SPIONAGE / RUNGE-SÜTTERLIN Rote Rosen
Vor der US-Mission in Berlin-Zehlendorf, Clayallee 170, ging eine junge Frau nervös auf und ab und trat dann, als habe sie einen Entschluß gefaßt, auf den amerikanischen Wachtposten in der Toreinfahrt zu. Sie bat ihn, sie zu einem Beamten des US-Geheimdienstes CIA (Central Intelligence Agency) zu führen.
Der Posten verwies die Dame an den deutschen Portier. Der Portier begehrte zu wissen, was sie beim Geheimdienst wolle. Die junge Frau lehnte jede Auskunft ab und weigerte sich auch, ihre Personalien anzugeben. Schließlich wurde sie eingelassen, gelangte aber nicht zur CIA, sondern wurde von einem Zimmer zum anderen komplimentiert.
Als sie sich schließlich doch zwei CIA-Leuten gegenübersah, entpuppte sich die schlanke Dame rasch als »dicker Fisch« (CIA). Ihr Mann, so offenbarte die Besucherin nämlich den Amerikanern, sei Oberstleutnant des geheimen sowjetischen Nachrichtendienstes Komitet Gossudarstwennoj Besopasnosti (Komitee für Staatssicherheit -- KGB); sie selber stehe ebenfalls in KGB-Diensten. Ihr Mann habe zwölf Jahre Agentennetze Moskaus in der Bundesrepublik geführt. Das KGB habe ihren Mann und sie selber für einen Spionage-Einsatz in den USA vorgemerkt. Beide würden es jedoch vorziehen, legal nach Amerika zu reisen -- wenn ihnen die US-Regierung Asyl gewähre und Straffreiheit für ihre Geheimdienst-Operationen in der Bundesrepublik garantiere.
Ihren Namen mochte die Dame (CIA: »Sehr attraktiv und energisch") nicht nennen. Gleichwohl »hob sie einen Zipfel des Teppichs« (CIA) und wies eine Fährte: Ihr Mann habe seine Laufbahn als Sowjet-Agent 1955 in Nürnberg begonnen -- unter dem Tarnnamen Willi Gast.
Während die Besucherin die Enttarnung von Sowjet-Agenten in Bonn für den Fall der Asyl-Gewährung und der Zusage von Straffreiheit anbot, schaltete die CIA die deutschen Sicherheitsbehörden ein. Das Einwohnermeldeamt in Nürnberg bestätigte, daß sich dort am 1. Oktober 1955 tatsächlich ein Willi Gast polizeilich gemeldet habe, als Untermieter bei der Witwe Emma Reindl, Am Rennweg 59. Gast hatte in Nürnberg vorgelegt: einen behelfsmäßigen Personalausweis aus West-Berlin, einen Geburtsschein aus dem Dorf Dünnow (Pommern) und die Sterbeurkunde einer Martha Gast, vorgeblich Mutter des Willi Gast. Im Juni 1956 hatte sich Gast bei der Nürnberger Polizei abgemeldet -- mit einem dort ausgestellten deutschen Reisepaß und einem Führerschein.
Die Besucherin in der Clayallee drängte: Jetzt warte ihr Mann in Ost-Berlin auf ihre Rückkehr. Sie müsse unverzüglich gehen; durch »unnötige Warterei« auf die CIA-Herren habe sie ihre Besuchszeit in West-Berlin überschritten. Das könne den Grenzbehörden der DDR und dem KGB auffallen und die Fluchtpläne ihres Mannes gefährden.
Das geschah am Mittag des 10. Oktober 1967. »Wir hatten damals das sichere Gefühl«, erinnert sich heute ein Berliner CIA-Mann, »einen ganz großen Fang zu machen.« Über die direkte Fernschreiblinie zum CIA-Hauptquartier in Langley (Virginia) ersuchte der Berliner Geheimdienst-Resident den Direktor der Central Intelligence Agency, Richard ("Dick") Helms, um die Entscheidung, ob die CIA die Bedingungen des potentiellen Überläufers aus dem gegnerischen Lager akzeptieren solle. Binnen fünfzehn Minuten sagte Helms zu, was -die Dame begehrt hatte: Freiflug, Asyl und Straffreiheit. Ihre Antwort: »Dann erwarten Sie uns in der kommenden Nacht.«
Am Abend des 10. Oktober bezogen CIA-Agenten Posten auf dem West-Berliner Bahnhof Zoo. Als erste erschienen Mutter und Sohn mit der S-Bahn von der Ost-Berliner Grenzstation Friedrichstraße. »Dann durchlebten wir 60 kritische Minuten«, so ein CIA-Beamter heute: »Kommt er durch oder bleibt er hängen?«
Er kam: Gegen Mitternacht entstieg der S-Bahn ein untersetzter, kräftiger Mann, ließ sich in eine KW (Konspirative Wohnung) der CIA in Dahlem fahren, sagte den wartenden US-Geheimdienstlern freundlich »Guten Abend« und legte seinen Tascheninhalt auf den Tisch: vier Ausweise und ein Notizbuch.
Die Dokumente wiesen den Herrn mit vier verschiedenen Namen aus: Willi Gast (bundesdeutscher Reisepaß), Heinz Paul Mohrmann (Dienstbuch des Ministeriums des Innern der DDR), Wladimir Iwanowitsch Maksimow (Sowjet-Reisepaß), Jewgenij Jewgenjewitsch Runge (Sowjet-Dienstausweis).
»Und wer von den vieren sind Sie nun wirklich?«, fragte der Berliner CIA-Resident. Antwort: »Runge. Ich bin Oberstleutnant des KGB und sowjetischer Staatsbürger; dies hier ist mein Ausweis als Geheimdienstoffizier, mein Deckname beim KGB ist »Max«.«
Mit einer Coca Cola für Sohn André, 7, einem Kognak für Ehefrau Walentina, 36 (KGB-Deckname »Sina"), und einem Wodka für den Kollegen Runge, 39, hießen die US-Geheimdienstier Ihre Gäste willkommen. Dann sprach Jewgenij Runge bis in die Morgenstunden auf Tonband.
Erstmals hatte sich dem US-Geheimdienst in Deutschland ein sogenannter illegaler Resident des KGB gestellt, der als Agentenführer mit falschen Papieren und falscher Lebensgeschichte ("Legende") von der Abwehr im allgemeinen nur schwerlich auszumachen ist -- im Gegensatz zum »legalen« Führungsoffizier, der, als Diplomat getarnt, vielfach schon vor seiner Ankunft im Gastland als Geheimdienstler erkannt und von der Abwehr ständig observiert wird.
Am 11. Oktober um elf Uhr startete in Berlin-Tempelhof eine US-Militärmaschine mit dem Flüchtlings-Trio und CIA-Offizieren nach den USA. Wenig später meldete sich im Gebäude des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) zu Köln beim BfV-Präsidenten Dr. Hubert Schrübbers der CIA-Verbindungsoffizier der Bonner US-Botschaft. Der Amerikaner unterrichtete den Deutschen von der Flucht des Russen und nannte die deutschen Agenten der Runge-Residentur in Bonn. Runge hatte genannt:
* Martin Marggraf, 41, Keiner mit Gelegenheits-Job bei Staatsempfängen und Aussicht auf eine Dauerstellung bei der »Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft«, dem Treffpunkt von Ministern, Diplomaten, Abgeordneten, Wirtschaftlern und Wissenschaftlern (KGB-Deckname: »Heinz Gall");
* Leopold Pieschel, 44, Schwager Marggrafs, Hausmeister in der Bonner französischen Botschaft (KGB-Deckname: »Arnold");
* Leonore (Lore) Sütterlin, 39, geborene Heinz, Sekretärin in der Unterabteilung ZB (Personal und Verwaltung) des Bonner Auswärtigen Amtes (KGB-Deckname: »Lola");
* Ehemann Heinz Sütterlin, 43, Photograph mit Public-Relations-Aufträgen für den Zivilen Bevölkerungsschutz und den Verfassungsschutz sowie zeitweilig Mitarbeiter beim Kuratorium »Unteilbares Deutschland« (KGB-Deckname: »Walter").
Heinz Sütterlin steht in drei Wochen als erster der Gruppe vor Gericht. Vor dem Oberlandesgericht Köln beginnt am 10. November die strafrechtliche Aufarbeitung der spektakulärsten deutschen Agenten-Affäre seit den Landesverrats-Verfahren gegen die Ost-Spione Alfred Frenzel (1961) und Heinz Felfe (1963).
Sütterlin, des Landesverrats angeklagt, sitzt seit dem Tage, da Runge in die USA flog, in Untersuchungshaft. Er war am 11. Oktober um 17.15 Uhr beim Rosenschneiden im Garten seines Reihen-Bungalows in Bonn, Am Wichelshof 13, festgenommen worden; seine Frau Leonore Sütterlin um 16.50 Uhr an ihrem Schreibtisch Im AA.
Die Verhaftung von »Lola«, »Walter«, »Heinz Gall« und »Arnold« resultierte aus einem groben Verstoß des KGB gegen die Standard-Sicherheitsregeln moderner Geheimdienste, wonach Deckung vor Wirkung geht. So setzt der deutsche Bundesnachrichtendienst beispielsweise einen Führungsoffizier auf jeweils nur einen V-Mann oder auf ein gemeinsam operierendes Agentengespann an. Denn das Führen von ganzen Netzen oder Ringen durch einen einzigen Residenten gefährdet Führungsoffizier und Agenten gleichermaßen: Wird von der Abwehr eine Zelle enttarnt, so gewinnt sie Zugang auch zu den übrigen Teilen des Netzes -- selbst wenn die Agenten unabhängig voneinander operieren und sich gegenseitig nicht kennen.
Zwar wußten die Sütterlins nichts von Pieschel/Marggraf, und die beiden Schwäger kannten nicht das Ehepaar Sütterlin. Zudem hatte die KGB-Zentrale beide Riegen bereits »abgeschaltet« -- Pieschel/Marggraf wegen Redseligkeit im Alkoholrausch (November 1960), die Sütterlins wegen Verdachts der Konspiration mit einem westlichen Geheimdienst (Februar 1967).
Gleichwohl hatte die KGB-Zentrale ihre vier Bonner Agenten zunftwidrig über Jahre an einen einzigen Strang angeschlossen: an den Führungsoffizier Runge. Und während Jewgenij Runge in Washington ausplauderte, was er wußte, gestanden seine V-Leute vor deutschen Vernehmern.
Vier Tage später, am 15. Oktober, morgens fünf Uhr, fand die Aufseherin des Kölner Gefängnisses »Klingelpütz« die Untersuchungsgefangene Leonore Sütterlin tot am Fensterkreuz; sie hatte sich mit Ihrem Pyjama stranguliert. Die Versionen ihres Selbstmordes sind noch heute vielfältig: Frau Sütterlin habe sich erhängt,
* weil ihr bei der Vernehmung enthüllt worden sei, ihr Mann habe sie auf Befehl des Sowjet-Geheimdienstes, nicht aber aus Liebe geheiratet;
* weil »sie vor Schmerzen wahnsinnig wurde« (Ehemann Sütterlin), nachdem ihr die Gefängnis-Direktion Tabletten gegen ein schweres Augenleiden vorenthalten habe;
* weil sie sich ihrer Strafe habe entziehen und zugleich ihren Mann habe decken wollen.
»Hier offenbart sich besser als in Filmen, Romanen und antibolschewistischen Parolen die Bitterkeit des Handwerks geheimer Nachrichtengewinnung«, so Geheimdienst-Kritiker Hans Detlev Becker im »Sonntagsblatt« über Lore Sütterlins »Willensaufbietung, der man Respekt nicht versagen kann«.
In der Tat: Das Leben des KGB-Führungsoffiziers Runge, die Figur des Agenten Heinz Sütterlin und die Rolle der Spionin Leonore Sütterlin entsprechen ganz der »schulmäßigen Konstruktion« (Becker) klassischer Spionage.
Jewgenij Runge, Ende des Krieges mit der Wehrmacht aus seiner wolgadeutschen Heimat in die Ostzone gespült, wurde dort Mitglied der FDJ und -- auf Geheiß des Sowjet-Nachrichtendienstes -- Genosse der SED sowie Student der Politökonomie (Spezialfach: »Amerikanischer und kapitalistischer Imperialismus") an der Ost-Berliner Humboldt-Universität.
1954 übernahm das KGB Runge im Range eines Unterleutnants und ließ ihn in der Hauptfiliale Karlshorst unter dem Befehl von General Alexander Nikolajewitsch Korotkow als illegalen Agentenführer ausbilden -- für Operationen in der Bundesrepublik. Mit Dokumenten vom polnischen Geheimdienst verwandelte sich der Russe Runge in den Pommer Willi Gast; einen West-Berliner Personalausweis für den Flüchtling Willi Gast erstellte im West-Berliner Polizeirevier 129 Polizeimeister Wilhelm Lehmann -- mit dem Decknamen »Joe« im Dienste des KGB. In Nürnberg schließlich vervollständigte Runge seine Legende als Willi Gast, übte bei der ahnungslosen Witwe Reindl illegalen Funkempfang, trainierte Füllen und Leeren »Toter Briefkästen« und suchte Anschluß an die westdeutsche Gesellschaft -- als Staubsaugervertreter.
Während Runge In Nürnberg sein geheimdienstliches Lehrjahr absolvierte und sich dann im Juni 1956 in Köln als Vertreter Willi Gast bei der Familie Ueckermann in der Mainzer Straße 77 einmietete, spielte die KGB-Zentrale Schicksal: General Korotkow beschloß, seinen illegalen Führungsoffizier zu verheiraten -- mit der deutschen KGB-Agentin Walentina Rusch aus Berlin-Niederschönhausen, die als Geliebte des KGB-Oberst Jewgenij Fjodorowitsch Michajlow (KGB-Deckname: »Orlow«, KGB-Spitzname: »Seelenöffner") in die konspirative Sowjet-Gesellschaft geraten war. Korotkow zu Runge über die KGB-Ehefrau Walentina: »Sie kann dir in Köln den ganzen Funkverkehr abnehmen, sie wird dich zu den Treffs begleiten und dir als Kurier dienen. Außerdem habt ihr als Ehepaar eine perfekte bürgerliche Tarnung.«
Solche Arbeitsehen stiftet der Moskauer Geheimdienst für seine Auslands-Residenten noch aus einem anderen Grund: »Vertrauen ist gut«, so Lenin und so auch die KGB-Generaldirektion, »Kontrolle Ist besser.«
Geheimdienstler mit Familie, das wollen KGB-Psychologen in Moskau erkannt haben, neigen weniger zu schwatzhaften Liebschaften, zu übermäßigem Alkoholgenuß und zur Flucht ins feindliche Lager, erst recht nicht, wenn ihre Kinder in Sowjet-Internaten zurückgehalten werden.
Die Geheimdienstehe des Willi Gast mit der Walentina Rusch -- am 19. Oktober 1956 vor dem Kölner Standesamt 1 vollzogen -- hatte anfänglich Ninotschka-Appeal: Sie fing Funksprüche aus Moskau auf, er »hielt ihr abends im Bett regelmäßig Schulungsvorträge, wie sie sich als strenge Marxistin im feindlichen Ausland zu verhalten habe« (Runge). Denn: »Sie war mir unterstellt, hatte aber keinen Offiziersrang wie ich ... Ich hätte es als verantwortungslosen Mißbrauch meiner Dienststellung angesehen, meiner Frau in dieser Situation zu nahe zu treten.« Aber nur im ersten Vierteljahr.
Dem KGB brachte Runge 1957 ein erstes bedeutendes nachrichtendienstliches Ergebnis ein: die wortgetreuen Dialoge einer Geheimkonferenz des damaligen Bundesverteidigungsministers Franz Josef Strauß mit Nato-Generalen.
Im Auftrage Runges baute der Kellner Marggraf, seit 1956 in KGB-Diensten, einen von Moskau angelieferten Mini-Sender ("Wanze") mit fadendünnen Antennen ("Schnurrbärte") hinter die Zentralheizung eines Raumes im Bad Godesberger Schaumburger Hof«, wo Strauß mit seinem Staatssekretär Josef Rust, Generalinspekteur Adolf Heusinger und den Nato-Militärs tafelte.
Vierhundert Meter vom Hotel entfernt parkte ein Wagen mit KGB-Offizieren aus der Sowjet-Botschaft Rolandseck. Über Spezialwelle im Autoradio hörten die Geheimdienstier die Strauß-Runde ab. Wenige Tage später -- so Runge -- erhielt er einen chiffrierten Funkspruch aus Moskau: »Gratulieren herzlich zu dem Erfolg der Abhöraktion. Phantastische Arbeit -- Ergebnis für unsere Regierung unschätzbar wertvoll.«
Noch ergiebiger für Moskau war Marggraf-Schwager Pieschel, dessen Lieferungen -- Nato-Kode und Nato-Generalstabspläne für den Kriegsfall -- aus der französischen Botschaft den Karlshorster KGB-Chef General Korotkow beflügelten, das Lob für Runge in ein russisches Sprichwort zu kleiden: »Ty s' chwatil u boga jajza -- du hast dem lieben Gott die Eier geklaut.«
Unabhängig von dem Netz Marggraf Pieschel operierte das KGB in Bonn mit einem zweiten Spionagegespann, von dem damals Führungsoffizier Runge nichts wußte: mit Leonore und Heinz Sütterlin.
Heinz Sütterlin, 1924 in Freiburg geboren, im Kriege als Fahnenjunker verschüttet, von Beruf Photograph, wurde 1956 in Berlin von der »Hauptverwaltung Aufklärung« (HVA), dem geheimen Nachrichtendienst des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit, angeworben. Ein Jahr später forderte der Zweite Sekretär der Sowjet-Botschaft Unter den Linden, Leonid Prochorow, Geheimdienst-Offizier, die Überstellung Sütterlins von der HVA zum KGB.
KGB-Diplomat Prochorow teilte Sütterlin dem KGB-Führungsoffizier Oberst Michajlow ("Orlow") zu. dem Ex-Geliebten der Walentina Rusch, die zu jener Zeit als Walentina Gast in einem Kiosk m Kölner Domplatz Würstchen, Bier und Zigaretten verkaufte -- zur Tarnung.
Sütterlin (Runge: »Auf Frauen übte der aggressive Liebhaber mit der Piratennarbe auf der Stirn eine seltsame Faszination aus") erhielt von Procherow den Auftrag, eine Sekretärin in Schlüsselstellung des Bonner Auswärtigen Amtes anzulaufen, sie zu heiraten und für die Sowjet-Spionage zu gewinnen. Zur Auswahl nannte Prochorow Sütterlin drei Damen, darunter Leonore Heinz, »die warmherzige und kameradschaftliche Sekretärin aus guter Familie, die zwei unglücklich verlaufene Liebesaffären hinter sich hatte, die sich ungeschickt anzog und die zur höchsten Klasse der Geheimnisträger im Auswärtigen Amt gehörte« (Runge).
Die AA-Dame Heinz saß seit 1955 im Vorzimmer von Ministerialdirigent
* Am 19. Oktober 1967 in Düsseldorf.
Knut Neise, Chef der Unterabteilung Verwaltung (ZB) der AA-Personal- und Verwaltungsabteilung. In dieser Stellung war sie -- nach einem Unbedenklichkeitsbefund durch die dafür zuständige Abteilung V (Geheimschutz) des Bundesamtes für Verfassungsschutz -- für den Umgang mit Vorgängen bis hin zur höchsten von insgesamt vier Geheimhaltungsstufen ("nur für den Dienstgebrauch«, »vertraulich«, »geheim«, »streng geheim") der sogenannten Verschlußsachen-Vorschrift zugelassen.
Neben den Referaten Organisation, Besoldung, Chiffrier- und Fernmeldewesen gehört zur Unterabteilung ZB auch das für den Geheimschutz im AA zuständige Referat ZB 9.
Als Schreibdame mit Schlüssel zum Panzerschrank kam Lore Heinz auf die KGB-Liste später Behörden-Mädchen. die unter Geheimdienstlern als ebenso sprießende wie leicht zu erschließende
Nachrichtenquelle gelten. Ein Verfassungeschützer: »Die größte Gefahr ist das Heer von über 20 000 Sekretärinnen In Bonn und Umgebung. Wehe, wenn die einmal über 30 sind und unverheiratet, und dann kommt ein geschickter Agent und macht ihnen schöne Augen.«
Mit einem Strauß roter Rosen begab sich Sütterlin im Sommer 1957 in die Helmholtzstraße 21 zur Wohnung von Leonore Heinz. Der Besucher fragte nach einer fremden Dame. Fräulein Heinz bedauerte, die Gesuchte nicht zu kennen, bot
Sütterlin jedoch Platz an, erwärmte sich zunehmend an der unverhofften Gesellschaft, stellte die Rosen in eine Vase und ließ sich schließlich zum Abendessen ausführen.
Aus der vom Sowjet-Geheimdienst geplanten konspirativen Komplicenschaft entwickelte sich Liebe -- zumindest bei Lore Heinz. Nicht unbedingt aus Mißtrauen, eher aus behördlicher Korrektheit, stellte die AA-Schreibdame dem AA-Sicherheitsbeauftragten beiläufig die Frage, ob gegen ihren neuen Bekannten Sütterlin Sicherheitsbedenken beständen. Amtlich konnten gar keine vorliegen, denn der KGB-Agent war bislang keiner westlichen Abwehrbehörde aufgefallen.
So ehelichte denn am 12. Dezember 1960 vor dem Standesamt Köln-Lindenthal die Heinz ihren Heinz. Sütterlin meldete den Abschluß der ersten Etappe seines geheimdienstlichen Auftrages an KGB-Oberst Michajlow in Berlin-Karlshorst.
Alsbald kam von dort der Befehl, die familiäre Quelle anzuzapfen. Sütterlin eröffnete seiner Frau, als Mitarbeiter des »Kuratoriums Unteilbares Deutschland« interessierten ihn Dokumente aus dem AA zur Wiedervereinigung und für den Weltfrieden. Erst zögernd, später ohne Hemmungen trug die Ehefrau in Mittagspausen ihrem Ehemann zunächst in Zeitungen, dann in einer vom KGB gelieferten Handtasche mit doppeltem Boden den Inhalt ihres Panzerschranks ins häusliche Photolabor.
Die deutsche Abwehr mutmaßt, die AA-Sekretärin habe schon in der Brautzeit geahnt und nach der Trauung Gewißheit erhalten, daß Heinz Sütterlin für einen Geheimdienst arbeite. Sie habe mitgespielt, um ihren Mann nicht zu verlieren.
Über die Harmonie der vom KGB gestifteten Sütterlin-Ehe mußte vom Herbst 1961 an im Auftrage der Moskauer Zentrale der männliche Partner einer anderen KGB-Ehe wachen: Willi Gast alias Jewgenij Runge.
Runge, mittlerweile Vater, siedelte von Köln nach Frankfurt in die Hattersheimer Straße 1 a über, legalisierte seine konspirative Tätigkeit zunächst als Kneipenwirt im Vorort Rödelheim, später als Automatenaufsteller und arrangierte unter dem Kölner Bismarck-Denkmal seinen ersten Treff mit Heinz Sütterlin.
In der Folge erwies sich die AA-Quelle derart fündig, daß die Moskauer KGB-Zentrale an Runge funkte: »Sütterlin soll stärker selektieren; wir ersticken in seinem Material!« Das Material, laut Runge:
»Wir kopierten die Personalakten der Diplomaten und Angestellten des auswärtigen Dienstes -- ein idealer Ansatzpunkt für spätere Erpressungen. Wir erfuhren frühzeitig, wenn gegen einen unserer V-Leute im AA eine Überprüfung angeordnet war. Wir erhielten Dokumente, bevor sie über Lores Schreibtisch zum Chiffrierraum wanderten, und wir lasen die Berichte diplomatischer Kuriere aus dem Ausland meist noch vor dem deutschen Außenminister Schröder.« Nachdem sich Runge den Amerikanern gestellt hatte, beschuldigte die Karlsruher Bundesanwaltschaft den Agenten Sütterlin, er habe nach Moskau Photokopien folgender Dokumente geliefert:
* AA-Bericht von der Ministerrats-Konferenz der Nato-Partner in Ottawa 1963;
* Manöverberichte von den Fallex-Übungen 1964 und 1966;
* Schlüssel für das Alarmsystem der Nato;
* Nato-Planungen für Berlin-Alarm;
* Notstandsplanung der Bundesregierung;
* Lageberichte Ost des Bundesnachrichtendienstes;
* Berichte der bundesdeutschen Missionen im Ausland und
* Unterlagen über das Chiffrierwesen im AA.
Insgesamt sollen die Sütterlins 2900 vertrauliche Vorgänge für die Sowjets photokopiert haben, darunter 969 geheime und streng geheime Unterlagen sowie fünfzig Staatsgeheimnisse. Dafür bezogen sie vom KGB 75 000 Mark.
Diese Statistik ist freilich das Ergebnis einer Rekonstruktion. Denn Heinz Sütterlin ist seit dem Selbstmord seiner Frau nur teilgeständig, Runge indes konnte die Minox-Filme gar nicht entziffern. Um überhaupt zu Annäherungswerten zu kommen, addierten und studierten die Ermittler im nachhinein alle Quittungen, auf denen Lore Sütterlin im AA den Empfang von Dossiers und Dokumenten bestätigt hatte.
Wie so oft in der Praxis der geheimen Nachrichtendienste war es der schier unerschöpfliche Informationsfluß, der im Moskauer KGB-Hauptquartier schließlich die hauseigene Abwehr mit Mißtrauen erfüllte. Im Februar 1967 erhielt Führungsoffizier Runge den Befehl, das Agentenpaar Sütterlin abzuschalten. Die Begründung: Die Sütterlins lieferten Spielmaterial -- im Auftrage eines westlichen Geheimdienstes.
Dieser Verdacht war so falsch wie folgenschwer für das KGB. Runge zog Bilanz: »Mich kränkte, daß ich bei der Entscheidung im Fall Sütterlin übergangen worden war ... Mich erbitterte, daß sie meine Frau in Ost-Berlin gezwungen hatten, ein zweites Kind abzutreiben, weil sie es als eine Belastung für meine künftige Arbeit ansahen.«
Für diese künftige Arbeit sollte Runge seinen Sohn André in einem KGB-Internat abliefern und als illegaler Agent in die USA übersiedeln, Da entschloß er sich zur Flucht: »Alle Kenntnisse und Tricks, die ich beim KGB erworben hatte, kehrte ich nun gegen meine eigene Organisation.«
An Heinz Sütterlin möchte Moskaus KGB Wiedergutmachung üben. Über Mittelsmänner nennen die Sowjets bereits einen Austauschgefangenen: den Direktor der West-Berliner Porzellan-Manufaktur, Klaus Curdts, 43, am 13. September vor Drewitz in der DDR unter dem Verdacht der Spionage für Bonns BND verhaftet.