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KELTEN Roter Drache

aus DER SPIEGEL 42/1966

Eine Streitmacht von 500 Mann probt mit Platzpatronen in Britanniens Westprovinz Wales den Aufstand gegen die Engländer. »Wir sind für Gewalt«, verkündet Julian Cayo-Evans, Farmer, Pferdezüchter und Kommandeur der »Armee Freies Wales«.

Ein anderer Waliser Evans, Vorname: Gwynfor, Chef der Nationalistenpartei »Plaid Cymru« (16 000 Mitglieder), will die Engländer gewaltlos besiegen: Wales, Kohlenpott, Stahlküche und - im gebirgigen Landesteil - Dorado für Naturfreunde, soll wieder ein souveräner Staat werden. Evans: »Wir wollen Commonwealth-Status wie Kanada und Australien.«

Als sich die Anhänger des gewaltlosen Gwynfor letzte Woche in Aberystwyth zu ihrem Parteitag versammelten, konnten sie zum ersten Mal einen Triumph feiern: Wahl für Wahl hatten sie vergebens um Unterhaus -Sitze gekämpft, in diesem Jahr jedoch gelang ihnen der Durchbruch. Separatist Gwynfor Evans zog ins Londoner Parlament ein.

»Die Engländer«, zürnt der Mann, der Großbritannien kleiner machen will, »haben uns wie Sklaven behandelt.« Er kennt nur noch ein europäisches Volk, das so unter Fremdherrschaft leidet wie die Waliser: »Das sind die Bretonen in Frankreich; die Pariser Regierung will sie vernichten.«

Evans schürt den zählebigsten, traditionsreichsten - und freilich auch kauzigsten - Nationalismus Europas. Er will - unter der roten Drachen-Fahne von Wales - die Glorie des Keltenturns

wiederherstellen.

Waliser, Schotten und Bretonen sind, wie auch die Iren, Kelten - guterhaltene Restposten jener Völkerstämme, die im Morgengrauen des Abendlandes weite Teile des Kontinents und die Briten-Inseln besiedelten. Ihre Nationalisten haben sich in der »Keltischen Liga« - Präsident: Gwynfor Evans - zusammengeschlossen. Sie kämpfen gegen 2000 Jahre glücklose Geschichte.

»Der Kelte kämpft immer und verliert immer«, klagt ein wehmütiges Waliser Sprichwort. Er kämpfte gegen Cäsars Legionen und wurde an den Rand Europas abgedrängt (siehe Graphik).

Gegen eine Welt von Feinden behaupteten die Rest-Kelten bis ins 20. Jahrhundert nur die Sprache ihrer Väter - ein musikalisches Idiom mit einer verwirrenden Folge von Ypsilons und Doppel-Konsonanten. Eine Bahnstation in Nordwales heißt: Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch.

Keltisch sprechen heute noch

- von 3,3 Millionen Iren 450 000;

- von 2,6 Millionen Walisern 650 000;

von 1,8 Millionen Bretonen eine Million (davon 20 000 ausschließlich Bretonisch) und

- 8O 000 Schotten (in Schottland waren die Kelten immer eine verstreute Minorität).

Die Sprache hielt Waliser und Bretonen zusammen, kapselte sie aber auch gegen alles ab, was von Engländern und Franzosen kam - auch gegen den Fortschritt. Die Bretagne blieb ebenso wie Irland ein rückständiges, verarmtes Bauernland. In mehr als 30 Prozent aller Dorfwohnungen brennt kein elektrisches Licht, 95 Prozent sind ohne fließendes Wasser.

Millionen Iren wanderten nach Amerik aus, mehr als 609 000 Männer und Frauen verließen in den letzten 60 Jahren die Bretagne. Um die Jahrhundertwende rekrutierte sich das Gros der Pariser Prostituierten aus Frankreichs keltischer Provinz - allerdings kam auch jeder zehnte katholische Missionar aus dem armen frommen Land.

Für ihr Elend machten die irischen und bretonischen Nationalisten London und Paris verantwortlich. Ostern 1916 erhoben sich in Dublin die Freischärler und erkämpften bis 1922 den ersten - und bislang einzigen - souveränen Keltenstaat.

Die bretonischen Nationalisten sahen ihre große Chance 1939 kommen. Ihre Führer setzten sich nach Deutschland ab und riefen die Bretonen zum Kampf »gegen die Feinde Deutschlands und der Bretagne« auf. Eine bretonische Einheit (Bezenn Perrot) kämpfte mit der deutschen Wehrmacht. Viele Kelten kollaborierten mit den Besatzern: 819 wurden deshalb nach Kriegsende erschossen. Iren, Schotten und Waliser baten vergebens um Gnade für die Brüder.

Eine extremistische Minderheit der Insel-Kelten schritt ebenfalls zur Tat. Schotten raubten den Krönungsstein aus der Westminster-Abtei, Waliser Wirrköpfe sprengten im März dieses Jahres Bassins der Wasserspeicher von Clywedog, aus denen das englische Birmingham versorgt wird.

Als in Wales wegen einer Absatzkrise Kohlengruben geschlossen werden mußten, wanderten die welschen Kumpel in die englischen Industriegebiete ab; neun der dreizehn Waliser Grafschaften sind unterbevölkert. Die Zurückgebliebenen wurden immer anfälliger für nationalistische Träume - und wählten ihren Anführer Evans ins Londoner Parlament.

Die Regierungen in London und Paris wollen Wales und die Bretagne durch großzügige Entwicklungsprogramme sanieren. Wilson unterstützt sogar die Forderung, das Waliser Keltisch als zweite Amtssprache gesetzlich einzuführen. Auf die Klage des Bretonen Manrot hin verurteilte ein Pariser Gericht den Standesbeamten von Boulogne, die keltischen Namen der sechs Manrot-Kinder anzuerkennen: Abradoran, Mayden, Gwendal, Diwenska, Skeltjenn, Brann.

Keltenliga-Chef Evans bereitet einen neuen Propaganda-Feldzug vor. Schottland, Wales und die Bretagne sollen sich um Aufnahme in die Uno bemühen: »Dort sind schon 25 Nationen vertreten, die kleiner sind als Wales.«

Waliser Separatisten: »Die Engländer behandeln uns wie Sklaven«

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