SOWJET-UNION Rot vom Blut
Viele kamen schon am Tag zuvor, entzündeten Biwak-Feuerchen und verbrachten die Nacht auf dem Feld. Am nächsten Morgen pilgerten dann 30 000 Sowjetbürger russischer Nationalität zu der hehren Stätte in der Nähe von Tula, 200 Kilometer südlich Moskau.
Soldaten- und Frauenchöre wetteiferten, Tanzensembles und Orchester hoben die Siegesstimmung, ein Feuerwerk zischte gen Himmel: Die Russen feierten einen Sieg, der 600 Jahre zurückliegt.
An jenem Ort, wo national Begeisterte nun niederknieten und die Erde küßten, auf dem Feld von Kulikowo ("Schnepfenfeld"), hatte am 8. September 1380 ein Heer von Russen die mongolischen Tataren geschlagen.
150 Jahre lang hatten die Tataren weite Teile Rußlands besetzt, Tribut genommen und auch Frauen, Städte zerstört, Lebensmittel requiriert. Da gelang es Dmitrij, dem Großfürsten von Moskau, mit Kämpfern aus allen Landesteilen, die Besatzer auf dem Schnepfenfeld zwischen dem Don und dem Flüßchen Neprjadwa zu stellen.
Nachdem sie ihre Pfeile abgeschossen hatten, griffen die Tataren-Reiter an. Die russische Front hielt, obwohl Dmitrij verwundet vom Pferd fiel und auch noch bewußtlos war, als seine zurückgehaltenen Reserven in die Flanke des Feindes stießen.
Die Tataren flüchteten, die Russen eroberten alle Lastkamele. Der Don, nach dem sich der wiedererwachte Sieger Dmitrij »Donskoi« (der vom Don) nannte, soll drei Tage lang rot vom Blut gewesen sein.
Für den sowjetischen Historiker Fjodor Nesterow war es die »größte Schlacht des Mittelalters«, in der 600 000 Mann gefochten und 200 000 ihr Leben gelassen hätten. Westliche, besonders französische Historiker halten diese Zahlen für weit übertrieben.
Zwei Jahre nach dem Gemetzel hatten die Tataren immerhin noch die Kraft, Moskau zu zerstören. Und noch genau 100 Jahre dauerte es, bis die Mongolen, von internen Machtkämpfen geschwächt, ihre Herrschaft über Rußland kampflos aufgaben.
Sie hatten sich so lange halten können, weil sie Verbündete bei den Europäern fanden. Der Fürst des urrussischen Rjasan beispielsweise stand bei der Schnepfenfeld-Schlacht auf der Seite der Mongolen. Und Dmitrij mußte losschlagen, weil ihm ein Zweifrontenkrieg drohte -- im Westen verbündete sich Litauen mit den Tataren.
Die jahrhundertelange Tatarenherrschaft schnitt Rußland vom übrigen Europa ab, das derweil die Renaissance erlebte. In russischer Sicht opferte sich Rußland auf, um Westeuropa die freiere Entwicklung zu ermöglichen, indem es die Mongolen stoppte.
So nannte denn die sowjetische »Literaturzeitung« die Kulikowo-Schlacht einen »wichtigen Schritt für die Vereinigung der russischen Erde in einem Staat«, sie habe einen »Aufschwung des Nationalgeistes und die Festigung des großrussischen Volkstums« bewirkt, doch »ebenso große Bedeutung für das Slawentum und überhaupt alle europäischen Völker« gehabt.
Partei-Propagandachef Tjaschelnikow veranstaltete eine mächtige PR-Show. Fernsehsendungen, zwei Filme, wissenschaftliche Konferenzen, Lehrertagungen, Buchserien, Ausstellungen, eine Sonderbriefmarke und ein Festgottesdienst mit dem Patriarchen Pimen im Kloster Sagorsk rufen die Ereignisse von 1380 ins Bewußtsein.
Die aktuellen Bezüge lassen Kulikowo geeignet erscheinen, 1980 nationale Selbstbesinnung, Opferbereitschaft und Geschlossenheit zu predigen. Bei der großen Feldfeier der 30 000 war S.192 man unter sich. Ausländische Korrespondenten erfuhren, das Gebiet sei »vorübergehend für Fremde nicht zugänglich«.
Außer Veranstalter Tjaschelnikow waren Abgesandte aller 15 Bundesländer der UdSSR erschienen, von Zentralbehörden, Organisationen und der Orthodoxen Kirche, ferner ein Kosmonaut, Schachweltmeister Karpow, Maler Glasunow und Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg.
Einer von ihnen, der Bergmann Andrej Iwanowitsch Terechow, lernte laut Parteijugendzeitung »Komsomolskaja prawda« aus der Kulikowo-Schlacht, daß man sich auch heute »internationalen Abenteurern« widersetzen müsse; geschart um die Partei, sei das Sowjetvolk bereit, »jeder beliebigen Aggression, von wo sie auch kommt, eine Abfuhr zu erteilen«.
Höhepunkt der nationalen Weihefeier auf dem Kulikowo-Feld: Gardisten im Stechschritt legten Kränze an einer gußeisernen, von einem Kreuz gekrönten Säule nieder, die unter Zar Nikolaus I. im konterrevolutionären Jahr 1848 errichtet worden war.
Bis hierhier, so Festredner, kam im Zweiten Weltkrieg die »Panzer-Armada des Generals Guderian«. Sie nahm die Säule unter Maschinengewehrfeuer. Hernach verfielen Säule und Schlachtfeld, kein Schild wies, wie Nationalrusse Alexander Solschenizyn 1965 beklagte, den Weg zur Stätte der Schlacht »zwischen zwei Kontinenten«.
Inzwischen wurden Säule, Feld, die Kapelle des Heiligen Sergij von Radonesch nebenan und noch eine kleine S.193 Kirche wiederhergestellt. Das Problem für die Sowjet-Propagandisten: Ein Drittel der Einwohner der UdSSR sind heute Asiaten, die sechs Millionen Tataren haben eine eigene »Autonome Republik« -- sie alle können nicht aus vollem Herzen teilnehmen, wenn die Russen ihr Kulikowo feiern.
Im Moskauer Gewerkschaftshaus etwa pries der Premier der Russischen Föderation, Solomenzew, in einem Festakt das »Gefühl des Patriotismus« und beschrieb die besondere Rolle der Russen im Lauf der Geschichte. Für »Kommunist«, das Organ der KPdSU, bot die Schlacht auf dem Schnepfenfeld »ein Beispiel an höchstem Patriotismus und grenzenloser Kühnheit der russischen Truppen«.
In einem Gedicht, das eine Zeitungsseite füllte, ortete Poet Jewtuschenko die Wüste Gobi als aktuellen Gefahrenherd, reimte aber »uch über alte Gefahr aus dem Westen: Sie sangen Deutschland »übe« » alles«, die da ihr Volk beschmutzten und sich selbst durch » » Blut besudelten - was ist über alles? Alle Völker sind am » höchsten ...
» Gäbe es kein Kulikowo-Feld, wo sich die Falken in den Himmel » heben, wäre in Italien kein Leonardo aufgewachsen.
» Wir haben Europa mit Schildern geschundener Leiber gedeckt, » wie später (gegen die Deutschen) mit 20 Millionen.
» Von deiner Höhe sollst du, Eiffelturm, die Unwahrheit nicht » sagen] Deine Wurzeln liegen bei dem Flüßchen Neprjadwa.
» Was haben wir für Unfreiheit erlebt, doch wieviel Ruhm fiel » » auf uns. Das ist die Ernte des Feldes von Kulikowo. »
Laut »Komsomolskaja prawda« brachte die Schlacht jedenfalls Frieden für Osteuropa in Gestalt des »starken zentralistischen Staates Moskau«. Das Jugendblatt S.195 machte darauf aufmerksam, daß man sich auch bei der berühmten Parade am 7. November 1941 im belagerten Moskau auf Dmitrij Donskoi berufen habe.
Der da den Großfürsten zu »unseren Ahnherren« gezählt hatte, war Stalin.
S.193
Sie sangen Deutschland »über alles«, die da ihr Volk beschmutzten
und sich selbst durch Blut besudelten - was ist über alles? Alle
Völker sind am höchsten ...
Gäbe es kein Kulikowo-Feld, wo sich die Falken in den Himmel heben,
wäre in Italien kein Leonardo aufgewachsen.
Wir haben Europa mit Schildern geschundener Leiber gedeckt, wie
später (gegen die Deutschen) mit 20 Millionen.
Von deiner Höhe sollst du, Eiffelturm, die Unwahrheit nicht sagen]
Deine Wurzeln liegen bei dem Flüßchen Neprjadwa.
Was haben wir für Unfreiheit erlebt, doch wieviel Ruhm fiel auf uns.
Das ist die Ernte des Feldes von Kulikowo.
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S.190Buch-Illustration auf einer Ausstellung in Sagorsk.*S.192Sibirische Tänzer aus Krasnojarsk.*