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FÜHRUNGSAKADEMIE Rot am Kragen

aus DER SPIEGEL 41/1964

Major von Gryczinski war Generalstabler und hielt, wie jeder dieses Standes an dem Glauben fest, daß es in der ganzen Welt nicht zwei so grundverschiedene Farben gabe wie das allgemeine preußische Militärrot und das Generalstabsrot

Theodor Fontane in »L'Adultera«

Seit, dem 1. Oktober haben die

Schlieffen-Pimpfe* der Bundeswehr, wie die nach dem edelsten Rot auf der militärischen Farbskala strebenden Offiziere sich selbst nennen, einen neuen Fähnleinführer.

Am Donnerstag der vergangenen Woche hat Generalmajor Jürgen Bennecke, 52, ein Familienvater mit Gardemaß (1,95 Meter) und starken Bindungen an Landwirtschaft, Naturbeobachtung und Wanderlust, das Kommando über die Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg übernommen.

Am selben Tag hat sein Amtsvorgänger General Ulrich de Maizière, 52, den Befehl über die rund 200 bildungsbeflissenen Offiziere des Heeres, der Luftwaffe und der Marine in den Lehrsälen der Hamburger Soldaten-Uni mit dem Platz eines Inspekteurs des Heeres vertauscht.

Vom Arbeitsplatz des weiland Kommandierenden Generals des Luftgaues XI Hamburg aus wird nun also der Generalmajor Bennecke die deutsche Nachwuchs-Elite der Nato-Waffenbrüderschaft in einer Kunst unterweisen, deren vornehmster Sinn heute darin liegt, sich selbst überflüssig zu machen: in der Kriegskunst**.

Er wird sie fit machen für die Arbeit in einem Spitzengremium militärischen Managements, das in seiner alten Exklusivität in Deutschland heute gar nicht mehr existiert: für den Generalstab.

Den Generalstab gibt es in der Bundeswehr nicht mehr. Die karmesinroten Streifen an den Hosen als stolz leuchtende Ausweise einer Sonderstellung innerhalb des Offizierkorps gehören der - insoweit bewältigten - Vergangenheit an. Die Bundeswehr kennt nur noch »Offiziere im Generalstabsdienst« mit roten - Kragenspiegeln. Bekommen sie aber ein Truppenkommando, so verwandelt sich das Vorzugsrot wieder in die angestammte Waffenfarbe.

Seit Gründung der Führungsakademie haben etwa 1000 Offiziere, zumeist im Hauptmannsrang, ihr militärisches Studium absolviert. Derzeit büffeln der sechste und der siebte Lehrgang, darunter Flakhelfer aus den letzten Kriegsmonaten, die jetzt etwa 33 Jahre alt sind.

Bevor ihnen diese Ausbildung zuteil wird, müssen sich die Offiziere einem scharfen und langwierigen Prüfungsverfahren unterziehen. »Am vierten Tag«, bekennt ein Durchgekommener, »stehst du im Hemd da, und du kannst es noch auswringen.«

Bis heute werden die Akademieanwärter von ihren, Vorgesetzten vorgeschlagen. Das soll anders werden. In Zukunft sollen alle Hauptleute der Bundeswehr geprüft werden, damit jeder die gleiche Chance hat. Die Generalstabsausbildung dauert für Offiziere des Heeres und der Marine zwei Jahre, für Offiziere der Luftwaffe ein halbes Jahr länger. Sie findet statt in einer kuriosen Mischung aus Barackenmief und Parkidyll, aus demokratisch angehübschten Hermann-Göring-Stil und nachgelassenem Besatzermobiliar: Die Führungsakademie residiert in der Anlage des ehemaligen Deutschen Luftgaukommandos im Hamburger Elbvorort Blankenese, dem renommierten Ruhehafen betagter Seebären und betuchter Wirtschaftskapitäne. Aber ehe die Akademie dort ihren Lehrbetrieb aufnehmen konnte, haben erst englische Militärdienststellen die unterdessen reorientierten Gebäude räumen müssen.

Nun gruppieren sich zwischen Rasenflächen und Rosenrabatten ehemaliger Luftgau-Gebäude luftige Hörsaal-Neubauten, überständige Holzbaracken und ein kleiner Teich, den der Akademie-Jargon auf den Namen »Marine-Sandkasten« getauft hat.

Das Leben ist karg und arbeitsam. Budengezaubert wird so gut wie gar nicht. Das Kasino ist zwar reich an Klubsesseln, aber arm an Umsatz. Bekocht werden die Militärstudenten nach Schema Truppenverpflegung (für den Gegenwert von 2,75 Mark pro Mann und Tag). In den Waschräumen herrscht Massenbetrieb. Aber wenigstens sind die Toiletten mit Türen versehen - im Gegensatz zu amerikanischen Einrichtungen dieser Art.

Die ledigen Barackenbewohner leben mit einem Minimum an Mobiliar auf knarrenden, schwankenden Holzdielen, unter denen zuweilen die Ratten rascheln. »Das ist nicht so schlimm«, kommentiert ein Generalstabsstudent, »für einen alten Soldaten hat das doch so eine gemütlich vertraute Truppenübungsplatz-Atmosphäre.« Für Bettenbau und Reinigung gibt es Putzfrauen.

Die meisten Absolventen sind allerdings verheiratet. Sie kehren an den vorlesungsfreien Nachmittagen heim ins Blankeneser Bundeswehr-Getto, wo sie dann dem Problem konfrontiert sind, Weib und Kind ruhig zu halten, während Vater seine, oft umfangreichen, Hausaufgaben macht.

Vormittags werden die Führungsakademiker nach gemeinsamem Frühstück im Scharnhorstsaal zu Arbeitsgemeinschaften von 15 bis 20 Mann gebündelt und von den rund 60 Lehrmeistern der Kriegskunst, fast durchweg Generalstäblern, in imaginäre Gefechte geführt.

Abwehr, Angriff, Verzögerung und die dazu gehörenden Grundsätze dieser einzelnen Gefechtsarten werden dabei nach der Heeresdienstvorschrift 100/1 gelernt, der »TF« (Truppenführung).

Taktik aber wird heute wie ehedem in Planspielen vor der großen Wandkarte und an den sogenannten Nato-Karten (Maßstab 1 :50 000) gelehrt. Der Taktik-Lehrer entwirft eine Gefechtslage und läßt den »Feind« marschieren. Dann ernennt er seine Zöglinge zu Generalstäblern oder gar gleich zu Kommandeuren und läßt sie, nach kurzer Überlegungspause, an der Wandkarte ihre Lagebeurteilungen und ihre Entschlüsse vortragen. »Meine Herren, folgende neue Lage:. Seit heute 13 Uhr tiefer Feindeinbruch mechanisierter Kräfte in den Abwehrraum der - 11. deutschen Panzergrenadierdivision südlich Lüneburg. Hohe eigene Verluste durch zwei feindliche Atomsprengkörper, vermutlich je 20 KT (Kilotonnen). Sie sind Kommandeur der 11. Panzergrenadierdivision. Ich bitte um Ihre Beurteilung der Lage.«

Die angebotenen Lösungen unterliegen scharfer Kritik. Kürze, Prägnanz und schnelle Entschlußfähigkeit werden verlangt. Wer sich zu sehr am Hergebrachten orientiert, gewärtigt eine Korrektur. »Laßt euch doch was einfallen! Und warum greift ihr bloß immer im Morgengrauen an.«

Später in der Ausbildung wird Krieg gespielt. Dann ziehen sich die gegnerischen Parteien, Blau und Rot, jeweils in Generalstabsstärke und mit der Gefechtslage versehen, in getrennte Zimmer zurück und sprechen abwechselnd bei der »Leitung« vor, um dort die »Feindlage« zu erfahren und ihre jeweiligen Gegenzüge anzumelden. Die »Leitung« koordiniert das Gefechtsgeschehen auf zwei, abwechselnd verhängten Karten und bestimmt am Ende, wer den Krieg gewonnen hat.

Manchmal ziehen Freund, Feind und Lehrer auch einträchtig hinaus auf die zugigen Hohen der Hamburger Umgebung, um ihre theoretisch gefaßten Entschlüsse im Gelande zu überprüfen.

Aber die Aufgaben des Generalstäblers im Atomzeitalter erschöpfen sich nicht in den klassischen Formen der Taktik. Heeresinspekteur de Maizière: »Militärische Führung wird immer mehr von zwei Faktoren bestimmt: erstens internationale Zusammenarbeit, zweitens Kooperation der Land-, Luft- und Seestreitkräfte. Sowenig sich heute ein Land allein verteidigen kann, sowenig sind heute Kampfhandlungen denkbar, an denen nicht mindestens zwei Teilstreitkräfte beteiligt sind.«

Dazu kommt ferner, daß die Zerstörungskraft moderner Waffen, selbst der konventionellen, jedes betroffene Gebiet zum Schauplatz eines »totalen« Krieges machen würde, weshalb der Generalstäbler heute in der Lage sein muß, auch mit den Stellen der zivilen Verteidigung zusammenzuarbeiten.

Als einzige Soldatenhochschule der Welt bringt die Führungsakademie der Bundeswehr Offiziere aller drei Teilstreitkräfte zu gemeinsamen Lehrgängen zusammen. Die Erkenntnis, daß keine Teilstreitkraft in einem zukünftigen Krieg, auf sich allein gestellt, zu kämpfen vermochte, hat den »Wehrmachtsgedanken« geboren.

Neben den üblichen Lehrthemen einer jeden Kriegsakademie, in deren eisenhaltiger Mitte die Lehre vom »Gefecht der verbundenen Waffen«, die Taktik, steht, gehört auch die »ABCAbwehr« mit zum Lehrprogramm.

Im Geschichtsunterricht haben Cannae und Austerlitz ihren Demonstrationswert eingebüßt. Der Ablauf historischer Schlachten, einst Lieblingsspiel angehender Generalstäbler, wird nicht mehr analysiert.

Das Schwergewicht liegt jetzt auf den beiden Weltkriegen. Der »Fall Barbarossa«, Hitlers Angriff im Osten, dient als Muster einer mißratenen Operation. Der »Fall Gelb« hingegen, Aufmarsch und Angriff gegen Frankreich im Mai 1940, ist in diesem Betracht, wie einer der Kriegs- und Militärgeschichtslehrer an der Akademie erläuterte, »eine der geglücktesten Operationen der Kriegsgeschichte«, freilich nicht ohne den erzieherisch einschränkenden Zusatz: wenn auch unter Verletzung der Neutralität dreier Staaten, weshalb dieser Fall nicht als vorbildlich gelten kann.«

Neben dem militärischen Fachstudium, wird den Führungsakademikern die Teilnahme an einem Dutzend allgemeinbildender Vorlesungen zur soldatischen Pflicht gemacht, deren Themen von der Weltraumforschung bis zur modernen Malerei reichen. Im Moltke -Saal, inmitten der nachgebildeten Traditionsfahnen früherer ostdeutscher Regimenter, die aus dem Tannenberg-Denkmal gerettet worden sind, müssen die militärischen Führungsgehilfen außerdem Gastvorträge prominenter Besucher absitzen.

Besorgnisse, daß selbst Musisches auf diese Weise im Kasinoton abgehandelt werden könnte ("Janzen Abend Beethoven jespielt.« - »Na und? Jewonnen?"), erscheinen unbegründet angesichts der Tatsache, daß die Akademie sich für diese Vorlesungen die Professoren der zivilen Hamburger Universität ausborgt.

Auch die Fremdsprachenausbildung gehört zum Dienstplan. Deutsche Generalstabsoffiziere müssen sich mindestens in einer der offiziellen Nato-Sprachen (Englisch oder Französisch) klar ausdrücken können.

Wem dieses Klassenziel zu hoch ist, der hat wenig Chancen, Karriere zu machen. Mehr als Oberstleutnant kann er kaum werden. Zum General und selbst zum Oberst werden in Zukunft in der Regel nur solche Offiziere befördert werden, die an der Generalstabsausbildung erfolgreich teilgenommen haben.

Vier Prozent der 28 900 Planstellen im Offizierkorps der Bundeswehr sind Generalstabsstellen. Nach amerikanischem Vorbild gliedern sie sich von der Brigade und Division an aufwärts in

- G 1: Personal

- G 2: Feindnachrichten

- G 3: Operation, Organisation, Ausbildung

- G 4: Nachschub, Versorgungsführung

In der preußischen Armee und in der großdeutschen Wehrmacht buchstabierte man das nicht so. Dort war der heutige G 1 (Personal) der IIa, der G 2 (Feindnachrichten) der Ic, der G 3 (Operation usw.) der Ia, und der Nachschuborganisator G 4 schließlich war der Ib des Stabes.

Hinzu kommen der deutsche Anteil an den Generalstabsstellen der integrierten Nato-Stäbe und die Stellen für Militärattachés bei den deutschen Auslandsmissionen.

Am Ende der Ausbildung steht nicht mehr wie früher eine Prüfung, sondern nur eine »Beurteilung«. Die Lehrgangsverluste sind so hoch wie die Ausfälle des deutschen Ostheeres in den ersten Wochen des Rußlandfeldzuges: Jeweils zehn bis zwanzig Prozent der Teilnehmer kommen nicht durch. Ihnen winkt immerhin eine bevorzugte Verwendung in der Truppe.

Ein Kursus in Blankenese wird heute nicht nur in den Armeen der Nato-Staaten geschätzt. Aus Südamerika, Pakistan, Nationalchina, Persien, Südkorea und Thailand kommen die Studenten.

Neben der Ausbildung des Generalstabsnachwuchses hat die Führungsakademie noch zwei andere Aufgaben:

- die Weiterbildung höherer Offiziere

und

- die militärische Forschung.

Höhere Offiziere, die eine Generalstabsausbildung bereits absolviert haben, werden gesondert in Gesamtkriegführung und Landesverteidigung unterwiesen.

Militärische Forschung betreiben vier ständige Studiengruppen (Gesamtstreitkräfte, Heer, Luftwaffe, Marine). In Studierstubenarbeit grübeln sie über Probleme zeitgemäßer Truppenführung und zukünftiger Entwicklungen. Außerdem erSinnen sie neue Vorschriften.

Idealer Absolvent der Führungsakademie ist der »gebildete Soldat«, wie er schon dem preußischen Militärreformator Scharnhorst, der 1810 die erste deutsche Kriegsakademie gründete, vorgeschwebt hat.

Scharnhorst: »Es sollen fortan ausgesuchte Offiziere der Neuzeit entsprechend für ihren kriegerischen Beruf sowohl hals auch in allgemein wissenschaftlicher Hinsicht fortgebildet werden.« Über den Wert solcher Fortbildung, im »kriegerischen Beruf« hat schon der Geheime Rat Goethe (In den »Wahlverwandtschaften") geschrieben: »Die größten Vorteile im Leben überhaupt wie in der Gesellschaft hat der gebildete Soldat.«

* Generalfeldmarschall Graf Alfred von Schlieffen war von 1891 bis 1905 Chef des Großen Generalstabs. Er entwarf den Aufmarschplan gegen Frankreich, der eine Umfassungsbewegung mit starkem rechtem Flügel sowie den Durchmarsch durch Belgien Vorsah und der 1914 in abgewandelter Form ausgeführt wurde.

** Truppenführung ist eine Kunst, eine auf Charakter, Können und geistiger Kraft beruhende freie, schöpferische Tätigkeit« (Aus einer Heeresdienstvorschrift).

Akademie-Kommandeur Bennecke

»Greifen Sie nicht immer ..

... im Morgengrauen an": Führungsakademie in Blankenese

Generalstabsstudenten beim Unterricht: Frankreich-Feldzug als Vorbild

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