingen die Ostblock-Strategen von einem Nato-Angriff gegen die CSSR aus. Starke westliche ("Rosa") Panzerverbände - so die Manöver-Hypothese
- griffen über die tschechische Grenze
hinweg an, unterstützt von im Hinterland abgesetzten Luftlandetruppen. Als die Nato-Eindringlinge steckenblieben, setzten sie Atomwaffen und chemische Kampfmittel ein.
Die Ost-Verteidiger ("Grün") antworteten mit einem massiven Raketen- und Kernwaffenschlag in die Tiefe des gegnerischen Operationsgebietes, also bis weit in die Bundesrepublik hinein. Dieser Schlag diente der Abschnürung der Kampfzone und damit der Unterbrechung des westlichen Nachschubs.
Geschützt durch diesen atomaren Vorhang, stellte »Grün« seine Truppen zum Gegenangriff bereit. Zur Unterstützung wurden mechanisierte Luftlandeverbände mit sowjetischen Langstrecken -Transportern vom Typ. AN-12 (Nato -Kode: Cub) aus den westlichen Militärbezirken der Sowjet-Union herangeführt.
Bevor der Gegenangriff begann, belegten Mittelstreckenraketen von Abschußrampen in der Sowjet-Union aus alle strategisch wichtigen Ziele in Westdeutschland.
Bis ins Detail entsprachen Anlage und Ablauf des Manövers der sowjetischen Militärdoktrin, nach der
- ein »Weltkrieg, falls er von den Imperialisten entfesselt wird, zwangsläufig zu einem Raketen- und Kernwaffenkrieg führt, das heißt zu einer Auseinandersetzung, in der Kernwaffen das Hauptkampfmittel und Raketen das wichtigste Mittel zu ihrer Beförderung ins Ziel sind« (Sowjet-Marschall Sokolowski)*. Ergebnis: Am letzten Manövertag feuerten die Kombattanten 300 Atomsprengköpfe auf Ziele in der CSSR und in der Bundesrepublik ab.
Marschall Gretschko hatte sich eine Fernsehleitung vom Gefechtsfeld in das geheime Manöver-Hauptquartier legen lassen und verfolgte auf dem Bildschirm, wie blakende Rauchladungen den Einschlag von Atomsprengköpfen markierten. Er hatte taktvoll dem Verteidigungsminister der CSSR, General Lomsky, an der Manöverfront den Vortritt gelassen. So leitete Lomsky vor der Öffentlichkeit die Manöver-Kampfhandlungen, während Oberspielleiter Gretschko sich eines Systems elektronischer Aushilfen bediente.
Gretschkos Zurückhaltung entsprach politischem Kalkül. Die sowjetische Botschaft in Prag hatte nach Moskau berichtet, daß die tschechische Bevölkerung über ein derart umfangreiches Manöver in der CSSR, das noch dazu viele fremde Truppen in die Tschechoslowakei bringe, stark beunruhigt sei.
Das Unbehagen in der Bevölkerung war so groß, daß die Prager Regierung die gedrückte Stimmung im Lande durch eine Propaganda-Kampagne zu heben versuchte. Die Generalität wurde an die Mikrophone und an die Schreibtische beordert. Über Radio Prag verwahrte sich Generalleutnant Prchlik, roter Oberkommissar der CSSR-Armee, dagegen, daß »Leute, die nicht weiter sehen als bis zu ihrer Nasenspitze«, über Manöver des Warschauer Paktes auf dem Territorium der CSSR verärgert seien.
In der Prager Gewerkschaftszeitung »Práce« versicherte General Cepicka beschwichtigend, die ausländischen Truppen würden auf keinen Fall auf Kosten der Tschechoslowakei verpflegt. Und die Gesamtkosten der Übungen würden selbstverständlich auf alle Teilnehmerstaaten umgelegt.
Bis der Abgeordnete Marx letzte Woche mit seiner Bundestags-Anfrage das amtliche Bonn aufschreckte, war dort das »Moldau«-Manöver mit dem eingeplanten Untergang der Bundesrepublik unbeachtet geblieben. Regierung und Parlament der Bundesrepublik waren vielmehr damit beschäftigt, ihr eigenes Manöver vorzubereiten. Am Montag dieser Woche gingen Notregierung und Rumpfparlament in die vorbereiteten Atombunker in der Eifel. Fallex 66, die große Stabsrahmenübung der Nato, begann (siehe Seite 27).
Sie hatte die entgegengesetzte Ausgangslage wie das Ostblockmanöver »Moldau": Nach konventionellem Vorgefecht Kernwaffenangriff aus dem Osten.
In dem 1963 im Moskauer Militärvertrag erschienen Buch »Militär-Strategie«, dem grundlegendem Werk über die sowjetische Militärkonzeption
DDR-Truppen in Böhmen: Untergang der Bundesrepublik eingeplant