IG METALL Rosen um Mitternacht
Um fünf Uhr früh schickte Wirtschaftsminister Karl Schiller den Amtsrat Heinz Burmeister auf die Suche nach offenen Backstuben und Milchwagen in der Bundeshauptstadt. Mit zwei Pfund Butter und 100 Brötchen kehrte der Fourier ins Ministerium nach Bonn-Duisdorf zurück.
Im Sitzungszimmer des Ministers labten sich die Tarifgegner Otto Brenner und Willi Bleicher von der Industriegewerkschaft Metall sowie Herbert van Hüllen und Dr. Hanns Martin Schleyer vom Metall-Arbeitgeberverband.
Bonns längste Nacht begann am vergangenen Dienstag um 18 Uhr, zur gleichen Stunde, als sich die Metallarbeiter Baden-Württembergs zum Streik rüsteten. Geplanter Streiktermin: 30. Oktober.
Im Wetterwinkel bundesdeutscher Tarifpolitik -- in Baden-Württemberg streiten die Sozialpartner traditionsgemäß am heftigsten -- drohte der Ausstand, weil Brenners Stuttgarter Statthalter Bleicher auf den Abschluß eines neuen Tarifvertrages drängte. Anders jedoch als in früheren Arbeitskämpfen verlangte Bleicher für seine Arbeiter keine höheren Löhne, sondern lediglich eine Tarifgarantie der bisherigen Effektivlöhne. Den Metallunternehmern wollte der Gewerkschaftsführer verbieten, Schlossern und Drehern in der Wirtschaftsflaute die übertariflichen Leistungen zu streichen und statt dessen nur noch die Tariflöhne zu zahlen.
Noch Anfang vergangenen Jahres, als die Auftragsbücher voll und Arbeitskräfte knapp waren, zahlten die Fabrikanten hohe Zuschläge auf die mit den Gewerkschaften ausgehandelten Tariflöhne. So strich ein Metallarbeiter, dem laut Tarif 3,69 Mark je Stunde zustanden, nicht selten fünf Mark und mehr je Stunde ein.
Mit frei-willigen Sozialleistungen, die beide Tarifparteien oftmals selbst als »Sozialklimbim« belächelten, jagten sich die Fabrikherren die Arbeitskräfte gegenseitig ab. Sie zahlten ihnen das Geld für die Fahrt zum Arbeitsplatz und zurück und belieferten sie mit Milch in den Pausen und Theaterkarten für den Feierabend.
Als die Krise begann und die Firmenchefs erstmals seil Jahren wieder mit dem Pfennig rechnen mußten, siebten sie zunächst gehortete Arbeitskräfte und Bummelanten aus. Allein von August 1966 bis Juni 1967 kündigten Westdeutschlands Metallarbeitgeber 330 000 Beschäftigten.
Aber schon bald griff der Kostenklau nach den freiwilligen Lohnzuschlägen. Die Firma Karl Jung KG in Neunkirchen bei Siegen beispielsweise erklärte ihren Arbeitern, künftig könne sie für Überstunden nur noch 12,5 Prozent Zuschlag (statt wie bis dahin 25 Prozent) zahlen. Die Fürstlich Hohenzollernsche Hüttenverwaltung in Laucherthal setzte für 1500 Mann die übertariflichen Zuschläge um 16 Prozent herab.
Am Ende fielen die betrieblichen Sozialleistungen dem Rotstift zum Opfer. Gestrichen wurden:
> bei der Bosch-Tochter Junkers & Co. GmbH in Wernau am Neckar die tägliche Flasche Milch für schwangere Arbeiterinnen; > bei der AG Eisenhütte Prinz Rudolph in Dülmen/Westfalen Zuschüsse zum Fahrgeld und für den Urlaub;
> bei der Süddeutschen Drahtindustrie AG in Mannheim der Betriebsausflug;
> bei der Gutehoffnungshütte Sterkrade AG in Oberhausen »das Weihnachtsgeld für 8000 Arbeiter. Metallarbeiterführer Otto Brenner, der in diesem Jahr wegen der gespannten Wirtschaftslage auf jede Erhöhung der Effektivlöhne verzichtet hatte, mochte es nicht hinnehmen, daß die Unternehmer Wohlverhalten mit Lohndrückerei vergalten.
Im Sommer verkündete der Landesverband Nordrhein-Westfalen in Brenners IG Metall, er verlange, daß künftig »mindestens 30 Prozent« der bisher üblichen Sozialleistungen vertraglich gesichert werden müßten. Für Baden-Württemberg gab Brenner die Devise aus, sich jedem weiteren Abbau der übertariflichen Löhne zu widersetzen.
Hanns Martin Schleyer, von Paukschmissen schwergezeichneter Boß der württembergisch-badischen Metallindustriellen und Vorstandsmitglied der Daimler-Benz AG, begehrte auf: In der Krise müsse den Firmen der Weg zu Lohnsenkungen frei bleiben.
Hierauf rief Willi Bleicher, ein ehemaliger Daimler-Schlosser, den sein sozialistischer Elan einst ins Konzentrationslager gebracht hatte, am Donnerstag vorletzter Woche die 182 000 Mitglieder seines Landesverbandes zur Urabstimmung auf. 87 Prozent seiner Männer waren entschlossen, ihre übertariflichen Löhne notfalls mit Streik zu erkämpfen. Schiller, der seinen lang ersehnten Aufschwung nach Maß gefährdet sah, suchte zu vermitteln.
Bleicher wollte einlenken, wenn die Arbeitgeber »ein konkretes Angebot vorlegen« würden. Doch Arbeitgeber Schleyer blieb hart: »Ich bin mit leeren Händen hier.«
Nach 20stündigem Palaver, bei dem es nicht um Geld, sondern lediglich um die Semantik des Lohntarifs ging, verließen Schlichter und Streiter erschöpft das Duisdorf er Ministerium. Mit letzter Kraft versprachen Arbeitgeber und -nehmer einander, am Donnerstag in Stuttgart weiterzuverhandeln. Bis zum Wochenende, so gelobten sie, würden sie sich einigen. Bleicher blies den Streik vorerst ab.
Am Donnerstag um 16 Uhr trafen sich die Kontrahenten im Stuttgarter Zeppelin-Hotel erneut. Um Mitternacht überreichte Mercedes-Schleyer dem Metaller Bleicher dunkelrote Rosen: Der Funktionär war 60 Jahre alt geworden. Bleicher dankte gerührt.
Gegen Morgen wehte wieder der alte scharfe Wind, und zur gewohnten Stunde schieden die Unterhändler in der Frühe abermals unversöhnt.
Erst beim nächsten Treff, am Freitag um 15.45 Uhr, kamen sich die Sozialpartner näher. Am frühen Sonnabendmorgen waren die Unternehmer weich und bereit, den Besitzstand der Arbeiter nicht durch Abbau von Lohnzuschlägen anzutasten. Die Gewerkschaften wollen dafür in dieser Lohnrunde lediglich höhere Tarifentgelte fordern, nicht hingegen Erhöhung der tatsächlichen Stundenverdienste erzwingen.
Seit Tagen übernächtigt, gingen die Herren anschließend zu Bett.
* Am vergangenen Mittwoch im Bonner Wirtschaftsministerium; von links: Metall-Arbeitgeber Schleyer, van Hüllen, Metall-Gewerkschaftler Brenner, Bleicher.